Refugees Worldwide 4 (eBook)

Reportagen

Ulrich Schreiber (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4409-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Refugees Worldwide 4 -
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Wie die Anfang 2024 publizierte ?Correctiv?-Recherche unterstrich, werden die polarisierten Debatten zum Thema Migration immer vehementer. Umso wichtiger ist es, mit Geflüchteten in den Dialog zu treten und von ihren Geschichten zu erfahren. Angesichts der Zunahme von politischen Verwerfungen und Extremwetterereignissen ist Flucht allgegenwärtig. Die Anthologie der Reihe Refugees Worldwide versammelt neue Reportagen zum Thema Migration. Zwölf Autorinnen und Autoren bereisten verschiedene Regionen, begegneten Betroffenen und notierten, was sie erfuhren. Ob von der Ukraine, von Russland oder Belarus nach Deutschland und Westeuropa, von den Philippinen nach Malaysia, von Äthiopien nach Uganda oder von Guatemala in die USA - die Geschichten der Geflüchteten lassen den Zustand vieler Länder zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufscheinen. Ein universeller Wunsch zieht sich durch alle Reportagen: der Wunsch der Geflüchteten, in Sicherheit zu leben.

Ulrich Schreiber, 1951 in Solingen geboren, gründete 1993 die Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e. V., 2023 den Bebelplatz e.V. Von 2001 bis 2023 leitete er das von ihm entwickelte internationale literaturfestival berlin sowie bis heute das internationale Literaturfestival Odessa mit Hans Ruprecht. Zudem organisiert er weltweite Lesungen und Screenings. 2009 rief er den Literaturfestivalverband ?Word Alliance? ins Leben. Er wurde 2015 zum ?Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres? ernannt.

Ulrich Schreiber, 1951 in Solingen geboren, gründete 1993 die Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e. V., 2023 den Bebelplatz e.V. Von 2001 bis 2023 leitete er das von ihm entwickelte internationale literaturfestival berlin sowie bis heute das internationale Literaturfestival Odessa mit Hans Ruprecht. Zudem organisiert er weltweite Lesungen und Screenings. 2009 rief er den Literaturfestivalverband ›Word Alliance‹ ins Leben. Er wurde 2015 zum ›Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres‹ ernannt.

Leben in der Vorhölle


Daryll Delgado

Aus dem Englischen von Thomas Brückner

Es ist alles so willkürlich. Andauernd ändern sie die Regeln. Dadurch wird man so angreifbar. Manchmal werde ich richtig wütend. Die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf das tägliche Leben scheinen sie nicht zu kümmern. Sie liefern nicht einmal Erklärungen. Sie weisen dich einfach ab oder lassen dich warten, solange sie wollen. Die Leute sind für sie keine menschlichen Wesen … Manchmal kann ich gar nicht glauben, was ihnen über die Lippen kommt, wenn sie über Menschen reden wie über Verbrecher, als würden sie ihnen etwas wegnehmen wollen, nur weil sie, einer Formalität wegen, irgendwelche Dokumente nicht besitzen. Sie sagen Sachen wie: »Wir müssen unser Land beschützen, es gehört uns, es ist nicht für die gemacht …« Was meinen sie damit? Wir leben und arbeiten hier, viele wurden hier geboren. Ich kam hier auf die Welt. Migranten leisten ihren Beitrag zur Wirtschaft, übernehmen die Arbeiten, die andere nicht machen wollen. Malaysia braucht Menschen. Sie aber wollen es homogen halten, rein. Sie haben derart altmodische Vorstellungen von Nationalität. Ich bin überzeugt, dass sie wissen, dass es so nicht geht, sie sind nicht dumm, auch wenn sie hauptsächlich daran interessiert sind, welchen Eindruck sie während des Wahlkampfs hinterlassen. Sie sind nicht dumm. Es fehlt ihnen einfach –  ein Herz …

(Ema, 24, Jurastudium, NGO-Mitarbeiterin, staatenlos)

Als das Flugzeug auf dem Internationalen Flughafen Kota Kinabalu (KK), der Hauptstadt des Bundesstaates Sabah1 in Ost-Malaysia landet, ist gerade der Nachmittag angebrochen. Beim Blick aus dem Fenster präsentiert das Meer ein kräftiges Blau, der Himmel ist wolkenlos und die Sonne scheint für einen Tag im Februar außergewöhnlich stark. Ein perfekter Tag für Sabahs Weltklassestrand, zum Tauchen und für Wanderziele. Fast vergisst du, weshalb du hier bist.

