Castor Pollux 12 (eBook)
144 Seiten
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-5657-0 (ISBN)
Seit Jahrtausenden ruhte er in undurchdringlicher Dunkelheit. Geschaffen, um zu vernichten, war er von seinen Schöpfern in einen tiefen Schlaf versetzt worden, ohne auch nur einem einzigen Feind gegenübergetreten zu sein. Doch er verspürte deshalb keinen Gram, keine Enttäuschung. Denn er war nur ein Werkzeug ohne eigenen Willen. Er existierte allein zu dem Zweck, den Befehlen seiner Götter zu gehorchen und ihnen zu dienen.
Der Zerstörer kannte weder Furcht noch Flucht - und keine Gnade. Er war der ultimative Krieger. Und schon bald würde er erwachen, um zu tun, was seine Bestimmung war.
Das gurgelnde Stöhnen, das aus dem See der vergessenen Seelen drang und die Halle erfüllte, klang lauter und vielstimmiger als gewöhnlich. Fast kam es Bonifazius vor, als könnten die Verdammten den Beginn des Rituals kaum erwarten. Dutzende bleiche Hände durchbrachen die blutrote Oberfläche des Sees. Klauenartige Finger öffneten und schlossen sich, versuchten nach etwas zu greifen, das nur ihre Besitzer sahen.
Ein dünnes, freudloses Lächeln umspielte die zernarbten Lippen des Obersten der Richter. Jeder der Unglücklichen dort unten hatte einst von ihm sein Urteil entgegengenommen. Im See der vergessenen Seelen zu landen, war in der Welt der Finsteren die härteste aller Strafen und wurde vor allem für Versagen und Ungehorsam verhängt. Dort sein weiteres Dasein zu fristen, war trostlos, schmerzhaft und währte ewig.
Die Erweckung des Zerstörers stellte für die Verdammten ihre einzige Chance dar, diesem Elend zu entkommen. Ihre Energie würde ihn aus seinem langen Schlaf reißen, und sie würden in seiner gewaltigen Hülle weiterexistieren, damit er seine Kraft aus ihnen speiste. Es war ihre neue und zugleich letzte Aufgabe, die nur mit seiner Vernichtung enden konnte.
Wozu es nie kommen würde. Denn dafür war der Zerstörer zu mächtig.
Bonifazius bemerkte eine Bewegung unterhalb der Empore, auf der die vier anderen Richter und er sich versammelt hatten. Fünf Gestalten hatten die Halle betreten und näherten sich über den schmalen Pfad entlang des Sees. An ihrer gelben Haut und den roten Gewändern erkannte er vier von ihnen als Jägerinnen. Zwei gingen voraus, gefolgt von einem schwarz gekleideten Mann mit eisgrauem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Die beiden anderen hinter ihm hielten ihre Speere auf ihn gerichtet.
Sie hatten Marton gefangen genommen.
Allein die Tatsache, dass ihnen das nach so kurzer Zeit gelungen war, stellte in Bonifazius’ Augen einen Beweis für das Unvermögen des Druiden dar. Wie lange dagegen waren Taschs Kriegerinnen schon hinter Cassia her? Obwohl sie über weit weniger Macht verfügte als Marton, war sie stets aufs Neue entkommen und hatte viele von ihnen vernichten können.
Wahrlich, Elat hatte seine Wahl gut getroffen.
Als die kleine Gruppe die Plattform unterhalb der Empore erreicht hatte, blieb sie stehen. Bonifazius beugte sich über die Brüstung. Marton hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah zu ihm herauf. Ein Ausdruck der Verbitterung lag auf seinem schmalen Gesicht mit den scharf geschnittenen Zügen.
»Ich dachte, wir seien Verbündete«, stieß er hervor. Bitterkeit lag in seiner Stimme. »Habe ich nicht für Ballurats Vernichtung gesorgt, wie du es gewünscht hast?«
»In der Tat, diese Ehre gebührt dir«, gestand Bonifazius freimütig ein. »Doch gleichzeitig hast du zugelassen, dass Moronor von Castor Pollux vernichtet wurde.* Und du hast nichts unternommen, um ihn daran zu hindern. Stattdessen hattest du dich abgesetzt, noch bevor es zum Kampf kam. Würde dich jemand dafür einen Feigling nennen, so könnte ich dem kaum widersprechen.«
Der Druide zuckte zusammen, erwiderte aber nichts.
