Was die Nacht verschweigt: Die Fortsetzung von WAS DIE TOTEN BEWEGT - Eine packende und atmosphärische Erzählung in der Tradition von Edgar Allan Poe (eBook)
192 Seiten
Cross Cult (Verlag)
978-3-98666-589-0 (ISBN)
Lese- und Medienproben
T. Kingfisher ist das Pseudonym von Ursula Vernon. Die in North Carolina lebende mehrfach preisgekrönten Autorin und Illustratorin ist vor allem für ihre Kinderbücher bekannt. Sie wurde bereits für den Ursa Major Award und den Eisner Award nominiert und gewann 2015 den Nebula Award für die beste Kurzgeschichte und 2017 den Hugo Award für die beste Novelle. Ihr Debüt-Horrorroman wiederum wurde 2020 mit dem Dragon Award für den besten Horrorroman ausgezeichnet. 2023 erschien von ihr in Deutschland Wie man einen Prinzen tötet.
T. Kingfisher ist das Pseudonym von Ursula Vernon. Die in North Carolina lebende mehrfach preisgekrönten Autorin und Illustratorin ist vor allem für ihre Kinderbücher bekannt. Sie wurde bereits für den Ursa Major Award und den Eisner Award nominiert und gewann 2015 den Nebula Award für die beste Kurzgeschichte und 2017 den Hugo Award für die beste Novelle. Ihr Debüt-Horrorroman wiederum wurde 2020 mit dem Dragon Award für den besten Horrorroman ausgezeichnet. 2023 erschien von ihr in Deutschland Wie man einen Prinzen tötet.
KAPITEL
1
Ein Dichter beschrieb die Wälder Gallaziens einmal als so unergründlich und finster wie den Kummer Gottes. Und obgleich ich, was Dichter angeht, gemeinhin skeptisch bin, hat dieser damit wohl wortwörtlich ins Schwarze getroffen. Jedenfalls war der heimatliche Landstrich, den ich gerade durchritt, so unergründlich und finster, als entspränge er einem Märchen.
Der Herbst lag in den letzten Zügen und viele Bäume hatten ihr Blattwerk inzwischen ganz abgeworfen. Nun könnte man meinen, die Wälder würden lichter – doch wer das glaubt, der war vermutlich noch nie in Gallazien. Kiefern säumten die Straße wie spitze Zahnreihen, zwischen denen Eichen ihre kahlen Zweige wie arthritische Finger ausstreckten. Der tief hängende Himmel hatte die Farbe eines Bleigeschosses und schien beinahe die Baumwipfel zu berühren. Das und die Fuhrrillen, die in der Mitte der Straße einen Höcker bildeten, erweckten in mir das unangenehme Gefühl, geradewegs in den Schlund eines Riesen hineinzureiten.
Alles war nass. Von den Bäumen tropfte es beständig und das durchweichte Laub überzog den Boden als glitschige braune Schicht, die an billige Bratentunke erinnerte. Allein die immergrünen Nadeln hatten nichts von ihrer Anmut eingebüßt. Falls das alles tatsächlich einem Märchen entsprang, dann wohl einem, in dem am Ende alle gefressen werden – als Warnung davor, durch den Wald zu streunen –, und nicht etwa einer dieser Kitschgeschichten, die mit einer Hochzeit endeten sowie dem Sätzchen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Rechts des ansteigenden Weges lichteten sich die Bäume und gaben den Blick auf eine hohe Felswand frei. Ein so plötzlicher Landschaftswechsel ist hier ganz normal – in erster Linie ist Gallazien kompakt. Unsere Klippen sind schwindelerregend hoch und grenzen meist direkt an die Straßen und die Bäume drängen sich überall dicht an dicht. Auch haben wir mehr als genug kleine Wasserfälle, die malerisch über moosbewachsene Felsen plätschern, und möchte man zurücktreten, um einen aus der Ferne zu bewundern, läuft man leicht in Gefahr, von der nächsten Klippe zu stürzen und sich das Genick zu brechen.
