Trotzdem -

Trotzdem (eBook)

Kurzgeschichten - Anthologie zum Mölltaler Geschichtenfestival

ProMÖLLTAL (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Anton Pustet
978-3-7025-8110-7 (ISBN)
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Widerspenstige Kurzgeschichten- Mölltaler Geschichten Festival Heuer findet das Mölltaler Geschichten Festival zum 8. Mal statt. Internationaler Wettbewerb: für zeitgenössische Kurzgeschichten aus Österreich, Deutschland, Italien, der Schweiz ... Lesungen im Mölltal im Herbst: Die besten Kurzgeschichten des Wettbewerbs werden von den Autor*innen im Mölltal präsentiert. Literaturpreis: Prämierung durch Fachjury und Publikumsjury in 4 verschiedenen Kategorien. Die Fachjury setzt sich aus Größen der österreichischen Literaturszene zusammen. Und eine Schreibwerkstatt: Nachwuchsautor*innen können mit renommierten Schreib-Expert*innen ihre Fähigkeiten verbessern. »Die Stimmen dieser Anthologie werden sich weiterentwickeln und das ist gut so, denn die Wege sind offen. Wer will, darf aber schon lesend auf die persönlichen Favoriten setzen.« Lydia Mischkulnig über den Vorgängerband »Sieben« Anthologie zum Festival Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten Die 33 besten Geschichten zum Wettbewerbsthema »Trotzdem«

ProMÖLLTAL - Initiative für Bildung, Kultur, Wirtschaft und Tourismus

ProMÖLLTAL – Initiative für Bildung, Kultur, Wirtschaft und Tourismus

EIN WENIG SCHILDKRÖTENLITERATUR


MARKUS GRUNDTNER

Im vierten Monat ihrer Schwangerschaft konnte Karls Freundin ihn nicht mehr leiden. „Du bist wie Papà“, sagte Lucia und setzte nach: „Um dir aus dem Weg zu gehen, würde ich am liebsten zu ihm fahren.“

„Das ergibt keinen Sinn“, hielt Karl fest, als wäre es das Vorbringen eines gegnerischen Anwalts. Lucia handelte zuerst nach ihrem Herzen und irgendwann schaltete sich ihr Kopf ein.

Karl wusste, sie hatte einen Sinn fürs Schöne und Geschmackvolle, und war auf ihn als Mann aufmerksam geworden, weil er sich elegant kleidete und präsentierte. Karl wusste auch, dass sie nicht wusste, dass dies für ihn nur berufsbedingt war, aber nicht Ausdruck seines Innersten. Was er selbst nicht wusste, war, warum er sich dies überhaupt antat. Es war alles Arbeit und wenn er eines hatte, dann zu viel davon.

Seit Wochen sprach Lucia auch noch von Wickeltisch, Kinderbettchen und Kleiderschrank. Karl dagegen sprach von der Aufgabenliste seiner Kanzlei und sagte: „Uns bleibt genug Zeit. Es gibt Dringenderes.“

„Dann soll es so sein“, sagte Lucia, packte ihren Koffer und fuhr nach Triest. Zu ihrem Vater. Obwohl es weiterhin keinen Sinn ergab. Aber die Frage, was Sinn ergab und was nicht, lag, und das war Karl klar, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs von Lucias Herzen. Karl nahm an, dass sie zum Meer wollte, ein Familienurlaub. Karl dagegen hatte seine Ruhe und seine Akten. Jeder bekam also, was er wollte; und jeder war unzufrieden damit.

Karl musste seine Akten erledigen, um jemals bei einem Familienurlaub dabei sein zu können. Doch hatten Karls Akten es so an sich, dass sie nie weniger wurden, manchmal verdoppelte sich ein Akt sogar und aus einem Verfahren wurden zwei. Aber so lief das bei ihm. Daher war es auch für niemanden eine Überraschung, als er bekanntgab, dass er Vater von Zwillingen werde – es war sein folgerichtiges Schicksal, immer die doppelte Arbeit machen zu müssen.

