Der letzte Fall der Evelyn Preston (eBook)
446 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-37084-6 (ISBN)
KAPITEL 8
MABEL MCKENZIE
Eine Woche verstreicht ereignislos und wir sind zur Untätigkeit gezwungen. Das Gefühl, hilflos, tatenlos zu sein, droht, mich in den Wahnsinn zu treiben, doch mir bleibt keine andere Wahl, als mich dieser Tatsache zu ergeben. Was könnte ich schon dagegen tun? Selbst das Erwägen unzähliger Theorien, von religiösem Fanatismus bis hin zur Unzurechnungsfähigkeit, hat uns dem eigentlichen Täter kein Stück näher gebracht. Es erscheint so gut wie unmöglich, einen Mörder dingfest zu machen, wenn man weder die Identität der Opfer kennt noch einen Anhaltspunkt hat, der Erleuchtung bringen könnte.
Ein plötzliches Räuspern lässt mich zusammenfahren und Moore beginnt im gleichen Atemzug zu sprechen: »Ich habe gerade einen Anruf von der Psychiatrie erhalten, in der Will untergebracht wurde.«
»Sollte er nicht gestern vorübergehend entlassen werden?«, wirft Queshaun ein, ohne den Special Agent aussprechen zu lassen.
Moore, der mitten im Raum steht, die Hände säuberlich hinter dem Rücken gefaltet, keine einzige Falte ist auf seinem weißen Hemd zu erkennen, geht kommentarlos über den Einwand hinweg: »Will wurde gestern Nacht tot in seinem Zimmer aufgefunden. Er hat sich einen Kugelschreiber in die Hauptschlagader gerammt und ist verblutet, bevor die Verletzungen bemerkt werden konnten.«
»Er ist tot?«, Sofias schockierte Frage spiegelt mein eigenes Entsetzen wider.
Er war erst 17. Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich und nun ist er tot?
»Ist eine Fremdeinwirkung auszuschließen?«, forscht Evelyn und durchbricht damit das Schweigen, das das gesamte Büro in beklommene Stille hüllt.
Die Fünfundzwanzigjährige wurde vor zwei Tagen, wie vom Commissioner versprochen, aus Wauwatosa hierher versetzt, nachdem Gideon die Einheit verlassen hat. Sie ist von stillem Naturell, in sich gekehrt und wirkt beinahe schon reserviert. Mit ihrer kleinen, eher schmächtigen Figur ist ihr anzusehen, dass sie noch nicht allzu lange beim FBI tätig ist, und ich frage mich, wie die scheinbar wehrlose Frau den Einstellungstest bestehen konnte. Doch obwohl ich der Kollegin nicht allzu große Sympathie abgewinnen kann, sei es nun, weil sie mir wie ein Ersatz für Gideon vorkommt, oder, weil mir ihre Art missfällt, muss ich zugeben, dass sie bis zum jetzigen Zeitpunkt eine Bereicherung für das Team darstellt. Sie denkt logisch, distanziert und begreift schnell. Mehr ist für eine reibungslose Zusammenarbeit nicht nötig, immerhin ist es nicht mein Ziel, hier enge Freundschaften zu schließen. So vertieft in meine eigenen Gedankengänge, ist mir Moores Antwort auf Evelyns Frage entgangen.
Gerade fährt er fort: »Die Wärter haben mit der Mutter gesprochen und sie kann sich den Suizid ihres Sohnes einfach nicht erklären. Am Nachmittag hat sie ihn nach der täglichen Therapiesitzung besucht und bis dahin wirkte er vollkommen rational.«
»Wann hat der Junge erfahren, dass er noch am gleichen Tag entlassen werden sollte?«, hakt Evelyn weiter nach.
»Seine Mutter hat ihm davon berichtet. Allerdings wäre er nicht wirklich entlassen worden. Sein Geständnis zwingt die Staatsanwaltschaft dazu, so irreal und absurd es auch sein mag, den Jungen in Untersuchungshaft zu nehmen, bis seine Schuld zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann. Er wäre lediglich in ein Gefängnis verlegt worden. Warum fragen Sie?«, Moore mustert die Blondine irritiert.