Bären gibt es hier im Übrigen auch.
»Weißt du«, sagte ich zu Angus, »wir könnten jetzt noch in Paris sein.«
Angus murrte. Im Krieg hatte er mir als Offiziersbursche gedient und nun stand er mir als Kammerdiener, Pferdepfleger und Stimme der Vernunft zur Seite. Mein Vater hatte ihn mir vermacht, ebenso wie Kinn, Haarfarbe und meine unverwüstliche Leber.
»Ich hab dich nicht gezwungen mitzukommen«, erwiderte er.
»Erpresst hast du mich.«
»Das hab ich ganz gewiss nicht.«
»O doch, da waren Schuldgefühle im Spiel, das weiß ich noch ganz genau.«
Wieder brummte er. Manchmal kam einem Angus’ Schnurrbart wie ein autonomes Wesen vor, das zu ganz eigenständigen Ausdrucksäußerungen in der Lage war, und in diesem Augenblick tat er eindeutig seine Geringschätzung für meine Beschwerden kund. »Ich weiß zumindest noch, wie tief wir in Miss Potters Schuld stehen.«
»Glaub mir, das habe ich keinesfalls vergessen.« Miss Potter, eine Ehrfurcht gebietende britische Mykologin, hatte die Welt mehr oder minder vor dem Monstrum bewahrt, das im See der Ushers sein Unwesen getrieben hatte. Die Schwerarbeit hatte ich gemeinsam mit einem amerikanischen Arzt geleistet, aber ohne Eugenia würden wir nun vermutlich im Haus sitzen und uns über die merkwürdigen weißen Fasern wundern, die uns aus den Ohren sprossen.
(Inzwischen war seit dem Vorfall gerade so viel Zeit vergangen, dass ich mich allmählich darüber lustig machen konnte.)
»Ich kann sie ja wohl kaum ohne Dolmetscher in deiner Jagdhütte nächtigen lassen«, erklärte Angus. »Sie spricht schließlich kein Wort Gallazisch.«
Niemand spricht Gallazisch, wenn es sich vermeiden lässt. Unsere Sprache ist so erbärmlich und überkompliziert wie alles andere in diesem Land. Da konnte ich Angus nicht widersprechen. Und es gab keinen Grund, der Jagdhütte – oder vielmehr dem Jagdhaus –, nicht doch einmal einen Besuch abzustatten. Seit ich den Ort vor Jahren geerbt hatte, machte niemand davon Gebrauch. Dennoch …
»Raus mit der Sprache, Angus. Wittere ich da etwa einen romantischen Kurzurlaub?«
Sein Schnurrbart bedachte mich mit dem Äquivalent eines vernichtenden Blicks. »Ich hege für Miss Potter nur den allerhöchsten Respekt«, antwortete der Rest von ihm steif.
»Das tun wir alle, aber das eine schließt das andere ja nicht aus.«
Mein ältester und bester Freund murmelte etwas, das ich nicht ganz verstand, und ließ sein Pferd zurückfallen, sodass ich ihn nicht weiter piesacken konnte.
Im Ernst: Eine unromantischere Kulisse als das herbstliche Gallazien kann man sich schwerlich vorstellen. Ich lenkte Hob von einem kahlen Baum am Straßenrand weg, über den sich Ranken wie Gedärme ergossen. Die Straße führte über eine Hügelkuppe, dann ging es abwärts. Ich blickte zwischen den Ohren meines Hengstes auf den Weg und fühlte mich allgemein malträtiert.
Paris war bei unserer Abreise in seiner ganzen Pracht erstrahlt. Vor allem vom Frühling dort wird viel geschwärmt, doch meiner bescheidenen Meinung nach ist ein warmer Herbst ebenso spektakulär – mit dem Vorteil, dass man nicht permanent über umherstreifende Dichter stolpert. Die roten Geranien in den Blumenkästen leuchten wie frische Glut und bei Regen glitzert das Sonnenlicht umso hübscher an den benetzten Fensterscheiben.
