Die Erben des Feenfluchs (eBook)
510 Seiten
Drachenmond Verlag
978-3-95991-657-8 (ISBN)
Nachtschatten
Katherine schreckte auf. Einen Herzschlag lang blendete sie goldenes Licht und schickte Schmerz in ihren Schädel. Als sich ihre Augen jedoch an die Helligkeit gewöhnten, war da nur noch trüber Morgennebel, der im Unterholz hing. Durch die Baumkronen zog bereits die Dämmerung herauf, bald würden erste Sonnenstrahlen die letzten Nebelfetzen vertreiben. Das Feuer war verschwunden und Kälte kroch über den Waldboden unter ihre Wolldecke. Sie zitterte.
Was hatte sie geweckt? Reglos lag sie da und lauschte angestrengt. In ihrer Nähe raschelte es.
Langsam drehte sie sich auf die Seite, spähte zu den Ginsterbüschen hinüber und tastete nach einem Ast, um sich im Notfall damit zu verteidigen. Doch es war nur ein Reh, das den Kopf zwischen den Blättern hervorstreckte. Erleichtert sank Katherine zurück, die Anspannung hatte sich jedoch in ihren Gliedern festgesetzt und wollte nicht weichen.
Es war das erste Mal, dass sie eine Nacht unter freiem Himmel verbracht hatte, und es gefiel ihr nicht sonderlich. All die Geräusche um sie herum, die sie nicht deuten konnte. Die Feuchtigkeit spürte sie trotz der Wolldecke und ihrer Kleidung. Wurzeln und Steine bohrten sich durch den Stoff in ihre Haut. Käfer konnten der Wärme ihres Körpers nicht widerstehen.
War es ein Fehler, ihrem bisherigen Leben den Rücken zu kehren? Aber sie war nicht glücklich gewesen.
Mit ihrer Stiefschwester Mirabella hatte sie schon immer im Streit gelegen. Eine verlegte Haarspange, ein Riss in der Schürze, ein Fleck im Kleid – Anlässe hatten sich genug gefunden, um übereinander herzufallen. Dabei hatte Katherine gehofft, die neue Schwester würde ihre Einsamkeit vertreiben, nachdem damals, nur wenige Wochen vor Mirabellas Ankunft, Katherines jüngerer Bruder Benedikt spurlos verschwunden war.
Die beiden zehnjährigen Mädchen hätten Freundinnen werden können, aber das wurden sie nicht. Ihre Stiefschwester verbrachte ihre Zeit lieber in der Küche als mit ihr. Am Ofen war es zwar schmutzig, aber warm, und die Küchenmädchen hießen ihre Hilfe immer willkommen. Dank ihres lieblichen Lächelns waren alle ganz vernarrt in Mirabella, steckten ihr Leckereien zu und schimpften nicht, wenn sie ihnen im Weg war. Katherine dagegen erhielt statt Leckereien nur mitleidige Blicke und wurde schnell fortgescheucht. Was die Küchenmädchen über sie tuschelten, erfuhr sie nie.
Obwohl sie Mirabella nicht beneiden wollte, tat sie es, und über Neid und Trauer vergaß sie schließlich, wie sich Glück anfühlte.
Die Jahre vergingen und sie wurden erwachsen. Bald betrauerte Mirabella ihren Vater und sie beide mussten mit Katherines gefühlskalter Mutter zurechtkommen.
Seit dem königlichen Brautball, auf dem der begehrte Königssohn mit allerlei Brimborium ihre Stiefschwester als Braut erwählt hatte, war zwischen ihnen der letzte Funken Wärme erloschen. Sie würden niemals Freundinnen sein.
