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Nacht der Ruinen (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
432 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1076-6 (ISBN)
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März 1945: Amerikanische Verbände haben Köln erreicht. Trotz der Durchhalteparolen aus Berlin ist der Widerstand gering, die Stadt wie ausgestorben. Kaum mehr 20.000 Menschen leben in den Trümmern. Doch die Amerikaner erobern nur einen Teil der zerstörten Metropole, denn der Rhein bildet wochenlang die Front. Unlängst wurde die Domstadt noch einmal schwer bombardiert. Ein abgeschossener Pilot stürzte dabei mit seinem Fallschirm mitten hinein ins Chaos - und wurde Opfer eines feigen Lynchmords. Nun soll der junge amerikanische Soldat Joe Salmon, eigentlich Joseph Salomon, ein Kölner Jude, der nach der »Reichskristallnacht« mit knapper Not in die USA emigrieren konnte, den Fall klären. Joe sucht den Mörder oder die Mörderin - tatsächlich aber sucht er insgeheim noch zwei andere Menschen, die er einst in der Heimat zurücklassen musste: Jakub und Hilda, seinen besten Freund und die Frau, in die er hoffnungslos verliebt war. Auf verschlungenen Pfaden nähert Joe sich der Lösung des Falls und der eigenen Vergangenheit und begegnet dabei historischen Persönlichkeiten, die im März 1945 in Köln gelebt und gewirkt haben: George Orwell, Konrad Adenauer, Hans Habe, Irmgard Keun.

CAY RADEMACHER,geboren 1965, schreibt in mehrere Sprachen übersetzte Kriminalromane, etwa die >Trümmermörder<-Trilogie aus dem Hamburg der Nachkriegszeit oder die erfolgreiche Provence-Serie um Capitaine Roger Blanc. Außerdem erschienen bei DuMont >Ein letzter Sommer in Méjean< (2019), >Stille Nacht in der Provence< (2020) und >Die Passage nach Maskat< (2022) sowie das historische Sachbuch >Drei Tage im September< (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence.

Köln, Domterrasse, Freitag, 15. Juli 1938:

AUS DEM TAGEBUCH DES JOSEPH SALOMON

Dieser Sommer, das steht schon mal fest, ist der schönste meines Lebens. Köln ist die schönste Stadt der Welt. Und ich habe die besten Freunde aller Zeiten. Mehr Glück als ich kann man nicht haben.

Heute war ich mit Hilda und Jakub auf der Domterrasse verabredet. Gut, Paul war auch da, der Quälgeist, aber was soll Hilda machen? Sie muss ihren kleinen Bruder halt mitnehmen, die Großeltern können ja nicht ständig auf den Bengel aufpassen. Aber Paul hatte sich zu Hause aus Märklin eine Messerschmitt gebaut und spielte damit vor dem Café Fliegerangriff. Da hat er uns wenigstens nicht gestört, und wir mussten ihn nur hin und wieder im Auge behalten, damit er beim Spielen nicht ans Ufer lief und in den Rhein fiel. Paul ist wirklich etwas meschugge. (Das darf Hilda niemals lesen, sie würde jedem, der ihr Brüderlein verspottet, die Augen auskratzen.)

Eigentlich dürfen Jakub und ich uns auf der Domterrasse gar nicht sehen lassen, der Zutritt ist für Juden verboten. Aber Hilda ist arisch, außerdem waren ihre Eltern Parteigenossen und auch die Großmutter ist eine Pg. Und ich sehe so was von arisch aus, dass mich die SA-Streifen ständig fragen, warum ich nicht bei ihnen mitmache. Nur Jakub muss aufpassen, er sieht aus wie eine Karikatur aus dem »Stürmer« mit seiner dicken Brille, den Segelohren, der Hakennase, und seine schwarzen Locken lässt er sich viel zu selten schneiden. Doch Jakub ist halt genial. Ich habe keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber er hat in diesen großen Ferien eine geradezu unglaubliche Arbeit gefunden: als Bürobote bei der Hitlerjugend-Versicherung Großdeutschland, Reichszentrale Stammheimer Straße. Das ist Chuzpe! Ein Jude aus Krakau macht Botengänge für die Haftpflichtversicherung der Braunhemden. Keine Ahnung, welche gefälschten Papiere er denen vorgelegt hat, vielleicht auch gar keine, der Jakub, der kann reden, der würde dem Teufel ein Streichholz verkaufen. Jedenfalls, wenn er von einer Streife der SA oder der HJ kontrolliert wird, zückt er einfach seinen Dienstausweis, und dann gefriert diesen Kerlen das dreckige Grinsen im Gesicht. Einer von der HJ stand neulich sogar stramm, als er den Ausweis sah, das reicht, wenn die ein Dokument mit Reichsadler und Hakenkreuz sehen, dann machen die sich vor Angst in die Hosen. Genau deshalb hat Jakub bei dieser Versicherung angefangen, obwohl er das beste Zeugnis unserer Unterprima hat, anderswo hätte er in den Ferien viel mehr verdient. Aber er sagt, dieser Dienstausweis ist sein »Freifahrtschein durch Köln«, und wie immer hat er recht.

