Das schwarze Chamäleon (eBook)
328 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-375-6 (ISBN)
Jake Lamar, geboren 1961, wuchs in der Bronx, New York, auf. Nach seinem Abschluss an der Harvard University schrieb er sechs Jahre lang für das »Time Magazine«. Er lebt seit 1993 in Paris und unterrichtet Kreatives Schreiben an der Elitehochschule Sciences Po. Er schreibt Romane, Essays, Rezensionen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Jake Lamar ist Träger des Lyndhurst-Preises und des Grand Prix für den besten ausländischen Thriller. Sein Kriminalroman »Viper's Dream« wurde 2024 mit einem CWA Dagger Award ausgezeichnet. Robert Brack, Jahrgang 1959, lebt als Autor und Übersetzer in Hamburg. Er wurde mit dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft und mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und übersetzte u.a. die Kriminalromane von Declan Burke. Zuletzt erschien 2023 sein Kriminalroman »Schwarzer Oktober«.
Jake Lamar, geboren 1961, wuchs in der Bronx, New York, auf. Nach seinem Abschluss an der Harvard University schrieb er sechs Jahre lang für das »Time Magazine«. Er lebt seit 1993 in Paris und unterrichtet Kreatives Schreiben an der Elitehochschule Sciences Po. Er schreibt Romane, Essays, Rezensionen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Jake Lamar ist Träger des Lyndhurst-Preises und des Grand Prix für den besten ausländischen Thriller. Sein Kriminalroman »Viper's Dream« wurde 2024 mit einem CWA Dagger Award ausgezeichnet. Robert Brack, Jahrgang 1959, lebt als Autor und Übersetzer in Hamburg. Er wurde mit dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft und mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und übersetzte u.a. die Kriminalromane von Declan Burke. Zuletzt erschien 2023 sein Kriminalroman »Schwarzer Oktober«.
1
»So ein verfickter Scheiß! So ein verfickter, beschissener Scheiß-Bullshit!«
Es war nicht gerade der eloquenteste Moment im Leben von Reginald T. Brogus, aber die beiden profanen Sätze, die er murmelte, brabbelte, ja beinahe schluchzte, während er in meiner spärlich erleuchteten, unaufgeräumten Küche herumtigerte, könnten so etwas wie ein Motto oder ein Mantra gewesen sein für die Inkarnationen dieses Mannes in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Ob in Gestalt eines kühnen, pistolenschwingenden Revoluzzers mit Beret oder eines pfeiferauchenden Neokonservativen mit roten Hosenträgern – Reginald T. Brogus sagte auf seine typisch bombastische Art immer das Gleiche.
»So ein verfickter Scheiß! So ein verfickter, beschissener Scheiß-Bullshit!!«
Aber in dieser Nacht war von seiner sonst üblichen Prahlerei nichts mehr übrig. Oder besser gesagt: an diesem Morgen. Die rot leuchtende Digitalanzeige des Radioweckers auf meinem Nachtschränkchen hatte 2:27 angezeigt, als ich nach dem nervig piependen Telefon griff. Brogus rief mich von seinem Handy aus an. Er sagte, er würde draußen auf der Maplewood Road stehen, direkt vor meinem Haus.
»Du musst mich reinlassen, Clay. Bitte!«
Ich murmelte etwas davon, wie spät es sei, und fragte, was er für ein Problem hätte. Das wollte er mir nicht sagen. Er bettelte einfach darum, hereingelassen zu werden. Ich sagte ihm, er solle zur Hintertür kommen. Penelope schnarchte leise vor sich hin, als ich im Dunkeln nach meinem Bademantel tastete. Es wäre mehr als ein Telefonanruf und das Stolpern gegen diverse Möbelstücke nötig gewesen, um meine Frau zu wecken, wenn sie sich in ihrer komatösen Tiefschlafphase befand. Ich schloss die Schlafzimmertür hinter mir und schlich eilig die Treppen hinunter. Pen konnte man nicht so leicht aus dem Schlaf reißen, aber ich wollte nicht riskieren, die Zwillinge aufzuwecken.
Immer noch benommen durchquerte ich die dunkle Küche, schlurfte in meinen Slippers schwerfällig über den Linoleumfußboden. Als ich die kleine Lampe einschaltete, die neben dem vier Zoll breiten Schwarzweißfernseher auf dem Küchentisch stand, sah ich draußen im Garten, hinter der Tür mit dem Fenster aus einbruchsicherem Glas, das von gelb gemusterten Rüschengardinen verdeckt wurde, die vagen Umrisse eines Mannes. Trotz meiner herrischen Vorträge zum Thema Sicherheit vergaßen Penelope und die Mädchen immer wieder, die Hintertür abzuschließen. Als ich den Türknauf drehte, stellte ich fest, dass sie schon wieder unverschlossen war, mitten in der Nacht.
