Vaterländer (eBook)
320 Seiten
Gutkind Verlag
978-3-98941-001-5 (ISBN)
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 47/2024) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 46/2024) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 45/2024) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 44/2024) — Platz 13
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 43/2024) — Platz 9
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 42/2024) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 41/2024) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 39/2024) — Platz 10
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 38/2024) — Platz 13
Sabin Tambrea, geboren in Târgu Mure? in Rumänien, ist einer der bekanntesten deutschen Theater- und Filmschauspieler. Er spielte unter anderem in der Ku'Damm-Serie, Babylon Berlin, Narziss und Goldmund, In einem Land, das es nicht mehr gibt und Deutsches Haus mit. Für seine schauspielerische Leistung wurde er vielfach ausgezeichnet. Aktuell ist er als Franz Kafka in Die Herrlichkeit des Lebens im Kino zu sehen, Ende 2024 erscheint die Fitzek-Verfilmung Heimweg auf Amazon Prime. Zurzeit arbeitet er an der Verfilmung seines Debütromans Nachtleben als Regisseur und Hauptdarsteller, der 2021 bei Atlantik erschien und auf der Spiegel-Bestsellerliste vertreten war.
I.
Von Zeit zu Zeit glich das Muster einem Notensystem, doch weder geradlinig wie auf Papier noch ausgefüllt von den Noten einer Melodie, sondern verstummt und losgelöst von der uns fremd gewordenen Realität des 19. März 1987. Im letzten Anlauf vor dem Ziel war es bloß eine freie Einheit zweier Striche, die vor der grauen Wolkendecke zuckte, mal mehr, mal weniger weit voneinander entfernt, an vorbeiziehenden Masten befestigt, dazwischen durchhängend, aufeinander zuspringend, aus dem Blick verschwindend und wiederauftauchend. Der flirrenden Bewegung stand ein Klang entgegen, der sich unter dem Zug entlangzog, ein Herzschlag hämmernden Metalls; Räder auf den Schwellen alter Gleise, sich an kein erkennbares Taktmaß haltend, agogisch, atmend, frei. Die Linien beruhigten sich, je langsamer der Zug durch die Landschaft fuhr, nun vermehrten sie sich wieder, beschleunigten ihre Bewegung dem Finale unserer Fahrt entgegen.
Für einen kurzen Moment drang die Sonne durch einen Wolkenriss hinter dem Kabelspiel hindurch. Ich griff nach Mamas Hand, um ihr den Wärmestrahl zu zeigen, doch sie schaute weiter unbewegt ins Leere. Meine Schwester zuppelte mir die Mütze über die Ohren und ruckelte mich zurecht, als ich in meinem gefütterten Latzmann halb von unseren Koffern zu rutschen drohte, die sie zuvor aus unserem Abteil vor die Ausstiegstür geschoben hatte.
»Nuku, imediat ajungem, totul e bine!«, sprach Ai in mütterlichem Ton, dass wir gleich ankämen und alles gut sei, eine Rolle erfüllend, um die sie nicht gebeten hatte, wuchs über die Reife eines achtjährigen Kindes viel zu früh, viel zu weit hinaus. »Sabinuku« hatte sie mich instinktiv getauft, als sie mich nach meiner Geburt zum ersten Mal gesehen hatte, die erfundene Endung an meinen Namen drangehängt und den Hauptteil fortan weggelassen. Seitdem blieb es einfach so.
Der Sonnenstrahl verschwand, von Mama ungesehen. Regentropfen begannen nun, seitwärts an der Scheibe entlangzurennen. Ai wandte sich zu Mama, berührte ihre Hand.
»Imediat coborâm«, sagte sie, gleich steigen wir aus. Bonn hatten wir vor mehreren Minuten verlassen, ein Schaffner lief vorbei, bemerkte unser Gepäck, hielt inne und kam zurück.
»Köln?«, fragte er Mama, Ai antwortete, »Ja, Hilfe, bitte.«
Ich versuchte, mich für eine der Stromleitungen zu entscheiden, doch jede einzelne entwischte meinem Blick. Es war nicht zu erahnen, wohin ihr Weg als Nächstes führen würde, noch dazu verwirrten Regenlinsen meine Sicht. Eine riesige Stahldachkonstruktion schob sich vor das Fenster, Bremsen heulten auf, die Tropfen auf der Scheibe nahmen eine Kurve Richtung Boden, reflektierten hundertfach eine Leuchtreklame vom Seitendach des Bahnhofs in Gelb und Blau – der Zug kam mit schwerem Ruck zum Stehen. Die Tür öffnete sich.