Es war auch Jakubs Idee, selbstverständlich war das Jakubs Idee, dass wir uns auf der Domterrasse treffen, sozusagen vor den Augen von ganz Köln. Die Tische unter den rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen waren bis auf den letzten Platz besetzt, hübsche Frauen in Sommerkleidern, mehr als ich zählen konnte (aber keine war auch nur annähernd so schön wie Hilda, ehrlich), Männer in Leinenanzügen und Hüten, man glaubte sich in New York am Broadway, hätten da nicht auf einigen Stühlen ein paar Goldfasane in ihren braunen Uniformen gesessen, die Kerle waren alle so fett, dass ihre A…backen auf beiden Seiten über die Stühle quollen. Hinter uns war der Dom, ein schiefergraues Gebirge, hohe Portale, noch höhere Fenster, ganz, ganz hohe Türme. Der ist so schön, ich könnte beinahe Christ werden, wenn ich ihn sehe, haha.

Jakub und ich schmauchten Glimmstängel. Jakub hat letztes Jahr damit angefangen und kann es gar nicht mehr lassen, ich mache das hin und wieder nach, obwohl es mir eigentlich nicht schmeckt. Niemand beachtete uns. Alle starrten auf das Excelsior gegenüber vom Dom. Jedes Mal, wenn eine Limousine von Mercedes oder Horch vorbeirollte, reckten sie die Hälse. Heute Abend ist im Scala die Premiere von Wenn Frauen schweigen, und es geht das Gerücht um, keine Ahnung, wer es in die Welt gesetzt hat, dass die Filmstars im Excelsior absteigen: Hansi Knoteck, Johannes Heesters, Fita Benkhoff, Hilde von Stolz und Friedrich Kramer – den habe ich schon ein paarmal auf der Bühne gesehen, zumindest früher, als sie es mit den Kontrollen im Stadttheater noch nicht so genau nahmen. Irgendwann wollten sie mir dort keine Karte mehr verkaufen. Ich glaube, irgendein Schwein hat mich denunziert, und dann nützen dir auch blonde Haare und blaue Augen nichts mehr.

Als eine alte Schickse vom Nebentisch dann doch mal ihren Blick vom Excelsior losreißen konnte, starrte sie uns missbilligend an. Die mochte es nicht, dass Unterprimaner in der Öffentlichkeit qualmten. Und da nahm sich Hilda, die sonst nie raucht, demonstrativ eine Zigarette, ließ sich von Jakub Feuer geben und guckte die Frau herausfordernd an. Allein dafür liebe ich Hilda! Und für vieles, vieles mehr, aber das darf ich ihr auch nicht sagen. Zumindest noch nicht. Der Sommer ist ja noch lang …

Hilda spielt Tennis in einem vornehmen Klub und ist so gut wie Cilly Aussem, mindestens! Sie ist so blond und kühl wie Marlene Dietrich. Sie wohnt in der Villa ihrer Großeltern, Rheinblick, beste Lage. Sie ist auch die beste Partie in Köln. Seit ihre Eltern mit der Hindenburg abgestürzt sind, verwaltet ein Treuhänder die Firma und das Vermögen. Aber in vier Jahren, wenn Hilda volljährig ist, wird sie Millionärin sein! Eigentlich müsste ein Mädchen wie sie mit den schneidigen Kerlen von der SS in Müngersdorf ausreiten, doch die haben es bei ihr vermasselt. Hilda träumt davon, Physik zu studieren, kann man sich das vorstellen, ein Mädchen und Physik? Jedenfalls kann Hilda besser rechnen als Einstein, aber aufs Gymnasium darf sie nicht mehr, um das »unberechtigte Eindringen der Mädchen in alle Berufe zu unterbinden«, wie der Führer beschlossen hat, und damit ist es natürlich auch aus mit dem Studium. Nazis: Selbst schuld! Jetzt sitzt Hilda halt mit zwei Judenbengeln im Café und qualmt euch was vor!

