Mölltaler Geschichten Festival: Jetzt (eBook)
216 Seiten
Verlag Anton Pustet
978-3-7025-8116-9 (ISBN)
AUSTRIACA
BRITTA MÜHLBAUER
Meine Liebe zu Italien beginnt mit Eiscreme und Fritto misto. Mit leisem Schauder zermahle ich Fischchen samt Kopf und Gräten zwischen den Zähnen und beschließe, das Leben leicht zu nehmen. Ich verliebe mich in Ennio. Sein schwarzer Bart kratzt auf meiner Haut. Als unsere Affäre endet, ziehe ich in eine lombardische Kleinstadt, sechzig Kilometer südlich von Mailand.
Meine Wohnung liegt an der Piazza. Mein Zeichentisch steht direkt am Fenster. Ich bin ein Teil des Stadtbildes. Paolo, der Obsthändler, und Mitridate, der tabaccaio, nennen mich beim Vornamen. Ich esse in Giuseppes Trattoria und für die Torta di Mandorle von Filomena könnte ich töten. Und dennoch. Dennoch gehöre ich nicht dazu. Nach zwanzig Jahren bin ich immer noch l’austriaca.
Ich führe einen Laden, der über ein dunkles Treppenhaus zugänglich ist. Vormittags stellen Signoras ihre Einkaufstrolleys bei mir ab, besprechen die neuesten Skandale und probieren meine Kleider. Seit das Geld immer knapper wird, kaufen sie nichts mehr. Auch ich schränke mich ein. Nudeln schmecken jeden Tag und Tomaten und Basilikum wachsen im Garten hinter dem Haus. Doch im Winter sehne ich mich nach einer funktionierenden Heizung, ich hätte gerne ein Auto, das ich ohne Bangen starten kann, und hin und wieder möchte ich mein Paradies mit einem Hotel ganz woanders tauschen. Mitridate, der tabaccaio rät mir, Lotto zu spielen. Ich übersetze ihm den Ausdruck „Deppensteuer“ mit imposta di cretine.
Über mir wohnt Signora Bianchi. Wir grüßen uns, wenn wir uns im dunklen Treppenhaus begegnen, doch wir nennen uns nicht beim Vornamen. Sie arbeitet im Rathaus und verlängert alle fünf Jahre meine Aufenthaltserlaubnis. Hin und wieder kommt sie in meinen Laden. Sie geht die Kleiderständer entlang, richtet die Bügel gerade, doch sie kauft nichts. Es heißt, dass der Präsident der Provinz sie bei seinem Besuch im Rathaus für die portiera hielt.
Meine Signoras erzählen, ihr Bruder sitze im Rollstuhl, die Schwester wisse nicht, wie sie ihre Kinder großziehen solle, seit sie ihre Arbeit verloren hat. Signora Bianchi unterstützt die beiden. Eines Abends im Treppenhaus, als sie an mir vorbei geht, sage ich, dass der Regen mich deprimiert. Sie bleibt stehen. Wenn es ihr nicht gut gehe, sagt sie, spiele sie Lotto.
Lotto? Tatsächlich?
Sie weiß, eines Tages wird sie gewinnen.
Ihre Zuversicht steckt mich an. Nun trage auch ich zu dem Jackpot bei, der im Frühsommer auf unvorstellbare 156 Millionen Euro angewachsen ist.
Er fällt Anfang Juni. Als ich am Tag danach die Morgenzeitung hole, ist es still auf der Piazza. Die Tauben hocken mit eingezogenen Köpfen auf den Dächern. Ich lese es, als ich Zucker in meinen Espresso rühre: Der Gewinntipp wurde am Samstag um 12 Uhr 38 in Mitridates tabaccheria abgegeben! Ich halte mich an der Zeitung fest. War es halb eins, als ich meinen Lottoschein abgab? Zwei Kunden vor mir stand Signora Bianchi.