Reggie Brogus trug einen blauen Trainingsanzug und dazu schmutzige weiße Nikes. Ich fand seine Ausstattung aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen war es Montag, der 17. Februar 1992, und wir wohnten in Arden, Ohio, in einer flachen, windigen, so gut wie baumlosen Tundra, wo der Frühling erst Ende Mai Gestalt annahm. Und zweitens war Brogus zu diesem Zeitpunkt dreihundert Pfund schwer, ziemlich schwabbelig und sah aus, als wäre Kauen seine vorherrschende körperliche Ertüchtigung.
»He, Clay, Mann, du musst mir helfen.«
Seine Augen hinter den flaschenglasdicken Gläsern seiner Hornbrille quollen mehr aus den Höhlen als sonst. Ich schob ihn in die Küche und bat ihn, nicht so laut zu reden. Irgendwie war ich gar nicht erstaunt, dass er in diesem Zustand bei mir aufkreuzte. Vielleicht war ich zu verschlafen, um mir Sorgen zu machen. Und bekanntlich hatte Reginald T. Brogus einen Hang zum Melodramatischen. Ich schaltete die Leuchtstofflampe unter der Decke ein. Kurz bemerkte ich den gigantischen Berg aus schmutzigem Geschirr im Waschbecken, da knipste Brogus das Licht wieder aus.
»Das ist viel zu hell, Mann! Bist du wahnsinnig?«
Ich setzte mich an den Küchentisch in den Lichtschein der 40-Watt-Lampe. »Komm runter, Brogue«, grummelte ich.
Und da fing er an, wie besessen in der Küche herumzutigern. »So ein verfickter Scheiß! So ein verfickter, beschissener Scheiß-Bullshit!!«
Ich gähnte leise und rieb mir ein Klümpchen verkrusteten Schleim aus den Wimpern. »Kannst du dich etwas präziser ausdrücken, Mann?«, stöhnte ich. Auch wenn Brogus sehr verzweifelt wirkte, nahm ich ihn nicht besonders ernst. Wie viele andere Schwarze hatte auch ich Brogus seit den 1970ern nicht mehr ernst genommen.
»Warum erschießen sie mich nicht einfach, hm? Warum wollen sie mich komplett zerstören? Warum durchbohren sie nicht einfach mein Herz mit einem Holzpflock!« Brogus schlug sich gegen die voluminöse Brust, während er über das Linoleum stakste. Seine Stimme überschlug sich, er klang, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Wäre es nicht einfacher, mich umzubringen? Müssen sie mich auch noch foltern?«
Sie? Zuerst dachte ich, Brogus würde von unseren Kollegen an der Arden University sprechen. Dann fiel mir ein, wie unglaublich viele Feinde Reggie Brogus hatte. »Sie«, das konnten Aktivisten der wiederbelebten Black Panther Party sein oder Hinterwäldler, die der Ideologie der Weißen Vorherrschaft anhingen, oder rachsüchtige Agenten des FBI, der CIA oder der Steuerbehörde oder Angehörige der linken Medien-Schickeria oder jede Person, die sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlte. Brogus war, sogar gemessen an den aktuellen Standards, ziemlich paranoid. Das schoss mir durch den Kopf, als ich mir so langsam Sorgen wegen seines unerwarteten nächtlichen Besuchs machte. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich das Ausmaß des Ganzen noch nicht, das wurde mir erst später bewusst, als ich mit eigenen Augen sah, was auf dem Sofa im Büro von Reginald T. Brogus im Afrikamerika-Institut lag – nämlich der nackte Körper einer weißen Studentin, die erwürgt worden war.