Dennoch hoffte sie, dass Mirabella glücklich wurde, auch wenn sie sich das nicht vorstellen konnte. Der Königssohn war ein Schürzenjäger. Dass er den Wohlstand des Landes nach dem Tod seines Vaters bewahren konnte, bezweifelte Katherine, dafür war er viel zu sehr an den Röcken der Mägde interessiert. War ihre Stiefschwester blind? Hatte sie sich durch seine charmante Werbung und die lächerlichen Prüfungen so arglos aufs Glatteis führen lassen?
Katherine seufzte, wie so oft, wenn sie darüber nachdachte. Es stand ihr nicht zu, Mirabella zu verurteilen. Ihr selbst hatte der Brautball die Augen über ihn geöffnet und ihre Träume von einem Platz an seiner Seite ausgelöscht. Einen Mann, der ihr unsittliche Angebote machte, während er um ihre Stiefschwester warb, wollte sie nicht.
Du wirst den Prinzen heiraten, so schön wie du bist, hallte die tägliche Litanei ihrer Mutter immer noch in ihrem Kopf wider. Aber nach seiner Hochzeit mit der falschen Tochter waren ihre Locken auf einmal zu struppig, ihre Hüften nicht schmal genug, ihre Nase ein wenig zu breit, ihr Gang nicht grazil. Dass sie nicht mehr anmutig wie eine Prinzessin daherschreiten konnte, war gewiss nicht ihre Schuld. Die längst nicht verheilte Verletzung an ihrem Fuß zwang sie zum Humpeln. Meist nur leicht, aber oft genug stieß sie gegen Wurzeln und Steine und der Schmerz jagte dann so heftig ihr Bein hinauf, dass sie ihre Beeinträchtigung kaum verbergen konnte.
Die Tage nach dem Brautball waren fürchterlich gewesen. Gerüchte hatten sich verbreitet, dass Katherine angeblich durch ihr blutiges Opfer den Königssohn für sich hatte gewinnen wollen und versagt hatte. Dass sie später auf der Hochzeit hatte die spöttischen Blicke und das höhnische Getuschel der anderen Gäste ertragen können, verdankte sie nur ihrem jahrelangen Dasein als Außenseiterin. Hochmut, der fällt, war eben spannender anzuschauen als eine Hochzeitszeremonie, deren Prunk auf Dauer ermüdete. Erst die Festtafel hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken – und die Lieder der Barden, die interessanter waren als Katherines vermeintliches Unglück.
Ihre Mutter fand sich nicht damit ab, dass es nicht ihre leibliche Tochter gewesen war, die den Königssohn für sich gewonnen hatte.
»Er war für dich bestimmt!« Jeden Tag derselbe Vorwurf.
Es war richtig gewesen, fortzugehen, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie hätte es nur schon viel früher tun sollen. Dann wäre ihr Gang vielleicht noch grazil.
Das Reh trat wieder in ihr Sichtfeld und riss sie aus ihren Gedanken. Katherine setzte sich auf und beobachtete, wie es an einigen Grasbüscheln knabberte. Ein anmutiges Tier, sanft und unschuldig, das sie bereits häufiger gesehen hatte. Mit rötlichem Fell, aber pechschwarzem Geweih. Sie schälte sich aus der Decke und erhob sich. In der Kälte konnte sie ohnehin nicht länger schlafen. Bedauernd sah sie auf die Asche der Feuerstelle, bevor sie ihre Kleidung richtete und ihre wenigen Sachen zusammenpackte. Die Decke, ein paar Münzen und Schwefelhölzer, mehr hatte sie nicht eingesteckt, zu überstürzt war sie aufgebrochen.
Mirabella hätte längst ein fröhliches Liedchen geträllert, munter wie sie morgens stets war. Ihr wäre das Feuer sicherlich nicht ausgegangen. Sie hätte gewusst, welche Vögel ihr Morgenlied zwitscherten und ob sie sich vor dem Geraschel im Unterholz fürchten sollte.