»Hätte er nach Hause zurückkehren können, hätte ich mir den Selbstmord damit erklären können, dass er Angst hatte, erneut von dem Täter aufgesucht zu werden. Vielleicht hat der Mörder ihn in der Psychiatrie bedroht und die Panik vor dem, was ihm nach seiner Entlassung bevorstehen würde, hat ihn in den Tod getrieben. Aber wenn er danach bis zu seinem Prozessbeginn in ein Gefängnis verlegt werden sollte, kann ich seine Beweggründe nicht nachvollziehen. Dort hätte der Mörder unmöglich auf ihn zugreifen können.«, gesteht Evelyn und rückt ihre Brille zurecht.
»Jedenfalls erübrigt sich damit auch die letzte und wohl einzige Spur, die wir bislang hatten.«, schlussfolgert Moore und schürzt die Lippen.
Er will die Wahrheit ebenso wenig akzeptieren wie ich. Wir haben einen Fall, aber keine Indizien. Wie sollen wir so die Ermittlungen fortsetzen?
»Was sagt der Commissioner?«, fragt Queshaun plötzlich.
Der große Mann sitzt auf der Kante seines Schreibtisches und beobachtet das Geschehen im Raum mit gelangweiltem Desinteresse. Doch ich kenne ihn zu lange und zu gut, um seine scheinbar gleichgültige Haltung als solche zu interpretieren. Tatsächlich quält ihn die Frustration, seit vier Jahren einen Fall lösen zu wollen und dem Täter doch nicht näher zu kommen. Das weiß ich, weil es mir ähnlich ergeht.
»Der Commissioner hat genug damit zu tun, die Medien zu beruhigen. Natürlich ist der Selbstmord eines Jugendlichen, nachdem er ein Geständnis bei der Polizei abgelegt hat und in Untersuchungshaft genommen wurde, nicht unbemerkt geblieben. Es kursieren Gerüchte, dass die unmenschliche Behandlung in der Psychiatrie Will zu seiner Entscheidung gebracht hätte.«, erklärt Moore, dem diese Entwicklung wenig zu gefallen scheint.
»Die Bilanz?«, Coltons Tonfall trieft vor sarkastischem Spott, als er resigniert die Hände über den Kopf wirft und sich gerade noch rechtzeitig davon abhält, gegen einen nahen Stuhl zu treten, »Zehn Leichen, von denen wir aber jeweils nur ein Körperteil gefunden haben, ein toter Siebzehnjähriger und eine nicht mehr glaubhafte Zeugenaussage, da sie nicht nur widerrufen, sondern durch ein falsches Geständnis ersetzt wurde. Großartig.«
»Auch, wenn Wills erste Aussage vor Gericht keinen Bestand hat, können wir sie doch trotzdem noch für uns nutzen.«, protestiert Evelyn, »Er hat ausgesagt, dass der Mörder eine Art Kutte getragen, seltsam gesungen und getanzt hat, als er die Leiche vor dem Museum ablegte. Für mich deutet das auf eine Sekte oder einen religiösen Kult hin. Das ist doch ein Anhaltspunkt.«
»Der Theorie sind wir bereits nachgegangen.«, erwidere ich genervt, »Wir haben alle Sektenaktivitäten im Umkreis von fast 100 Meilen überwacht, aber keine einzige ist uns dabei ins Auge gestochen. Die meisten sind lediglich religiöse Verbünde mit sehr radikalen Ansichten, aber sie verstoßen nicht gegen das Gesetz. Das kann es also nicht sein. Es muss sich also um einen Einzeltäter handeln.«
Evelyn schreckt vor meinem Einspruch zurück wie vor einer zischenden Peitsche. Ihre grünen Augen mustern mich eingehend, während sie eine dünne Strähne ihres blonden Haares um ihren Finger wickelt, um beschäftigt zu wirken.