Um endlich eine komplett durchgestrichene To-Do-Liste vor sich zu sehen, aber auch, um nicht allzu viel über sich selbst nachdenken zu müssen, verbrachte Karl die Tage ohne Lucia mit Arbeit. Eine Nachricht von ihr riss ihn aus seiner Geschäftigkeit.

„Ich bin auf dem Weg zum Bus nach Hause,“ schrieb sie. „Zuerst war ich am Grab von Mamma, dann im Restaurant mit Papà. Er war überglücklich. Ich auch ein wenig. Bis er mir Ratschläge gegeben hat, wie ich mich in der Schwangerschaft verhalten solle. Ich habe es überhört. Leider konnte ich ihn tags darauf nicht weiter überhören (und übersehen). Die Stadt ist klein …“

Hier endete die Nachricht und Karl überlegte, was er antworten sollte. Doch Lucia setzte fort, schrieb: „Wenigstens hat er den Kindern ihr allererstes Geschenk gemacht“, und schickte ein Foto. Es waren zwei Baby-Süßwasserschildkröten in einer verschließbaren Plastikschale – die Schale mit Wasser gefüllt, eine Mini-Insel samt Plastikpalme mittendrin.

„Sie sehen pflegeleicht aus. Ich dachte, wir nennen sie Riccardo und Riccarda. Holst du uns alle am Abend vom Busbahnhof ab?“

„In Ordnung“, schrieb Karl und setzte sogleich einen neuen Punkt auf seine Liste. Den restlichen Tag recherchierte er, was er über Süßwasserschildkröten in Erfahrung bringen konnte. Danach erledigte er noch weitere Dinge und fuhr zum Busbahnhof. Als er dort ankam, stand Lucia vor dem Eingang, ihren Koffer neben sich und die Schildkrötenschale in der Hand. Es regnete. Der Wind heulte durch den Autobahnübergang. Sie trug ihr weites Sommerkleid. Auch nach sieben Stunden Busfahrt und einem ganzen Trimester schwanger mit Zwillingen sah sie aus, als käme sie vom Strand und wäre auf dem Weg zu einer Abendunterhaltung. Nachdem Karl noch Anzug und Krawatte von der Arbeit trug, wirkten die zwei, als würden sie gleich auf eine Cocktailparty weitergehen.

Lucia umarmte ihn und gab ihm einen Kuss aufs Ohr, dessen Schmatzen nachhallte.

„Geht es euch allen gut?“, fragte er.

„Die Kinder haben sich bei der Fahrt schlagend und tretend beschwert“, antwortete sie. „Sonst hat ihnen die Reise gefallen, besonders das Meer.“

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Wir müssen über deine Schildkröten reden“, sagte er, nahm ihr die Schale aus der Hand und ihren Rollkoffer am Griff. In einem sachlichen Ton, den er sonst für Mandanten verwendete, die meinten, im Recht zu sein, jedoch weit davon entfernt waren, sagte er: „Du hast dir von deinem Vater zwei Bachschildkröten schenken lassen. Sie sehen klein und pflegeleicht aus. Sie bleiben aber nicht klein und sind auch nicht pflegeleicht. Männchen werden bis zu 18 Zentimeter groß, Weibchen über 20 Zentimeter.“

Karl ging los, Lucia folgte ihm und sagte ausnahmsweise gar nichts.

„Ich nehme an, du hast dich nicht um die notwendigen Papiere gekümmert, die Tiere über die Grenze zu bringen?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie kleinlaut.

„Du hast sie also über die Grenze geschmuggelt. Somit bleiben Riccardo und Riccarda illegale Schildkröten.“

Sie überquerten die Straße und gingen zur U-Bahn.

