Kuhlen, Kohlen und Geklimper (eBook)

Puff & Poggel ermitteln
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
203 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-8103-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kuhlen, Kohlen und Geklimper -  Monika Detering,  Horst-Dieter Radke
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'Und für die Nachtclubsängerin habe ich mir die Dietrich geholt', sagt Billy Wilder. 'Wen? Marlene Dietrich?', staunte Alfred. 'Die spielt mit?' Ganz sicher. Und da staunt nicht nur Alfred Poggel. Es ist die Zeit aufkeimender Träume und gewiefter Verbrecher. In 17 Kriminalerzählungen beschreiben die Autoren Monika Detering und Horst-Dieter Radke, wie wie es gewesen sein könnte im Ruhrpott der 1950er Jahre, aber auch an der Nordseeküste, im zerbombten Berlin und im Rheinland.

Monika Detering war eine international tätige Puppenkünstlerin und Journalistin, und arbeitet seit 1996 als Schriftstellerin. Sie schreibt Kriminalromane und Gesellschaftsromane, Kurzgeschichten, Sachbücher wie Sagen und Legenden, arbeitet im Team mit Horst-Dieter Radke, Silke Porath und Jutta Mülich?. Einige von Deterings Kurzgeschichten wurden ausgezeichnet. Sie ist Mitglied bei den 42erAutoren.

Horst-Dieter Radke, Jahrgang 1953, geboren in Hamm/Westfalen. Wirtschaft sinformatiker, Studium der Betriebspädagogik an der Universität Koblenz-Landau. Lebt seit 1982 im Taubertal mit der Familie. Über seine Wahlheimat hat er mehrere Bücher veröffentlicht, Wanderführer, darüber hinaus Krimis, Novellen, auch Lyrik in diversen Periodika. Mit der Bielefelder Kollegin Monika Detering schreibt er Krimis, die in den 1950er Jahren spielen und Inselromane. Er ist Mitglied bei der Schrift stellervereinigung 42er Autoren e.V., sowie beim SYNDIKAT, der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren.

Anna, Ruinen und der Junge im
Matrosenanzug

1947

Sie bückte sich. Das musste sie, trotz ihrer knappen einsachtundfünfzig. Der Eingang zur Ruinenbehausung in der Mülheimer Altstadt war besonders niedrig. Denn über der Tür hatten die Wehners sich eine Art »Zwischenstock« gebaut und jeden Tag dachte Anna, Gottogott, hoffentlich kommt das ganze Gedöns nicht runter, wie kann das bloß halten.

Aber es hielt. Die Wehnerschen Hölzer machten eben nur um einen Kopf kürzer. Sozusagen. Genau wie viele andere hatten auch sie Linden abgeholzt, der eisige Winter hatte zu Dingen gezwungen, an die Anna an diesem Sonntag in April 1947 nicht denken mochte, die sie am liebsten vergessen hätte. Aber man vergaß nicht so leicht.

Dieser Raum, den sie im letzten Herbst gefunden hatte, besaß sogar ein Fenster mit Glas. Auch wenn das Licht sich einen Weg suchen musste, um in diese ehemalige Souterrain-Wohnung zu gelangen. Aber das Zimmer war inzwischen nach dem grausamen Winter eisfrei – ebenso wie die Wände. Wenn sie auch noch sehr kalt waren, aber der Frost zog heraus. Muss man ja froh sein, dachte sie und ging die vier bröckelnden Stufen hoch ins Freie. In den Hof. Luft! Licht! Denn ihre »Wohnung« war dämmrig und still.

Wenn nur der Hunger nicht wäre. Heute früh gab es mit Sägemehl gestrecktes Graubrot und Brennnesseltee. Das musste sich ändern. Besaß sie doch kostbare Schätze. Jene aus Hamburg. Zwei Ringe, eine Kette, eine Uhr und das Bild mit dem Jungen im Matrosenanzug. Und andere Kleinigkeiten. Hamburg. Ach ja, seufzte sie … Hamburg …

***

Anna blickte über den Hinterhof. Löwenzahn hatte sich durch Schutt und Steine gequält und leuchtete. Niemand war zu sehen. Waren alle unterwegs, wahrscheinlich auf dem Schwarzmarkt.