»Vielleicht wäre es trotzdem hilfreich, in Kontakt mit den Sekten zu treten, deren Rituale die größte Übereinstimmung mit denen unseres Täters aufweisen.«, überlegt sie jetzt und kehrt mir den Rücken, um sich stattdessen Moore zuzuwenden, »Womöglich hat er nicht in ihrem Namen oder Auftrag gehandelt, ist aber ein Mitglied in einer dieser Sekten. Es wäre immerhin denkbar.«
»Es ist jedenfalls besser, als sich weiter in leeren Spekulationen zu verlieren.«, schließt sich der Special Agent in Charge Evelyns Meinung an und fügt zu meinem Leidwesen hinzu, »Parlow, McKenzie und Preston, sprechen Sie sich mit den anderen ab und teilen Sie sich die in Frage kommenden Gruppen auf. Ich möchte, dass Sie den Kreis der Verdächtigen eingrenzen. Und zwar so schnell wie möglich. Der Commissioner ist geduldig, aber auch seine Nachsicht wird einmal enden.«
Kaum eine halbe Stunde später, erreichen Queshaun, Evelyn und ich ein abgelegenes Firmengelände, auf dessen Grund sogar das Gras vergeht, da kein Sonnenstrahl die hohen Gebäude, die das Grundstück umringen, überwinden kann.
»Unheimlich.«, stellt Evelyn schaudernd fest, als Queshaun den SUV zum Stehen bringt und den Motor ersterben lässt.
Mein Herz rast in meiner Brust. Was ist das für ein Ort? Obwohl ich in Milwaukee geboren, aufgewachsen und großgeworden bin, habe ich diesen Teil der Stadt noch nie gesehen. Natürlich gibt es auch hier, wie in jeder anderen Großstadt Elendsviertel, die von den meisten Einheimischen wenn möglich gemieden werden, doch das hier ist von einem völlig anderen Ausmaß. Es wirkt fast, als hätten wir unbemerkt die Grenze zu einem anderen Land, einer anderen Welt, passiert. Keine Menschenseele ist auf dem riesigen Gelände auszumachen und eine seltsame Stille liegt über der Behausung. Zwar sind die Gebäude in einem relativ guten Zustand und erinnern nicht im Mindesten an die Ruinen, die sich normalerweise in den verarmten Gegenden der Vororte aneinanderreihen. Doch die bedrohliche Stille, die rissigen Pflastersteine und ein kleiner, friedhofartiger Garten am Rande meines Sichtfelds lassen keinen Zweifel daran, dass kein Vergleich zu einem gewöhnlichen Vorort besteht.
»Dort drüben.«, flüstert Evelyn plötzlich und zuckt unwillkürlich zusammen.
Ich habe ihr meinen Platz auf dem Beifahrersitz überlassen, von dem aus sie jetzt entgeistert durch die Scheibe des Fensters starrt. Irritiert folgen Queshaun und ich ihrem Blick und erkennen nun, was ihr Anlass zu solchem Schreck gegeben hat: eine Seitentür einer der Lagerhallen steht offen und in ihrem Rahmen zeichnen sich die schemenhaften Umrisse einer alten Frau ab, die in eine Art Kutte aus schlohweißem Stoff gehüllt ist.
»Was zum Teufel ist das hier?«, wispere ich und raufe mir perplex das Haar.
Das alles kommt mir so furchtbar unwirklich vor. Ich habe noch nie zuvor Kontakt zu einer Sekte aufgenommen, geschweige denn, ihr Zusammenleben in der Realität miterlebt. Dieses Gebäude, diese Menschen kommen mir...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Ermittlungen • Milwaukee • Mord • Mystery • Rituale • Spannung • Verzweiflung |
ISBN-10 | 3-384-37084-8 / 3384370848 |
ISBN-13 | 978-3-384-37084-6 / 9783384370846 |
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