In der Ankunftshalle siehst du, dass auch Malaysier durch die Passkontrolle müssen –  Erinnerung an die komplizierte Beziehung zwischen Ost-Malaysia und dem Sabah-Staat, der Halbinsel oder West-Malaysia. Du denkst an Ema und Tausende andere, die sind wie sie, geboren und aufgewachsen in KK, malaysisch bis in die Haarspitzen, aber staatenlos und ohne Papiere aufgrund irgendwelcher Formalitäten –  die Mutter eine nicht erfasste Filipina, nicht amtlich mit ihrem malaysischen Vater verheiratet. Du fragst dich, wie sie durch die Passkontrollen kommen und über so viele andere Hürden hinweg, wie sie sich jedes Mal fühlen, wenn ihre Identität angezweifelt wird. Wohingegen du, Touristin aus dem Ausland, problemlos durch die Kontrolle kommst.

Auf der Fahrt ins Stadtzentrum siehst du, dass entlang der Uferzone, an der es früher nur wenige einheimische Restaurants und Bars gab, dafür aber viel freies Gelände, inzwischen schlohweiße Hotels internationaler Ketten stehen, schicke, hochragende Gebäude mit Eigentumswohnungen und Einkaufszentren, deren Auslagen globale Marken und Waren anpreisen, wie man sie in Großstädten auf der ganzen Welt findet. Nichts an diesen Gebäuden weist darauf hin, dass man sich in Sabah befindet. Sie versperren den Blick auf die Bucht und das leuchtende, warme Farbgewitter des Sonnenuntergangs von Kota Kinabalu, für das dieser Ort so berühmt ist. Die neuen Gebäude werfen lange, dunkle Schatten auf die Stadt. Durchaus symbolträchtig, denkst du, angesichts der zwiespältigen, schizophrenen Haltung des Staates gegenüber Ausländern und Nicht-Einheimischen, von denen einige mit großzügiger Aufmerksamkeit bedacht, andere an den Rand gedrängt und vor den Blicken verborgen werden.

Von deinem Hotel, ein Stück weit von der Uferzone entfernt, siehst du erleichtert die üppig baumbestandenen Hügel, hast einen guten Blick auf die Altstadt und, wenn du nicht so kurzsichtig wärst, auch auf den ikonischen Mount Kinabalu. Zwei Frauen, die Englisch mit deutlichem, fast schon zu deutlichem, malaysischen Akzent sprechen, stehen dir an der Rezeption hilf- und kenntnisreich zur Seite. Du hast den starken Verdacht, dass sie Filipinas sind, aber du fragst nicht nach. Es ist tabu, jemanden als Ausländer oder Migranten zu entlarven, besonders da es sie in eine schwierige Lage bringen könnte.

Du denkst an die Kellnerin im Restaurant in Kuala Lumpur, in dem du gestern das Treffen mit einigen NGO-Mitarbeitern hattest. Sie hatte dich immer wieder angesehen, und deshalb hast du beim Verlassen des Besprechungszimmers Salamat (Danke) in deiner Sprache gesagt. Sofort strahlte sie und stellte sich leise als eine Landsfrau –  kababayan vor. Ihr Gesicht war teilweise hinter einem modischen Pony verborgen, aber du konntest trotzdem ihr schönes Gesicht erkennen, das eher wie das einer Jugendlichen aussah als das einer Collegeabsolventin. Sie sprach und gestikulierte auf eigentümlich arrogante Weise und in ihren Augen lag eine gewisse Ängstlichkeit und Erschöpfung. Walang tulog, kein Schlaf, erklärte sie lächelnd.

Sie fragte, wo du in KL wohnst, und du erklärtest, dass du nur für einen Tag in der Stadt seist, bevor du nach KK und anschließend nach Manila weiterreisen würdest. Überrascht riss sie die Augen auf. Wow, sana all, klagte sie im Scherz, wörtlich: »Wünschte, das könnten alle«, dass alle einfach so zu Besuch nach Malaysia reisen könnten und dann nach Belieben wieder zurück nach Hause auf die Philippinen. Sie war kurz vor Ausbruch der Pandemie nach Kuala Lumpur gekommen. Nachdem sie ihren Abschluss in Personalmanagement gemacht hatte, tat sich die Möglichkeit auf, in Malaysia zu arbeiten. Auf Ratschlag desjenigen, der ihre Reise organisierte und sich um Anstellung und Unterbringung kümmern sollte, reiste sie als Touristin nach Kuala Lumpur. Dann aber brach die Person den Kontakt zu ihr ab. Ich bin geghostet worden, erzählte sie und lachte höhnisch. Sie war nicht sicher, ob man sie absichtlich links liegen gelassen und aufgegeben hatte, oder beispielsweise Covid-19 erlegen war. Er versprach, mir zu helfen, sagte, er hätte Verbindungen … Ich habe jemandem auf den Philippinen, der mit ihm vernetzt war, viel Geld gezahlt. Auch zu ihm konnte ich keinen Kontakt mehr herstellen. Keine Ahnung, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. … Mein Pass ist abgelaufen, ich habe immer noch keinen richtigen Arbeitgeber. Während der Pandemie war es besonders schwierig. Keine Papiere, kein Geld, Angst um die Familie in Manila. Konnte nicht rausgehen. Gut, dass ich Freunde gefunden habe, die mir diesen Job vermittelt habben. Wenigstens bin ich nicht eingesperrt und abgeschoben worden. Suerte par in. Ich habe vergleichsweise immer noch Glück gehabt, beschreibt sie ihre Lage.