Muss ich auch, unbedingt. Mit den Lebensmittelkarten reicht es nie. Und die Arbeit als Kontoristin bringt auch nicht viel Lohn. 47 Reichsmark die Woche. Aber ein Pfund Zucker kostete, wenn die Lebensmittelkarte für den Monat aufgebraucht war, 80 Reichsmark. Und meine ist aufgebraucht, das meiste gab’s ja überhaupt nicht. Was nützt einem dann so eine graue Karte? Vielleicht treffe ich da den Langen, diesen Heinz. Der hat mir letztens was zugesteckt. Ein bisschen Kaffee, gestreckt natürlich, aber immerhin, einfach so. Angeplinkert hat er mich. Wer macht denn so was in diesen Zeiten. Ob er eine Wolldecke hat? Im Tausch gegen das Brillengestell aus Horn? Ich hab noch eins aus Hamburg.

Die Sonne schien an diesem Vormittag, wärmte den Kopf und den Rücken, während Annas Füße elendig kalt waren, noch steckte der Frost im Boden.

Ob’s in Hamburg jetzt besser ist? Anna Puff dachte wieder an die Stadt an der Elbe und an jene irrwitzige Zeit.

***

'43 wurde sie in Mülheim ausgebombt, damals wohnten sie am Kirchenhügel. Und anstatt dass Hugo, ihr Mann, während des Angriffs ins nächste Haus mit dem größeren und stabileren Keller gerannt war, was Anna instinktiv getan hatte – war er geblieben. Urlaub hatte er gehabt. Urlaub. Und dann traf diese Bombe das Haus während jenes verheerenden Angriffs in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943. 530 Menschen verloren in Mülheim ihr Leben. Einer von ihnen war Hugo Puff.

Wenige Tage nach dem Angriff packte sie ihre Habseligkeiten in einen großen Stoffrucksack, den sie im Schutt gefunden hatte. Welch ein Glück! Wer wusste nach solch einer Nacht schon, wem was gehörte? Ihre Wohnung gab es nicht mehr. Das Haus war nur noch eine geschwärzte Wand, Rohre zitterten anklagend im Wind, Tapeten erzählten von der Vergangenheit und ein Kronleuchter baumelte an einem Stück Decke. Starr und versteinert ging sie in Richtung Bahnhof und stieg in einen der Züge. Sogar einen Sitzplatz ergatterte sie. Aber nur, weil der Zug erst Stunden später abfuhr. Müdigkeit war wie eine ansteckende Krankheit in ihre Knochen gekrochen, und saß in jeder Zelle. Sie schlief sofort ein und wurde irgendwann durch einen unangenehmen Geruch wach. Vor und neben ihr drängten sich Menschen, dünsteten Schmutz, Schweiß und Angst aus. Dann hieß es, alle aussteigen. Auf freier Strecke mussten sie warten. Anna war es so egal gewesen, wo sie landen würde, es war ja alles verloren, Hunger und Angst hatte sie, außerdem die paar Sachen in dem Rucksack, sogar feste Schuhe und ihren Wintermantel, in dem es an jenem Junitag viel zu warm wurde, aber es war ein gutes Vorkriegsstück und sah nicht ärmlich aus.

Nach endlosem Halten und wieder Anfahren, dem Ruf des Lokführers: »Kohle ist alle, warte auf Nachschub«, der dann irgendwie herangeschafft wurde, hielt der Zug endgültig in Hamburg. Aussteigen galt für alle. Und hier sah es sehr viel düsterer, trostloser und dunkler als in Mülheim aus. Kein Wunder, hier fielen doch mindestens so viele Bomben wie im Ruhrgebiet.

Anna war schlank, fast mager, wie so viele in diesen Jahren. In ihrem Kopf drehte es sich. Der Magen krampfte sich zusammen und signalisierte Übelkeit. Sie schwitzte und der Rucksack wurde schwer. Sie fragte vorm Hauptbahnhof, wo sie Arbeit, ein Zimmer und was zu essen bekommen könnte. Antwort bekam sie keine. Die Leute hasteten vorbei. Als sie weitergehen wollte, kippte sie um, noch ehe sie überhaupt etwas von der Stadt gesehen hatte. Sie wusste noch genau, wie die helle, zwitschernde Stimme sich angehört hatte.

»Konstantin, heb sie mit auf, wir bringen sie in den Wagen. Kann nicht so liegen bleiben«, und die Stimme setzte ein leichtes Lachen hinterher.

So kam sie nach Blankenese, in die Villa der Sängerin Friederike Meerwald. Ein Haus, dessen einstiger Glanz verloren gegangen war, in dem seit 1943 unendlich viele Leute wohnten. Die Bauchtänzerin, der Drucker, ein Maler samt Gefährtin und viele mehr. Friederike, die Elegante, bot Anna Arbeit als Kindermädchen für den siebenjährigen Albert und die sechsjährige Ingrid an. Anna bekam ein Zimmer, ein kleines, aber für sich allein. Es waren das Chaos des Krieges, das Chaos der Verlorenheit und der gierige Hunger nach Leben, die sie alle zusammenhielten. Friederike war oft unterwegs, sang vor den Truppen und brachte, wenn sie wieder zurück war, unglaubliche Schätze wie Kaffee, Butter, Zigaretten und Süßes für die Kinder mit. Deutsche Offiziere gingen bei ihr ein und aus. Es wurde bis in die Morgenstunden gefeiert, getrunken, gelacht, während Anna die Kinder immer wieder in den Schlaf sang.