Nicht vergessen, ich spreche hier von 1992 – Anfang 1992. Das Reich der Glaubwürdigkeit hatte noch nicht seine aktuellen abenteuerlichen Ausmaße angenommen. Auch wenn der Golfkrieg ein Jahr zuvor das Unglaubwürdige immer glaubwürdiger hatte werden lassen – in der Nacht, als Brogus in voller Panik vor meiner Tür auftauchte, war O. J. Simpson noch der bekannteste Ex-Sportler und TV-Schlaukopf im Land, Mrs. Simpsons Kopf war immer noch vollständig mit ihrem Körper verbunden, Slick Willie Clintons Präsidentschaftskandidatur schien hoffnungslos, und alle Welt ging davon aus, dass das Urteil im Prozess gegen die weißen Cops in Los Angeles, die dabei gefilmt worden waren, wie sie den armen schwarzen Rodney King verprügelten, selbstverständlich »schuldig« lauten würde. Im Februar 1992 hatte eine nackte Leiche – genauer gesagt die nackte Leiche einer weißen Frau – im Büro eines Professors – genauer gesagt eines schwarzen männlichen Professors – immer noch das Potenzial, die Öffentlichkeit, wenn schon nicht zu schockieren, so doch immerhin in Erstaunen zu versetzen.
Aber während ich versuchte, den in meiner Küche herumlatschenden Brogus zu beruhigen, wusste ich noch gar nichts von der Leiche. So etwas war jenseits meiner Vorstellungskraft. Ich lebte mein Leben noch immer innerhalb der alten Parameter des Glaubwürdigen.
»Du musst mitkommen«, sagte Brogus atemlos. »Wir gehen in mein Büro. Du musst dir diese Scheiße anschauen. Du bist mein Zeuge.«
»Zeuge für was denn? Und sprich bitte leiser.«
Brogus hörte endlich auf herumzutigern, blieb stehen und hob die Hände vors Gesicht. Er drückte die Handflächen gegen seine sehr breite und hohe Stirn und starrte zu Boden. Offenbar versuchte er seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, seine Nerven zu beruhigen. Er trat mit schweren Schritten an den Tisch und setzte sich mir gegenüber hin. Sein fetter Hintern quoll auf beiden Seiten über den Rand des spillerigen Holzstuhls. Er stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte seine Wurstfinger. Er mied meinen Blick. Seine vorstehenden Augen schienen einen Fleck hinter mir zu fixieren, etwas, das nur er in dieser dunklen Ecke der Küche wahrnehmen konnte. »Du bist mein Zeuge«, sagte er knurrend.
»Zeuge für was, Reggie?«
Brogus schüttelte träge den Kopf und starrte weiter an mir vorbei ins Dunkle. »Für diesen Scheiß … diesen beschissenen Scheiß … den sie in meinem Büro deponiert haben.«
»In deinem Büro? An der Uni?«
Brogus nickte langsam, seine Froschaugen hinter der dicken Brille wirkten besessen. »Siehst du das denn nicht?«, knurrte er. »Denen reicht es nicht, mich umzubringen. Die wollen mich ruinieren.«
Da ich mich für sehr clever hielt, zog ich sofort die falschen Schlüsse. Drogen. Jemand musste Koks im Büro von Brogus deponiert haben. Egal ob er als linker oder als rechter Aktivist auftrat, Drogen hatte Brogus immer vehement abgelehnt. In seinen beiden Büchern – LIVE BLACK OR DIE! A Militant Manifesto, veröffentlicht 1968, und An American Salvation. How I Overcame the Sixties and Learned to Love the U. S. A., veröffentlicht 1984 – hatte er sich darüber ausgelassen, wie gefährlich Drogen für die schwarze Community seien. Wenn also einer der zahllosen Feinde von Brogus ihn diskreditieren und an den Pranger stellen wollte, dann wäre die hinterhältigste Art, Drogen in sein Büro zu schmuggeln, womit er nicht nur als Verbrecher, sondern auch als Schwindler dastünde.
»Ich glaube, ich verstehe jetzt«, sagte ich. »Aber, hey, Mann, wieso kommst du damit zu mir? Solltest du nicht die Polizei rufen?«
»DIE PO-LI-ZEI?!« Brogus schrie es beinahe.
»Sch-sch.«
»Was zum Henker glaubst du wohl, was die Po-li-zei mit meinem schwarzen Hintern tun wird?« Brogus schaute mir ins...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2024 |
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Nachwort | Robert Brack |
Übersetzer | Robert Brack |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | African American Studies • Anita Hill • Black Panthers • Bürgerrechtsbewegung • Campus • Clarence Thomas • College • Diversity • Emanzipation • Gleichberechtigung • Machtmissbrauch • metoo • Race • Rape Culture • Rassismus • Rodney King • Satire • Segregation • USA • Whodunnit |
ISBN-10 | 3-96054-375-1 / 3960543751 |
ISBN-13 | 978-3-96054-375-6 / 9783960543756 |
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