Vor nicht einmal einer Woche hatte ich noch auf dem Fensterbrett gelehnt, den Duft von frischem Brot eingesogen, der von der Bäckerei im Erdgeschoss heraufwehte, und zwei Kutschern bei ihrem Streit um das Fahrtgeld gelauscht. Sie hatten einander die wüstesten Beschimpfungen um die Ohren gehauen, aber auf Französisch klang das alles nur wie überaus hitzige Liebeserklärungen. Wahrlich, Paris war die Stadt meines Herzens.
Und nun war ich zurück in Gallazien, meinem Geburtsland, und ritt eine Straße hinab, die in mir das Gefühl weckte, mit Haut und Haar verschlungen zu werden.
Erneut stieg der Weg an. Mein Hengst Hob seufzte, wie nur ein verdrießliches Pferd es kann. Ich tätschelte ihm den Hals. Hob war ein gestandener Kavallerist, aber das traf auch auf mich zu, und mir gefiel das alles ebenso wenig. »Kopf hoch, Junge. Wenn wir ankommen, gibt es für dich leckere warme Maische.« Hoffte ich zumindest. Ich hatte uns bei Codrin, der sich in meiner Abwesenheit um das Jagdhaus kümmerte, per Brief angekündigt, doch er hatte sich nicht zurückgemeldet. Ich hoffte inständig, dass das nur auf Codrins Nachlässigkeit in Sachen Schriftverkehr zurückzuführen war, aber in Anbetracht der tristen grauen Straße, der tristen grauen Bäume und des tristen grauen Himmels – von der Sehnsucht nach Paris ganz zu schweigen – sorgte ich mich allmählich zunehmend.
»Nun schmoll nicht so«, sagte Angus.
»Tu ich ja gar nicht.« Und um meine unbegründete Angst zu überspielen, ergänzte ich noch: »Ist nur mein Tinnitus.« Das war immerhin keine glatte Lüge. Bei plötzlichen Höhenunterschieden peinigte er mich immer wieder aufs Neue und die gesamte Zugfahrt von Paris bis in die Hauptstadt Gallaziens bestand im Prinzip nur aus Höhenunterschieden. Der Großteil der Reise war für mich in einem hohen Fiepton untergegangen, der irgendwo im Inneren meines Schädels schrillte.
Dennoch hätte es mich weitaus schlimmer treffen können. Dem Arzt zufolge, der mir den Fachbegriff für dieses permanente Pfeifen genannt hatte, herrschte bis vor ein paar Hundert Jahren noch der Glaube, das läge am Wind, der sich zwischen den Ohren verfangen hätte. Damals hatte man solchen Patienten ein Loch in den Schädel gebohrt, um den vermeintlichen Luftstrom abzusaugen. Heutzutage sagten die Mediziner nur: »Tut mir leid, da können wir Ihnen nicht helfen«, und verschrieben einem Laudanum zum Schlafen.
Laudanum hörte sich gerade äußerst verlockend an. Das könnte die zunehmende Anspannung in meiner Magengrube vielleicht lösen.
Hier ist alles in bester Ordnung, redete ich mir ein, du bist nur übermüdet und hast schlechte Laune. Codrins Brief liegt vermutlich irgendwo in Paris und hat uns knapp verpasst. Du weißt doch, wie langsam die Post hier ist, sobald man die Hauptstadt erst einmal verlassen hat.
Obgleich das alles der Wahrheit entsprach, beruhigte es mich kein bisschen. Hob spürte meine Beunruhigung offensichtlich, war aber...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2024 |
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Übersetzer | Elena Helfrecht |
Verlagsort | Ludwigsburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Albtraum • Edgar Allan Poe • Klassiker • Neuerzählung • reimagining • Retelling • Ruritanien • Trauma • Usher • Weird Tales |
ISBN-10 | 3-98666-589-7 / 3986665897 |
ISBN-13 | 978-3-98666-589-0 / 9783986665890 |
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