Der zarte Flügelschlag der Freiheit (eBook)
366 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-9144-2 (ISBN)
Norbert Otto, geb. 1954 in Essen, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und war danach fast 30 Jahre lang als Lehrer tätig. Während dieser Zeit leitete er zahlreiche Schülertheaterprojekte. Seit 1980 veröffentlichte Norbert Otto Buchbesprechungen in verschiedenen Zeitschriften, publizierte Gedichte, Prosatexte vor dem Hintergrund des antiken Griechenland sowie literarische Essays (u.a. über Gustav Freytag, Imre Kertesz und Hermann Hesse). 2018 erschien im Olms-Verlag der Titel "Julian Schmidt - Eine Spurensuche", die erste umfangreiche Biographie über den bekanntesten Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts. Norbert Otto ist verheiratet und lebt in Dortmund.
Vorgeschichte
I. Die historischer Glümers – eine Tradition Familie mit
Claire von Glümer hat etwa um ihr 80. Lebensjahr ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse von der Warte des Alters niedergeschrieben. Dabei nahm sie zu Beginn ihrer Aufzeichnungen zunächst Bezug auf ihre Familiengeschichte, deren Anfänge im Dunstkreis des Historischen liegen: »Einer Sage nach sollen die Vorfahren des braunschweigischen Patriziergeschlechts der Glümer aus Island stammen, von dort nach Dänemark übersiedelt, endlich durch drohenden Krieg nach Deutschland getrieben sein. Ob dafür noch Beweise gefunden werden können, ist fraglich, denn zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurde durch eine Feuersbrunst ein Teil des Familienarchivs vernichtet.«3 Krieg, Flucht und Feuer – drei elementare Gewalten, denen die Familie ausgesetzt war. Wie alt das Geschlecht der Glümers war, bezeugt die folgende Aussage der Verfasserin: »Die geretteten Dokumente, die bis 1390 /…/ zurückweisen, führen den Stammbaum ohne Unterbrechung /…/ bis in unsere Tage.«4
Die Glümers waren demnach ein altes braunschweigisches Patriziergeschlecht, das bereits im 14. Jahrhundert nachgewiesen ist. Im Jahr 1438 erscheinen Glümers im Rat der braunschweigischen Altstadt. »Ihr Stammhaus war das Grundstück an der Breiten Straße, das später der Große Klub besaß und an der Kaffeetwete lag, die Jahrhunderte lang (1490-1748) nach jener Familie die Glümertwete hieß.« Vertreter der Familie waren in Braunschweig als Bürgermeister, Ratsherren und Provisoren von geistlichen Stiftungen tätig. Mehrere Söhne der Familie zog es aber auch in die Ferne. Sie standen in Kriegsdiensten in Dänemark; der 1767 in Wolfenbüttel geborene Gotthelf August Weddo von Glümer stand sogar sechs Jahre lang in englischen Militärdiensten (60. Jägerregiment »The Kings Royal Rifle Corps) und war mit der Tochter eines englischen Generals verheiratet.5 Das Familienwappen der Glümers sah dagegen eher »friedlich« aus: »Die Familie von Glümer führt im goldenen Schilde einen von der rechten obern zur linken untern Seite gezogenen, mit drei grünen Hopfenknospen belegten schwarzen Balken. Auf dem Helme, der mit einer neunperligen Krone bedeckt ist, wiederholen sich zwei Hopfenknospen an goldenen Stielen. Decken gold und schwarz.«6
In einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren (1476 – 1599) waren vier Familienmitglieder Bürgermeister der Stadt Braunschweig. Durch Pachtgelder und Naturallieferungen lehnspflichtiger Bauern waren sie zu Reichtum gekommen. Zudem besaß die Familie im Kirchdorf Beierstedt einen Meierhof und in Braunschweig zudem noch auf der Breitenstraße ein repräsentatives Haus mit reichlich gefüllten Schränken und Truhen.7 Im Jahr 1760 jedoch, zwei Generationen vor Claire von Glümers Geburt, gab es eine wichtige Veränderung: ihr Urgroßvater Friedrich Conrad, Vater von vier Söhnen und fünf Töchtern, siedelte von Braunschweig nach Wolfenbüttel über. Von den Söhnen blieb nur einer in der Heimat. Die übrigen zerstreuten sich, u.a. nach Berlin und Koblenz. Der Grund für diesen Bruch mit der braunschweigischen Heimat ist nicht bekannt. Claire von Glümers Urgroßvater schien jedoch die letzte verlässliche Säule der Familie gewesen zu sein, denn nach dessen Tod wurde der ererbte Wohlstand von den vier Söhnen in jugendlichem Übermut genossen und bedeutend verringert. Aber wie wohlhabend die Glümers dennoch waren, zeigt die Versorgungsverfügung für die fünf Töchter: »Jede von ihnen bekam, so lange sie ledig blieb, nach Lehns-Satzung und Brauch, eine jährliche Kompetenz von 60 Talern« und bei Verheiratung gab es für jede 500 Taler zur Aussteuer.