Hilda hatte eine große Handtasche dabei, Jakub und ich trugen wie immer Lederrucksäcke. Wir tauschten verbotene Bücher. Auch das war natürlich Jakubs Idee: Es ist gefährlich, Bücher zu lesen, die sie 1933 verbrannt haben. Aber Jakub meinte, es gäbe keinen sichereren Ort für einen Büchertausch als das Café am Dom, gewissermaßen vor aller Augen. Weil dort niemand damit rechnet. Ich hatte einen Hemingway dabei, den mir unser Englischlehrer letzten Monat heimlich zugesteckt hatte. Hilda kam mit einem Tucholsky. Und Jakub, dieser Teufelskerl, hatte Remarque aufgetrieben, Im Westen nichts Neues. Da wurde ich doch ein bisschen nervös, wenn die SA das Buch sieht …

Am Ende haben wir gelost. Hilda hat den Remarque bekommen, ich den Tucholsky und Jakub hat sich meinen Hemingway in den Rucksack gestopft.

»Nächste Woche mit neuen Büchern«, hat Jakub geflüstert. »Wollen wir noch eine Runde spazieren gehen?«

Am liebsten wäre ich nach Hause gelaufen, um den Tucholsky zu verstecken, der in meinem Rucksack zu brennen schien. Aber wenn ich schon mal die Gelegenheit habe, mit Hilda am Rhein zu promenieren …

Der Himmel war wie Milch, so viel Wasser dampfte bei dieser Hitze aus dem Fluss. Der Rhein glänzte wie ein silberner Strom, Dunst umschmeichelte die Türme des Doms, von Groß Sankt Martin und Sankt Kunibert, die Altstadt sah aus wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. Manchmal flirrte die Luft so stark, dass ich die Hand vor die Augen halten musste. Dann sahen die Brücken aus, als wären sie gar nicht mehr mit dem Ufer verbunden, sie schienen zu schweben, und man glaubte, sie seien viel weiter weg, als sie tatsächlich waren. Wir gingen auf die Hohenzollernbrücke, die Kaiser auf ihren Riesenpferden zu beiden Seiten des Brückentors sahen uns streng an, doch Hilda blickte bloß kühl zurück. Wenn ein D-Zug über die Brücke donnerte, erzitterte das ganze Eisen, und der Rauch der Dampflok schmeckte bitterer als eine Zigarette. Wir gingen bis zur Mitte und sahen flussaufwärts.

»Irgendwo da ist Italien«, sagte Hilda, und obwohl ihre Stimme so beherrscht klang wie immer, hörte ich die Sehnsucht heraus. Und ich war immerhin klug genug, sie nicht zu korrigieren, der Rhein kommt doch bloß aus der braven Schweiz, aber im Prinzip hatte sie ja recht. Süden! Da wollen wir alle hin, in das Land, wo die Zitronen blühen, obwohl – in Rom regiert der Duce, und der ist auch nicht viel besser als der Führer. Irgendwie ist die Welt verhext, wo sollen wir noch hin?

Wir blickten auf die Hindenburgbrücke, deren Drahtseile aus dieser Entfernung so dünn wirkten wie Frauenhaare. Frauenhaare … Unwillkürlich musste ich Hilda ansehen, dann wandte ich den Blick schnell wieder ab, in der Hoffnung, dass sie nicht bemerkte, wie rot ich geworden war. Sie war so unglaublich schön, die Sonne ließ ihr Haar leuchten wie weißes Gold, und ich war ihr so nah, dass ich den Duft ihres Parfüms einatmen konnte, und mir wurde schwindelig, und dann musste ich aufpassen, dass ich nicht in den Rhein stürzte.

Bevor es zu romantisch wurde, rief Paul: »Peng, peng, peng«, imitierte einen Luftkampf und kletterte dafür auf das Geländer. Jakub sprang hinterher und konnte den kleinen Kerl gerade noch festhalten, bevor er tief unter uns in die schäumenden Fluten stürzte. Und Hilda lächelte Jakub dankbar an. Ich hätte mir in den Hintern treten können. Wäre ich schneller gewesen, dann hätte ich Paul am Gürtel gepackt und sie hätte mich angelächelt. Vielleicht.

Um mich auch bei Paul lieb Kind zu...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alliierte • Befreiung • Besatzung • Deutsche Geschichte • George Orwell • Geschenk Krimi • Hans Habe • Historie • Irmgard Keun • Jahrestag • Judenverfolgung • Kapitulation • Kölner Dom • Konrad Adenauer • Kriegsende • Krimi • Mord • Nationalsozialismus • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-7558-1076-X / 375581076X
ISBN-13 978-3-7558-1076-6 / 9783755810766
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