„Um die Schildkröten artgerecht zu halten, brauchen wir ein vorläufiges Aquaterrarium und eine UV-Lampe. Das Becken muss fürs Erste mindestens 170 Liter fassen, mit einem Landteil, auf dem sich die Tiere ausruhen können. Die UV-Lampe montieren wir darüber. Sie muss auch den Flachwasserbereich – also die Rampe, die aus dem Wasser führt – mit anleuchten. Für den Bodengrund nehmen wir Sand, aber keinen Kies, denn im Kies versackt der Fäkalmulm. Kannst du dir unter ‚Fäkalmulm‘ etwas vorstellen?“

Lucia sah betreten drein und nickte.

„Gut, dann ist das Thema ‚Fäkalmulm‘ abgehakt.“

Sie nahmen den Aufzug und gingen zum Bahnsteig. Dort angekommen fasste Lucia nach Karls Oberarm und sagte: „Sie treten wieder.“

„Wer?“, fragte er, sah auf die Schale und ihren Bauch und hakte nach: „Die Kinder oder die Schildkröten?“

„Die Kinder natürlich“, sagte sie – atmete tief ein, tief aus – und fragte: „Was meinst du, wenn du sagst, wir brauchen ein vorläufiges‘ Aquaterrarium?“

„Die Tierhalteverordnung der Stadt Wien schreibt für ausgewachsene Bachschildkröten dieser Art ein Endbecken von 750 Litern vor.“

„Ein Endbecken?“

„Ja, ein Endbecken.“

„Wie alt werden sie?“

„20 bis 24 Jahre.“

„Das müssen wir also alles machen?“, fragte Lucia.

„Wir können eine Schildkrötenhaltung gut verwirklichen“, antwortete Karl, „aber wir müssen uns an die Tiere anpassen. Das war jetzt das Wichtigste zum Einstieg, wir müssen uns gründlich beraten lassen und ein wenig Schildkrötenliteratur lesen.“

„Ein wenig Schildkrötenliteratur?“, fragte Lucia. „Gibt es da keine andere Lösung?“

„Ja, die gibt es“, antwortete Karl. „Dafür braucht es nur einen kleinen Umweg.“ Er hob den Kopf und zeigte in Richtung des anderen Gleises, worauf Lucia ihn entgeistert ansah: „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Sie wiederum zeigte auf den großen Mistkübel, der vor dem Gleis stand. Karl erkannte, dass sie wohl annahm, seine Lösung für die Schildkröten wäre deren Entsorgung als Abfall.

„Ach, du meine Güte, nein!“, sagte er. „Wir fahren zum Haus des Meeres – die haben eine Auffangstation. Ich habe vorhin angerufen. Sie nehmen die Tiere. Besser als dort können sie es gar nicht haben.“

Lucia atmete erleichtert aus, nickte und lächelte. Während der Fahrt öffnete Karl den Deckel der Schale und beobachtete Riccardo und Riccarda, die vermutlich erschöpft von der langen Reise waren. Karl war sich sicher: In Italien wären die beiden in ihrer Mini-Schale kein Jahr alt geworden.

„Ich soll dich von meinem Vater grüßen“, sagte Lucia. „Wie immer findet er dich großartig.“

„Weil ich Jurist bin?“

„Weil du Österreicher bist.“

„Dafür kann ich aber nichts.“

„Wenn ihr euch trefft, wird er dir stolz und in gebrochenem Deutsch erzählen, wie er einmal an der Universität eine Veranstaltung mit Otto von Habsburg organisieren durfte.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

Im Haus des Meeres fuhren Karl und Lucia mit dem Lift hinauf und gelangten zur Tür „Eintritt nur für Mitarbeiter“. Er klopfte und sie traten ein. Drinnen begrüßte sie die Biologin, mit der Karl telefoniert hatte. Diese hielt Lucia ohne Umschweife eine Standpauke, gegen wie viele...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2023
Reihe/Serie Mölltaler Geschichten Festival
Zusatzinfo s/w Abbildungen
Verlagsort Salzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie zum Mölltaler Geschichten Festiva • Kurzgeschichten • Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten • trotzdem
ISBN-10 3-7025-8110-3 / 3702581103
ISBN-13 978-3-7025-8110-7 / 9783702581107
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