Du fragst, warum sie nicht einfach wieder zurück nach Hause gefahren ist, jetzt nach der Pandemie, wo die Grenzen wieder offen sind. Sie schüttelt vehement den Kopf, die Ponysträhnen flattern über ihre Stirn. Nein, nein, das geht nicht. Ich muss Geld sparen, um mir einen neuen Pass zu besorgen. Mir hilft jemand, meine Papiere in Ordnung zu bringen. Hab schon eine Anzahlung gemacht. Er meinte, es fehlten nur noch 800 Ringgit2. Die kann ich in zwei Monaten aufbringen, denk ich. Dann muss ich zu Hause Schulden abzahlen, und bei einigen hier, und noch mal sparen für den Flug. … Matagal-tagal pa, bago makauwi. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich nach Hause kann, seufzt sie. Und dann fragt sie verlegen: Vielleicht, ähhm, weißt du von anderen Jobs, irgendeiner bezahlten Arbeit, für die du mich empfehlen kannst? Entschuldigung heischend sage ich, dass ich nichts von Jobs wüsste, und dränge sie erneut, in der Botschaft Hilfe zu erfragen. Aber sie sagt: Nein, nein, die schieben mich nur ab. Es geht mir einigermaßen, ich muss nur vorsichtig sein, keinen Verdacht erregen. Ich habe Freunde, die das vor mir probiert haben, versichert sie. Bevor du gehst, steckst du ihr etwas Geld zu, und sie umarmt dich fest.

Aus Unterredungen mit NGOs erfährst du, dass es in Kuala Lumpur eine wachsende Zahl philippinischer Migranten gibt, die nicht nur in Fabriken und auf Plantagen arbeiten, sondern auch im Dienstleistungs- und Pflegebereich. Vermutlich werden Filipinos bevorzugt wegen ihrer Englischkenntnisse. Gewöhnlich werden sie über Schulprogramme oder Praktika ins Land gebracht, arbeiten dann aber für Löhne unterhalb des Minimums in Hotels und Bars inklusive monatlicher Abzüge für die Rekrutierungskosten, zusätzlich zu den Gebühren, die bereits von der Schule erhoben wurden. Man nimmt ihnen die Pässe ab, und sie hausen in überfüllten Räumen, die von ihren Arbeitsvermittlern streng überwacht werden, um sie an der Flucht zu hindern.

*

Ich hatte eine glückliche Kindheit, ein normales Mittelklasse-Zuhause. Ich hatte viele Freundinnen, ging gern zur Schule. Ich vermute, unsere Eltern schirmten uns vor der Wirklichkeit ab, aber vielleicht wussten sie auch selbst nicht, wie schwierig die Lage war. Sie waren irgendwie Freigeister. Dad begegnete Mom in Tawau. Sie arbeitete damals in einem Restaurant oder einem Club, und Dad war in Malaysia auf Geschäftsreise. Vermutlich war es die Persönlichkeit meiner Mom, ihre Vitalität und die Fähigkeit, mit jedem ins Gespräch zu kommen, die meinen Dad zu ihr hinzogen. Sie verfügte nur über wenig formale Bildung, aber sie beherrschte Malay, Chinesisch, Englisch und Filippino, dazu noch ihre Muttersprache. Und sie war mutig. Auch Dad war kein typischer China-Malaysier, eher so eine Art Hippie. Sie verliebten sich, gründeten eine Familie, zogen uns Kinder groß. Als ich zwölf war und mein jüngster Bruder noch sehr klein,...

Erscheint lt. Verlag 19.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • Flucht • Geflüchtete • Heimat • international • Migration • Refugees • Reportagen • Sammelband • Sans Papiers • Vertreibung
ISBN-10 3-8031-4409-4 / 3803144094
ISBN-13 978-3-8031-4409-6 / 9783803144096
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