Das Haus der Bücher und Schatten (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
528 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-29360-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Haus der Bücher und Schatten -  Kai Meyer
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Bestsellerautor Kai Meyer erschafft eine meisterhafte Melange aus Historie und bibliophiler Schauergeschichte Baltikum, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Tiefer Schnee und endlose Wälder schneiden ein Herrenhaus von der Welt ab. Hierher reist die junge Lektorin Paula Engel aus Leipzig, um das Manuskript des Schriftstellers Aschenbrand einzusehen. Paula und ihr Verlobter Jonathan begegnen einem faszinierenden Exzentriker, der ein dunkles Mysterium wahrt. Leipzig, 1933. Im legendären Graphischen Viertel rettet der von den Nazis entlassene Kommissar Cornelius Frey einem Mädchen das Leben. Bei ihrem Abschied flüstert sie »Sie weinen alle im Keller ohne Treppe«. In der nächsten Nacht liegt sie ermordet neben einem toten Polizisten. Auf der Spur des Mörders kämpft Cornelius sich zurück in seinen alten Beruf und stößt auf ein Netz aus Okkultisten und Verschwörern, Freimaurern und Fanatikern. In welcher Verbindung standen sie zu Paula und Jonathan, die vor zwanzig Jahren spurlos im Baltikum verschwanden? Nach dem Erfolg von 'Die Bibliothek im Nebel' und 'Die Bücher, der Junge und die Nacht': Kai Meyer erzählt erneut von den Geheimnissen des Graphischen Viertels, dem nebelverhangenen Herz der Bücherstadt Leipzig »Atmosphärisch dicht geschrieben und mit vielen zeithistorischen Elementen gespickt, fesselt Kai Meyer mit einer hochspannenden Erzählung.« Passauer Neue Presse über Die Bibliothek im Nebel

Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, von denen viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste gelangten. Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, von denen viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste gelangten. Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

1


1933

Die Stadt war ins Gespenstische entrückt.

Im Morgengrauen wanderte er durch die Nebelflüsse auf menschenleeren Straßen und las zwischen den Zeilen des Viertels. Vor seinem inneren Auge öffneten sich die Fassaden wie Buchdeckel, um in entlarvenden Kapiteln all die Wahrheiten zu enthüllen, die selbst Sterbenden nicht über die Lippen gekommen wären.

Er kannte diese Häuser, diese Plätze, das Graphische Viertel seit seiner Kindheit. Und er verwitterte mit ihnen, bekam die gleichen Furchen wie die Steingesichter der Statuen, den missbilligenden Blick der Mythenwesen, die von Torbögen und Dachgiebeln herab in die Gassen starrten.

Als er das Mädchen fand, das durch die Bücher sterben wollte, war er tief in Gedanken.

Die Einsamkeit ist ein Land voller Menschen, hatte jemand gesagt. Oder war ihm das selbst eingefallen? Die Vorstellung hatte etwas Verlockendes – ein Landstrich, in dem sich alle versammeln, die immer allein gewesen sind –, aber er machte sich nichts vor: Das Bild hatte nichts mit der Wirklichkeit gemein. Die Einsamkeit war hier, zwischen diesen Häusern, an der Grenze von Nacht und Morgen, und ihr Klang war der trostlose Schlag seiner Schritte auf dem nebelfeuchten Pflaster.

Er war zweiundvierzig, nicht allzu alt aus der Sicht des Zweiundvierzigjährigen, aber er hatte das Gefühl, als hätte er schon die Zielgerade erreicht. Immerhin aufrecht und mit einem Rest Würde. Nur dass es die Wut war, die ihn aufrecht hielt, und die Würde kostete ihn Tag für Tag mehr Kraft als das Leben selbst. Bis vor ein paar Monaten hatte er einen guten Beruf gehabt, einen, den er mochte und beherrschte, doch den hatten sie ihm genommen. Polizeikommissar. Ist man Anstreicher, kann man weiter Wände streichen, auch wenn sie einen vor die Tür setzen. Nimmt man einem Kommissar seinen Posten, bleibt nicht viel von ihm übrig.

Darum tat er nun etwas anderes: Er bewachte die Bücher. Seit ein paar Wochen war er Nachtwächter in der Deutschen Bücherei, einem Tempel der Literatur, mit Säulen und Sälen, mit wuchtigen Treppen und steinernen Friesen. Die Bibliothekare verwahrten dort jeden Titel, der draußen im Land geschrieben, gedruckt und vertrieben wurde. Die Deutsche Bücherei war nicht das schlagende Herz der Bücherstadt Leipzig, eher ihr Grabmal zu Lebzeiten, in dem Schweigen gefordert und bewahrt wurde; tagsüber in den Lesesälen und erst recht im Dunkeln, wenn Nachtwächter wie Cornelius Frey durch die Korridore und Hallen und übervollen Bücherlager zogen.