Porca miseria! Mein Schein liegt im Handschuhfach meines Wagens, der wiederum in einer Parkkralle in Mailand festsitzt. Soll ich wie ein kleines Kind auf der Stelle hinfahren? Ich spiele Alltag. Ich scanne meine Entwürfe ein, bevor ich in Filomenas Caffetteria gehe. Doch Filomena ist nicht da. Sie ist drüben bei Mitridate. Sie sind alle drüben bei Mitridate, stehen auf der Piazza, trinken und rauchen.
Filomena schwenkt ihren Lottoschein. Sie hat nicht gewonnen. Ihr Blick nötigt mich zur Rechenschaft. Ich berichte von meinem in Mailand festsitzenden Schein. Eine dumme Ausrede, meint Paolo, der Obsthändler. Auch Filomena sieht mich enttäuscht an. L’austriaca.
Nach und nach versammelt sich die halbe Stadt auf der Piazza. Nur Signora Bianchi, meine Nachbarin, fehlt. Man gratuliert mir zum Millionengewinn. Paolo macht sich über den Lottoschein in der Parkkralle lustig. Sofort bietet mir ein Autohändler an, mich nach Mailand zu bringen. Es wäre ihm eine Ehre, eine so schöne Frau zu chauffieren.
Ich sage, falls ich doch nicht Millionärin bin, will ich es heute noch nicht wissen.
Multimillionärin! Der Bürgermeister drückt mir ein Glas Champagner in die Hand. Die Stadt braucht ein Sportzentrum. Ich schenke ihm ein paar Millionen und bestelle noch eine Lokalrunde. Mitridate strahlt. Selbstverständlich kann ich anschreiben lassen. Er hofft, dass ich ihn, meinen portafortuna, an meinem Glück teilhaben lassen werde. Giuseppe möchte den Speisesaal seiner Trattoria erneuern. Filomenas Caffetteria braucht eine neue Küche. Männer – auch junge, gutaussehende – überschütten mich mit Komplimenten. Ein Bauunternehmer nimmt mich beiseite. Ich soll ihm den Auftrag für das Sportzentrum verschaffen. Meine Signoras rechnen mit Rabatten bei ihren nächsten Einkäufen. Als ich nach Hause wanke, habe ich den Überblick über meine Versprechen verloren.
Der nächste Morgen holt mich in die Realität zurück: L’austriaca soll den Jackpot bei SuperEnalotto gewonnen haben? Col cazzo! Nicht in diesem Leben.
Leise Schritte über mir. Es ist nach neun. Muss Signora Bianchi nicht arbeiten? Die Schritte bewegen sich zum Fenster, verweilen, bewegen sich zur Tür. Ich schlüpfe in Chinos und Pullover und sehe nach.
Zum ersten Mal klopfe ich an ihre Tür. Sie öffnet, packt mich am Arm und zieht mich hinein. Ich sehe eine Kochnische, ein Schlafsofa, penible Ordnung, und dass meine Nachbarin blass und übernächtigt ist.
Finalmente! Ihr Griff hinterlässt den Eindruck einer Parckralle. Sie wird mich nach Mailand bringen, Anweisung des Bürgermeisters. Aber zunächst muss ich ans Fenster treten.
Ich sehe, dass in Filomenas Caffetteria Hochbetrieb herrscht. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich die Kameras und die Notebook-Taschen. Das Haus ist belagert. Presseleute aus dem In- und Ausland suchen nach mir.
Aber ich weiß doch gar nicht …
Sie sieht mich missbilligend an. Der Bürgermeister will Gewissheit. Wir müssen hinten raus. Ihr Wagen steht an der Gartenpforte.
Wir tuckern über Land, schleichen durch Orte. Sie schweigt. Ich frage sie, warum sie nicht auf Mitridates Fest war, und wie viel sie gewonnen hat. Sie starrt auf die Hinterfront des LKWs, dem wir bis Mailand folgen werden, wenn er nicht abbiegt.
Sie war bei ihrer Schwester, sagt sie. Suchte deren Lottoschein.