Katherine schluckte ihren Neid hinunter und schnallte sich mit einem halblauten Ächzen das Bündel auf den Rücken. Wann sie das nächste Mal an einem Feuer sitzen würde, wusste sie nicht. Der Herbst war angebrochen, die ersten Blätter verfärbten sich bereits. Holz und Laub waren feucht und ließen sich nur schwer entzünden. Dass sie es am Abend zuvor geschafft hatte, war eher Glück als Können gewesen. Noch wärmte die Sonne sie, sofern sie sich hinter den Wolken hervorwagte. Die Tage wurden kühler.
Sie musste sich eine Unterkunft suchen – und Arbeit. Irgendetwas gab es bestimmt, das sie konnte, wenn man ihr nur eine Chance gab. An einem Ort, an dem sie morgens ein Frühstück erhielt. Ihr Magen knurrte. Der Proviant war aufgebraucht und jagen konnte und wollte sie nicht. Mit etwas Glück fand sie wilde Beeren oder ein paar essbare Pilze, die sie als ungiftig erkannte. Falls sie sich irrte, würde sie sich über ihr nächstes Mahl jedenfalls keine Gedanken mehr machen müssen.
Das Reh verschwand im Unterholz und ließ sie allein zurück. Höchste Zeit, ihren Weg fortzusetzen. Humpelnd folgte sie einem schmalen Trampelpfad, der sie hoffentlich durch den Wald bis ins nächste Dorf führte.
Dass sie sich verlaufen hatte, gestand sie sich am frühen Nachmittag ein. Auf eine Siedlung oder wenigstens einen kleinen Hof wagte sie nicht mehr zu hoffen. Wenigstens konnte sie ihren Hunger durch ein paar spät gereifte Brombeeren stillen.
Der Wald wurde nicht lichter, sondern finsterer. Die Düsternis lag nicht am dichter werdenden Blätterdach und dem Fehlen von schmalen Pfaden. Vielmehr waren die Bäume dunkler geworden. Die Stämme, Äste und Zweige erschienen grau, einige fast schwarz. Den Blättern fehlte das satte Grün.
Statt undurchdringlichem Buschwerk oder zu eng beisammenstehenden Bäumen war sie bald gezwungen, Anhäufungen von Felsen und steinige Brocken zu umgehen. Obwohl sie auf dem harten Untergrund besser vorwärtskam und es eine Wohltat war, nicht mehr mit ihren durchfeuchteten Schuhen in den weichen Waldboden einzusinken, spürte sie dennoch, dass etwas nicht stimmte. Schweiß rann ihr den Rücken hinab, und doch fröstelte sie. Auch die Geräusche veränderten sich. Kein Vogelgezwitscher mehr, keine Hasen und Eichhörnchen, die im raschelnden Laub vor ihr Reißaus nahmen. Nur noch unheimliches Knacken durchbrach die Stille, wenn eine Windböe durch das Geäst fuhr oder sie versehentlich auf einen trockenen Zweig trat. Felswände ragten links und rechts ihres Weges empor. Wald und Stein wirkten wie tot. Brennnesseln und Sträucher mit schwarzen Beeren waren irgendwann die einzigen Pflanzen, die sie zwischen den Bäumen und Felsen erkennen konnte. Sie legte keinen Wert darauf, mit den Brennnesseln auf Tuchfühlung zu gehen.
Einige Jahre war es her, dass sie von einem Mädchen hörte, das Nesselhemden knüpfte, wobei ihr Unglauben darüber sie in ein Brennnesselfeld getrieben hatte. Ihre Skepsis war dank schmerzhafter Pusteln an Beinen und Armen nicht gewichen. Vielmehr war sie...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Verlagsort | Hürth |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Märchen / Sagen |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Aschenputtel • Dornröschen • he falls first • Märchenadaption • Prinz • Prinzessin • Schneewittchen • Slow Burn • Stiefmutter |
ISBN-10 | 3-95991-657-4 / 3959916574 |
ISBN-13 | 978-3-95991-657-8 / 9783959916578 |
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