Claire von Glümers Großvater Weddo verbrachte einige Jahre im Dienst des braunschweigischen Regiments »Prinz Friedrich«. Im Grunde war Weddo von Glümers Leben eine Art Söldnerdasein, denn der braunschweigische Herzog vermietete sein Corps (wie es damals üblich war) des Öfteren im Sinne seiner politischen Interessen. So stand zum Beispiel Weddo von Glümer einige Zeit in Holland und Westfalen in englischen Diensten und kämpfte gegen die französischen Revolutionstruppen (1795). Weddo von Glümer heiratete nach seinem Abschied aus dem braunschweigischen Kriegsdienst die Tochter eines englischen Obersten, Caroline Nesbitt, und lebte als Privatmann in Braunschweig. Als erstes Kind wurde dem Ehepaar am 11. Dezember 1798 ein Sohn geboren. Man taufte ihn auf den Namen Karl Weddo. Er wurde später Claire von Glümers Vater.8
I. 1 Die Eltern
Wenige Jahre vor ihrem Tod hat Claire von Glümer noch einmal die wesentlichen Ereignisse, die am Beginn ihres Lebens standen, an sich vorüber ziehen lassen. Bewusst hat sie aus der Fülle des Erlebten nur die für sie wesentlichen Wegmarken im Licht ihrer Erinnerung zu Papier gebracht. Die Kindheitserinnerungen enthalten auch zahlreiche Briefe, die Claire von Glümers Mutter Charlotte verfasst hat. Sie haben eine wesentliche Bedeutung für die Vollständigkeit der Kindheitsgeschichte, besonders für die ersten Lebensjahre. Am Anfang ihrer Aufzeichnungen zeigt Claire von Glümer, wie ihre Eltern zusammen fanden, bevor sie ihre eigene Lebensgeschichte beginnt.
Claire von Glümers Eltern, Karl Weddo und Charlotte von Glümer (geborene Spohr), kannten sich bereits von Kindesbeinen an. Karl Weddos Eltern verlegten ca. im Jahr 1803 ihren Wohnsitz in das »freundliche Landstädtchen Schöppenstedt«, wo sie in Verkehr mit der Familie des Superintendenten Spohr kamen. Die Spohrs hatten eine Tochter, Charlotte, damals vier Jahre alt, welche nun die Spielgefährtin des gleichaltrigen Karl Weddo wurde.
Charlotte Spohrs Vater war in zweiter Ehe verheiratet; so gab es noch eine Stiefschwester, Wilhelmine, im Hause Spohr, welche nach dem frühen Tod von Charlottes Mutter als Erzieherin der Halbwaisen fungierte. Daneben spielte die Nichte Amalie (»Mally«) Fricke, Tochter ihrer zweiten Stiefschwester, eine wichtige Rolle im Leben Charlottes. Amalie war zwei Jahre älter als Charlotte. Die beiden Mädchen liebten sich wie Schwestern und verbrachten viele glückliche Stunden miteinander. »Zu diesen beiden gesellte sich /…/ der kleine Karl Glümer. Die drei Kinder vertrugen sich auf´s Beste, spielten bei gutem Wetter zwischen den Stachelbeerbüschen und Gemüsebeeten des Pfarrgartens; bei schlechtem Wetter, wenn Lottens Vater ihr Toben vor der Tür seines Studierzimmers nicht dulden wollten, im weiten Flur des Frickeschen Hauses, wo es hinter Schränken und Truhen so köstlich-unheimliche Winkel gab. Wurden sie durch Kälte oder Dunkelheit ins Zimmer gebannt, so war ihre liebste Unterhaltung, Geschichten oder Märchen erzählen zu hören, nachzuerzählen und – als sie größer wurden – selbst zu erfinden. Das taten freilich nur die kleinen Mädchen. Karl war dankbares Publikum.« Bald verlegten die Glümers ihren Wohnsitz auf das Gut Volkersheim. Wenn Charlotte (Lotte) und Amalie (Mally) dort ihren Karl besuchten, spürten sie einen Schatten, der auf der Familie lag. Karls Schwestern, Auguste und Agnes, saßen oft still nebeneinander auf Gartenbänken »oder gingen langsam Hand in Hand durch Wege, und erschraken, wenn sich plötzlich im Gebüsch fröhliches Geschrei erhob.« Der Grund für die Ernsthaftigkeit und Verschlossenheit rührte daher, dass Agnes in ihrem dritten Lebensjahr durch eine verunglückte Operation erblindet war; »und nun ging ihr die treue kleine Schwester nicht von der Seite.«9 Diese Beziehungen seien hier erwähnt, weil Mali und Agnes in Claire von Glümers Leben noch eine wichtige Rolle spielen werden.
Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau schien es Charlotte Spohrs Vater geboten nochmals zu heiraten, um seiner Tochter eine Mutter und seinem Haushalt eine straffe Struktur zu geben: »Die Wahl fiel auf Friederieke Siems, eine Försterstochter in gesetzten Jahren« welche gern den ehrenvollen Heiratsantrag des »beliebten alten Herrn« annahm. Diese Verbindung hatte jedoch für Charlotte weit reichende Folgen. Friederieke erwies sich als »freundliche Gefährin und treue Pflegerin« ihres Gatten, »aber die Eigenart des begabten, früh entwickelten Kindes verstand sie nicht. Das Zärtlichkeitsbedürfnis der Kleinen, ihre rege Fantasie, ihre Wissbegierde, ihre Lebhaftigkeit, ihr ganzes Wesen erschreckte die Stiefmutter, sollte eingedämmt, umgeformt werden. Solange der Vater lebte, blieben diese Erziehungsversuche in gewissen Grenzen; nach seinem Tode wurden sie erbarmungslos durchgeführt.« Die elfjährige Charlotte wurde aus der Schule genommen – eine Schulpflicht bestand damals noch nicht – und zur Hausarbeit erzogen – »erbarmungslos«: Küche, Nähnadel und Waschtrog waren von nun an die Wirkungsfelder des Mädchens. »Nur Tiere zu töten konnte und wollte sie nicht lernen; sie warf das Messer fort, womit sie ein Huhn schlachten, ließ die Taube fliegen, der sie den Kopf abreißen sollte, und...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7693-9144-6 / 3769391446 |
ISBN-13 | 978-3-7693-9144-2 / 9783769391442 |
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