Und? Hat sie gewonnen?
Signora Bianchi sieht mich an. Wenn ja, würde sie ihrer Schwester verbieten, es auch nur einer Menschenseele zu erzählen. Der LKW vor uns blinkt. Ich klammere mich an den Haltegriff. Signora Bianchi schaltet noch einen Gang zurück.
Während ich meinen Lottoschein aus dem Handschuhfach hole, bemüht sie sich um die Entfernung der Parckralle von meinem Wagen. Ist sie gar nicht neugierig? Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Doch mein Schein ist keine 156 Millionen wert. Ich denke an die Journalisten vor dem Haus und fühle mich frei.
Signora Bianchi hat schlechte Neuigkeiten. Meine Parkvergehen sind so zahlreich, dass mir eine Anzeige droht. Der Bürgermeister wird sich darum kümmern. Ich zeige ihr den Lottoschein. Ich werde der Stadt kein Sportzentrum schenken können. Wird der Bürgermeister mir trotzdem helfen?
Sie rollt die Unterlippe ein.
Ich warte das Ergebnis ihrer stummen Strategiedebatte ab.
Ich müsse ihm den Lottoschein ja nicht zeigen, meint sie.
Will sie damit sagen …?
Ja, ich soll die Rolle der Lottomillionärin spielen, bis die Anzeige vom Tisch ist.
Ich zögere, erinnere mich an meinen Vorsatz, das Leben leicht zu nehmen, und stimme zu.
Sie lacht aus vollem Hals.
Auf dem Heimweg spielen wir: Was wäre, wenn?
Sie würde reisen. Nach Afrika und an den Polarkreis. Sie weiß, wo man am besten in den Grand Canyon einsteigt, und wo der größte Nachtmarkt Singapurs liegt. Sie weiß es aus Zeitschriften und Büchern. Einen Teil ihrer 156 Millionen würde sie der städtischen Bücherei schenken. Was ich mit so viel Geld täte?
Angesichts Signora Bianchis genauer Vorstellung – natürlich würde sie auch ihren Geschwistern das Leben erleichtern, wo Geld es kann – bin ich ratlos. Meine Reisegewohnheiten sind pauschal, bedürftige Verwandte habe ich nicht. Dass es schön wäre, im Winter nicht zu frieren, ein neues Auto, nicht jeden Euro zweimal umdrehen, fällt mir erst ein, nachdem Signora Bianchi mich an der Gartenpforte abgesetzt hat.
Ich spiele also die Lottomillionärin. Das heißt, ich streite nicht ab, die 156 Millionen gewonnen zu haben. Den Rest besorgen die anderen.
Auf der Piazza umringen mich Journalisten. Meine Mitbürger verraten ihnen meine Gewohnheiten und loben, wie gut ich mich eingelebt habe. Mitridate wird nicht müde zu schildern, wie ich meinen Tipp abgegeben habe. Jedes Mal erinnert er sich an weitere prophetische Details. Der Autohändler stellt mir ein feuerrotes Cabrio vor die Tür. Bezahlen kann ich später. Banken, die mir keinen Kredit gewährten, schicken mir ihre Anlageberater. Ich werde von Leuten, die alles Nicht-Italienische verachten, zum Essen eingeladen.
Nur Ennio und ein paar alte Freunde, die sich nach den Zeitungsberichten bei mir gemeldet haben, glauben mir, dass ich nicht gewonnen habe. Ennio meint, es hätte ihn auch gewundert, so wenig, wie ich an mein Glück glaube.
Schließlich erlahmt das Interesse der Medien an meinem Millionengewinn. Es...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2024 |
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Reihe/Serie | Mölltaler Geschichten Festival |
Verlagsort | Salzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anthologie zum Mölltaler Geschichten Festiva • Jetzt! • Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten |
ISBN-10 | 3-7025-8116-2 / 3702581162 |
ISBN-13 | 978-3-7025-8116-9 / 9783702581169 |
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Größe: 4,8 MB
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