Unbekannte, kühle Luft fasste mir ins Gesicht und rann in meine Lunge, Ai griff um meine Brust, hob mich hinunter, der Boden neuen Zuhauses berührte meine Sohlen. Die strahlende Reklame erfasste meine ganze Aufmerksamkeit, die gelbe Zahl 4711 schien schräg aus einem verschnörkelten Kreis, darunter blaue Buchstaben: Das »O« hatte zwei Punkte als Ohren, es erinnerte mich an die Maus aus dem Comicheft, das Tata uns zugeschickt hatte.
Derweil war auch Mama ausgestiegen und betrachtete einen ungepflegten, langhaarigen Mann in engen Lederhosen, der von uns abgewandt am Bahnsteig rauchte. Er bemerkte uns erst, als Ai ungelenk das Gepäck vom Schaffner anzunehmen versuchte, während Mama bloß dastand, eingefroren, mit zwei schweren Koffern, die ihr langsam aus den Fingern glitten und zu Boden stürzten. Der fremde Mann schnipste seine Zigarette fort und eilte Ai zur Hilfe, während Mama ihn nun aus der Nähe betrachten konnte.
War das Béla? Konnte er sich in zwei Jahren tatsächlich so verändert haben? Konnte ihn der Kummer der letzten beiden Jahre, der Entriss von der Familie und die Zeit in Einsamkeit auf solche Art entfremden? Dieser Mann hatte nichts mehr mit dem Jungen gemein, in den sie sich verliebt hatte. Die feinen Züge seines Gesichts waren verhärmt, sie versuchte angestrengt, ihr Bild aus der Erinnerung in diesem Mann wiederzuerkennen, und fast gelang es ihr, wie wenn man in die Sonne schaut und dann woanders hin, als sähe man das eingebrannte Echobild im neuen Blick, so auch auf dem Gesicht des Fremden. Mama sprach ihn kraftlos an, doch ehe sie »Béla?« ausgesprochen hatte, rief Ai: »Tata! Da hinten ist er ja!«
Unser Tata rannte vom anderen Ende des Bahnsteigs auf uns zu, mit zwei Blumensträußen in der Hand, die viel zu groß waren, um sie allein zu tragen. Ai sprang ihn nach langem Anlauf an und ließ ihn nicht mehr los. Langsam lief er mit dem festgeklammerten und von Blüten eingerahmten Äffchen um den Hals auf Mama zu, die noch immer unbewegt neben den umgefallenen Koffern stand. Ai löste einen Arm und legte ihn um sie, zu dritt umarmten sie sich lange. Ich stand daneben, betrachtete sehr ernst den Mann, der mir zwar bekannt vorkommen sollte und es ganz entfernt auch tat, doch irgendwie auch nicht. Nach einer Weile löste sich die Einheit.
»Nuku, erkennst du denn Tata nicht?«, fragte Ai lachend. Ich schaute weiter skeptisch, sprach mit tiefster Stimme: »Ta-Ta.« Er hob mich hoch, meine Nase streifte seinen Hals. Doch! Etwas fast Vergessenes kam mir plötzlich sehr vertraut vor, und mit dem nächsten Atemzug wurde mir ganz warm ums Herz.
Die Rückbank des Autos war auch ohne unser Gepäck bereits vollbepackt. Tata hatte selbstgeschmierte Sandwiches vorbereitet, viel mehr, als wir zu viert in einer ganzen Woche hätten essen können, dazu Bonbons, Kekse, drei Limoflaschen von eineinhalb Litern – rot, gelb und klar, dafür aber mit einem leuchtend grünen Etikett – alles Köstlichkeiten, die es zuhause nicht gab. Während Mama und Tata im Regen versuchten, den Rest von unserem Leben im Kofferraum zu verstauen, konnte ich mich der Anziehungskraft der gelben Limonadenflasche nicht erwehren. Ai half mir beim Öffnen und Anheben, ich trank viel zu viele, viel zu große Schlucke. Als Nächstes war die bunte Schokoladentüte dran. Zwar schmeckte es unfassbar gut, doch es klebte stark am Gaumen und musste schnell mit weiteren Pritzelschlucken heruntergespült werden. Wir wurden eng angeschnallt, die Blumensträuße hinter unsere Kopfstützen gequetscht, Mama und Tata stiegen ein. Mein Bauch blubberte sehr stark, doch zumindest war die Müdigkeit wie ausgelöscht. Der Dom wurde uns gezeigt, eine Brücke über einem breiten Fluss, dann folgte eine sehr runde Autobahnauffahrt, bei stark anziehender Geschwindigkeit.