Natürlich schweigt er, dachte Bonifazius. Weil er weiß, dass es die Wahrheit ist.
»Dessen ungeachtet war nicht ich es, der deine Ergreifung befohlen hat, sondern der von allen gepriesene Elat«, fuhr er fort. »Eine große Aufgabe steht dir bevor, bei der selbst du nicht versagen wirst.«
»Er will den Zerstörer erwecken«, zischte Marton. »Das halte ich für einen großen Fehler.«
Aufgeregtes Gemurmel brach unter den Richtern hinter Bonifazius aus. Mit einer beiläufigen Bewegung brachte er sie zum Schweigen, obgleich er ihre Empörung nachvollziehen konnte und sie auch teilte.
»Ich glaube nicht, dass es an dir ist, die Handlungen unserer Götter infrage zu stellen, Marton«, grollte er.
»Lass mich mit Elat sprechen«, verlangte der Gefangene. »Er muss einsehen, dass ich ihm lebend nützlicher bin als tot. Immerhin habe ich ihm all die Jahre treu …«
»Schweig!«, unterbrach ihn Bonifazius barsch. Niemand durfte wissen, dass der Druide in Wahrheit nicht Ballurat gedient hatte, wie jeder glaubte, sondern Elat selbst. Bei ihrer jüngsten Unterredung hatte dieser es als gescheitertes Experiment bezeichnet, sich mit einem Sterblichen eingelassen zu haben. Ein Experiment, von dem keiner erfahren sollte, was auch für die anderen Richter sowie für die Jägerinnen dort unten galt. »Dein Schicksal ist besiegelt. Zusammen mit den vergessenen Seelen wirst du dem Zerstörer neues Leben einhauchen, und dies für alle Zeiten.«
Der Ausdruck in Martons Miene veränderte sich. Sein Zorn verschwand und machte nackter Furcht Platz, wie Bonifazius in einer Mischung aus Verachtung und kalter Befriedigung feststellte. Mit einem Nicken in Richtung der Jägerinnen erteilte er ihnen einen stummen Befehl, woraufhin sie einen Schritt von dem Druiden zurücktraten.
Ein schrilles Pfeifen durchschnitt die Luft. Vier mit schwarzen Saugnäpfen bewehrte rote Tentakel schossen von der Hallendecke herab und auf Marton zu. Bevor er reagieren konnte, hatten sie ihn an Armen und Beinen gepackt und rissen ihn empor, bis er zehn Fuß über dem See schwebte. Sein Gesicht war der Oberfläche zugewandt. Die Tentakel waren stark genug, um ihn in Stücke zu reißen, doch war das weder ihre Absicht noch ihre Aufgabe.
Weitere Fangarme folgten und tauchten in den See ein, der gleich darauf zu brodeln begann. Gelblicher Dampf stieg empor und verteilte sich in der Halle. Die Tentakel, die den Druiden festhielten, pulsierten jetzt in einem schnellen Rhythmus. Fasziniert beobachtete Bonifazius, wie sich die Saugnäpfe in Martons Fleisch gruben. Ein grässlicher, schmerzerfüllter Schrei entrang sich dessen magerer Brust.
Das Stöhnen der vergessenen Seelen wurde lauter und steigerte sich zu einem kreischenden Crescendo, bevor es abrupt verstummte. Dann war nur noch ein Schmatzen und Schlürfen zu hören, das seinen Ursprung in den Tentakeln hatte. Marton hing schlaff in ihrem Griff und wimmerte vor sich hin. Seine Haut war viel bleicher als gewöhnlich.
Bonifazius wandte sich ab und verließ die Empore. Das Ritual benötigte Zeit und würde sich eine Weile hinziehen. Umso wichtiger war, dass es endlich begonnen hatte.
Die dunklen Götter würden zufrieden sein.