Aber dann kam der Tag, an dem die Kinder nach Süddeutschland mussten. Man nannte das »Kinderlandverschickung«. Friederike Meerwald war erleichtert darüber, denn in Hamburg war niemand mehr sicher. Wenn auch die Viertel wie Blankenese weitgehend verschont blieben. Aber das konnte niemand vorher wissen.

Als Friederike die Nachricht erhielt, dass ihr Mann gefallen war, verschwand sie. Aber - Annas Lohn stand seit zwei Jahren aus. Deshalb, nur deshalb bediente sie sich. Rechnete nach, was das eine oder andere Stück wert war. Besonders auf dem Schwarzmarkt. Alle im Haus bedienten sich. Möbel, Teppiche, Bücher und anderes verschwanden, gingen unter im Nirgendwo. Weil Anna die Kinder vermisste, nahm sie auch das Portrait des kleinen Jungen mit, Albert in der dunkelblauen Matrosenuniform. Zur Erinnerung. Zum Aufbewahren. Vielleicht kann ich es ihm einmal wiedergeben, hieß ihre Entschuldigung. Wenn die Zeiten besser geworden sind. Wenn Friederike die Kinder zurückholt. Wenn.

Anna ging. Schlug sich durch nach Mülheim. Die Stadt hatte sie immer als ihre Heimat angesehen, obwohl sie dort nicht geboren war und auch ihre Kindheit in einer anderen Gegend verbracht hatte.

Anfang ’46 hatte sie Glück, traf auf eine ehemalige Kollegin, die ihr vorübergehend einen Schlafplatz in ihrer winzigen Wohnung anbot. So lange, bis deren Mann zurückkam. Danach wurde es schwierig. In Mülheim gab es keine freien Wohnungen. Deshalb schätzte sie sich fast glücklich, als sie diesen Raum in dieser Ruine fand und besetzen konnte. Niemand war da, der darauf Anspruch erhob. Das war vor dem Wintereinbruch gewesen. Dass dieser so entsetzlich, so grausam werden würde …

Glück hieß auch, dass sie auf der Hütte - im Büro - Arbeit bekam. Abends suchte sie in den Trümmern nach Brauchbarem. Ein Bettgestell, Holz … manches fand sich. Kleidung und Schuhe tauschte sie gegen Friederikes Ring.

Und jetzt saß sie im Hinterhof »ihrer« Ruine und genoss die Wärme der Sonne.

Hunger, giftete es in ihr. Also schob sich Anna zurück in ihre winzige Behausung, steckte einiges zum Tauschen ein, dachte für einen Moment an das Bild mit dem kleinen Jungen, das verpackt, in einem gefundenen Koffer unter ihrem Bett lag. Das bleibt, entschied sie einmal wieder, ich werd’s dem Albert zurückgeben.

***

Sie machte sich auf den Weg ins Schwarzmarktgebiet. Flüstern, Tuscheln, schnelles Auf- und Zuschlagen von Mänteln oder Jacken, Anna murmelte »Butter, Kaffee und Wurst«, zeigte kurz eine Kette hinterher. »Echt Gold, mit Brilli.«

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Kontrolle? Alles hinwerfen? Nie im Leben. Da musste sie sich anders draus retten. Empört drehte sie sich um. Wollte lauthals schimpfen, so etwas wirkte manchmal.

»Frau Puff, kommen Se mal mit mir, lassen Se den Mantel zu, gehn Se mal vor bis zum Ende der Straße …«

Ach. Dieser Heinz, der Lennewegs. Dürrer Schlacks. Immer nett. Immer hilfsbereit. Muss er mich so erschrecken?

Hinten, an der Ecke, blieb sie stehen. »Was ist?«, fragte sie kess.

»Schöne Augen haben Sie, so etwas sehe ich zu selten …«

»Quatschen Sie mich nicht zu«, sagte sie. »Das haben schon andere gesagt.«

»Nun behalten Sie mal für heute Ihre...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Horst-Dieter Radke • Moniks Detering • Pogel • Puff
ISBN-10 3-7598-8103-3 / 3759881033
ISBN-13 978-3-7598-8103-8 / 9783759881038
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