Ein Laut drang plötzlich durch den ganzen Innenraum des Wagens, konturlos und doch splitternd, gefolgt von Mamas bitterlichem Weinen. Die Geigen hätten sie ihr abgenommen, an der Grenze. Auch die Gemälde, die ihr so bedeutsam waren. Wir hätten eine Genehmigung zur Überführung gehabt, doch das war ihnen gänzlich egal. Bumami und Horea seien aus dem Zug geprügelt worden, nicht einmal eine Umarmung hatten sie uns zum Abschied von den Großeltern zugestanden, Bestien!
Es folgten Schimpfworte, wie wir sie noch nie von Mama gehört hatten, brutalste Messerwortauswüchse drosch sie gemeinsam mit den Fäusten gegen die Armatur, Tata riss das Lenkrad herum, brachte den Wagen mit schwerem Ruck auf dem Seitenstreifen zum Stehen, der Gurt krallte sich in meinen Magen. Tata betrachtete hilflos und sehr lange ihren Schmerz, der auch der seine war, doch den zu empfinden er sich verboten hatte, um in der Fremde nicht verrückt zu werden. Er fasste nach ihren Händen, drückte sie beruhigend an den Körper, umarmte sie, so eng er konnte, bis schließlich beide im gleichen Rhythmus zuckten und dabei fürchterliche Laute von sich gaben. Ai war blass, sie schaute starr auf die Kopfstütze vor sich, dann legte sie ihre Hand auf meinen Kopf. Die Berührung rannte gleich einer Ameisenstraße meinen Nacken hinunter, die Wirbelsäule entlang bis in den Magen. Ein Strahl süßester Geschenke schoss mir sauer geworden aus dem Gesicht, quer durch den ganzen Innenraum des Wagens.
»Nuku, am ajuns!«, weckte Ai mich, wir waren angekommen. Mein Blick fiel auf Bäume. Wir standen auf einem Wendeparkplatz mit abschließendem kleinen Wald, am Ende einer gebogenen Straße, von der von Gärten abgetrennte Wohnblocks abgingen. Das Gepäck stand bereits neben dem Auto auf der glänzenden Straße, der Regen hatte aufgehört. Tata deutete auf das letzte Haus mit einer schwarzen Fünf an der Seite, hielt uns die andere Hand hin und spreizte die Finger.
»Glatzer Straße 5, in 4370 Marl!«
Welche Sprache kam da aus Tatas Mund? Eine ruppige Aneinanderreihung von Buchstaben mit unerwarteten Lautfolgen, ganz und gar unverständlich, auch wenn es ganz entfernt rumänisch klang, denn er rollte das »R«.
»Ihr müsst euch diese Adresse gut merken, dies ist ab jetzt unser Zuhause!«
Das Gepäck schafften wir mit einem Mal in den vierten Stock, Tata schloss die Tür auf. Dahinter ein Flur mit braun-grün geblümter Tapete, links eine Kammer, daneben eine kleine Gästetoilette. Ai konnte nicht fassen, wie warm es in der Wohnung war, staunend zog sie sich und mir die Mützen aus, und wir rannten wie zwei verwirrte Lämmer durch die Tür ins Wohnzimmer.
Ein Küchentisch, vier Holzstühle mit Lehnenkanten auf gefährlicher Höhe um einen Esstisch, im gleichen Raum zwei Holzsofas mit eingesteppten Schwungmustern, ein Fernseher, ein Glastisch, auf den Tata eine Fotokamera stellte, uns zusammenrief, um die erste gemeinsame Erinnerung nach dem Wiedersehen festzuhalten, und den Knopf für das verzögerte Auslösen betätigte. Und noch einmal, zur Sicherheit. Ein weiterer kleiner Flur ging vom Wohnzimmer ab zum Badezimmer, links daneben das...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98941-001-6 / 3989410016 |
ISBN-13 | 978-3-98941-001-5 / 9783989410015 |
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