Rom, 65 n. Chr.
»Mir ist nicht wohl dabei«, sagte Florentina. Ein feuchter Schimmer lag auf ihren Augen. »Ich weiß, es ist nicht das erste Mal, dass du gehst, um gegen die Finsteren zu kämpfen, aber diesmal … Es fühlt sich …« Sie rang nach Worten. »… irgendwie anders an.«
Sanft legte Castor Pollux seine Hände auf ihre schmalen Schultern.
»Mit etwas Glück wird es das letzte Mal sein. Wenn wir den Riss finden, muss ich dich nie wieder verlassen. Dann liegt all das Unheil, das uns von Anfang an begleitet hat, endlich hinter uns.«
Er hatte gehofft, sie mit dieser Aussicht trösten zu können, doch anscheinend hatte er eher das Gegenteil erreicht. Eine Träne lief ihre Wange hinab, gefolgt von einer zweiten.
»Dein Vater hatte dieselbe Mission und ist nicht davon zurückgekehrt«, schluchzte sie.
»Ich weiß, aber ich werde wiederkommen, hörst du? Ich verspr…«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Gib mir kein Versprechen, das du vielleicht nicht halten kannst. Auf eine gewisse Weise würde das meinen Schmerz nur vergrößern. Sag mir einfach, dass du alles dafür tun wirst, dass wir uns wiedersehen.«
»Das werde ich. Ich schwöre es bei den Göttern.«
Er beugte sich vor, küsste sie und hoffte inständig, dass es nicht das letzte Mal gewesen war.
Hinter ihm räusperte sich Kimon.
»Wenn wir heute noch in See stechen wollen, sollten wir allmählich aufbrechen«, mahnte er.
Castor nickte und löste sich von Florentina. Sein griechischer Freund sowie die beiden Veteranen Columbus und Kandidus und der junge Korse Petru standen auf der Straße vor der Villa und sahen ihn erwartungsvoll an. Flankiert wurden sie von der Gladiatorin Salma, die Kimons Schwert an ihrem Gürtel trug, sowie seiner Erzfeindin Cassia.
Letztere hatte die Nacht eingesperrt und bewacht in einer Kammer verbracht. Auch wenn sie bei ihrer bevorstehenden Mission Verbündete waren, hätte sich niemand damit wohlgefühlt, sie unter demselben Dach frei herumlaufen zu wissen. Cassia hatte keine Einwände erhoben und sich widerspruchslos einschließen lassen.
Castors Befürchtung, es könne zwischen Florentina und Salma zum Streit kommen, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Zwar hatte ihm seine Geliebte den Seitensprung mit der Nubierin verziehen, aber er glaubte kaum, dass sie ihn vergessen hatte. Trotzdem war ihr kein Wort der Eifersucht über die Lippen gekommen, als er ihr eröffnet hatte, dass Salma ihn mit den anderen nach Korsika begleiten würde. Dorthin, wo sich der Riss befand, auf den Petru zufällig gestoßen war.**
Urbanus tauchte hinter seiner Tochter auf. Die Miene des Senators mit dem kurzen grauen Bart war ernst.
»Kehre heil zurück, Castor«, bat er ihn. Und an seine Begleiter gerichtet, sagte er: »Das gilt für euch alle. Solltet ihr die Finsteren endgültig schlagen können, werde ich ein Fest ausrichten, wie es dieses Haus nie zuvor gesehen hat.«
»Da bin ich gerne dabei«, erwiderte Kimon und grinste, wenn auch etwas schief.
Wie aufs Stichwort drängte sich Julia...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Historische Romane | |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Bastei • Bedrohung • Castor Pollux • Dämonen • Eroberung • Flüche • Gespensterkrimi • Gladiator • Horror • Kaiser Nero • Krieg • Legionär • Morde • Reise • Rom • Schattenreich • Schlacht • Übernatürliche Phänomene • Weltgeschichte • Weltmacht |
ISBN-10 | 3-7517-5657-4 / 3751756574 |
ISBN-13 | 978-3-7517-5657-0 / 9783751756570 |
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Größe: 1,2 MB
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