Gerade kam er von dort, nach Stunden in der Stille zwischen den Regalen. Er liebte auch die Ruhe hier draußen, die verlassenen Straßen und hallenden Gassen, und wenn er dabei über Einsamkeit nachdachte, dann färbte eher die Stimmung des dämmerigen Morgens auf sein Gemüt ab, als dass er selbst sich einsam fühlte. Er mochte das Alleinsein in diesen Stunden, denn nur um diese Zeit, kurz vor Beginn der Frühschicht in den Buchfabriken und ehe die Stadt ihre Träume abschüttelte, war für gewöhnlich weit und breit niemand zu hören, niemand zu sehen.

Das Mädchen stand auf der Brücke, auf der die Riebeckstraße die Gleise zum Eilenburger Bahnhof überquerte. Verloren hielt sie sich von außen an dem schmiedeeisernen Geländer fest, ganz in Schwarz, das Gesicht ins Leere gewandt, die Hände um den Handlauf hinter ihrem Rücken geklammert. Allzu tief war der Abgrund nicht. Den Sturz allein hätte sie wohl überlebt, mit gebrochenen Beinen und zerschmettertem Rückgrat, aber sie hatte etwas anderes vor.

Im Nebel, der den Bahnhof am Ende der Schienen verbarg, glommen die Lichter eines herankommenden Güterzuges, der wie jeden Tag die frisch gedruckten Bücher des Graphischen Viertels stadtauswärts trug, hinaus in die Buchhandlungen im ganzen Land. Das Mädchen schien abwarten zu wollen, bis der Zug fast heran war, um sich dann von hier oben aus davorzuwerfen. Sobald der schwarze Qualm der Lokomotive die gesamte Brücke einhüllte, würde es vorüber sein, begleitet vom Kreischen der Bremsen, die den Zug erst auf der anderen Seite zum Stehen brächten.

Cornelius rannte los und hoffte, dass der Lärm des heranrollenden Ungetüms seine Schritte übertönte. Selbst von Weitem konnte er die Anspannung erkennen, unter der das Mädchen stand, das Weiß ihrer Finger am Eisengeländer, die gespreizten, nach hinten gebogenen Arme, die hervorgetretenen Sehnen an ihrem Hals. Er meinte, sie hastig atmen zu hören, vielleicht, weil er schon andere in solchen Situationen erlebt hatte und wusste, wie ein Mensch klang, kurz bevor er starb.

Die Lichter des Zuges kamen näher, die Nebelwand wogte, und jeden Moment würde die Lokomotive daraus hervorbrechen, schnaubend und stinkend, mit Stahlgeschrei. Wind schlug ihm ins Gesicht. Das dunkle Haar des Mädchens wurde von den Schultern gehoben und flatterte wild in seine Richtung. Nur noch wenige Herzschläge, dann würde er danach greifen können, aber falls sie wirklich fiel, konnte er sie daran nicht festhalten. Er musste sie sicher zu fassen bekommen, am besten von hinten um den Brustkorb, und plötzlich hatte er entsetzliche Angst, dass sie ihn auf den letzten Schritten bemerken und sich fallen lassen würde, keine Handbreit von seinen Fingerspitzen entfernt.

Sie wirkte sehr zerbrechlich, wie sie so dastand und dem herandonnernden Tod entgegenblickte. Gleich würde Cornelius bei ihr sein, um sie zu packen und nach hinten über das Geländer zu ziehen.

Doch er hatte nicht mit der brutalen Gewalt des Windes gerechnet, die den Qualm aus dem Schlot der Lokomotive wie eine Riesenfaust aus dem Nebel in seine Richtung rammte. Er hatte das Mädchen noch nicht berührt, als die stinkende Schwärze über den Rand der Brücke quoll und sie beide einhüllte. Von einem Atemzug zum nächsten sah er nichts mehr, stieß blind beide Arme nach vorn und versuchte, etwas zu packen zu bekommen, irgendetwas, notfalls auch ihr Haar. Aber seine Finger griffen ins Leere, erst ein-, dann zweimal. Um ihn war es stockdunkel, er bekam kaum Luft in all dem Kohlegestank, und womöglich war sein eigener Schwung genug, um ihn gegen das Geländer und darüber hinwegzutragen.

Er ließ die Arme vor sich zuschnappen wie eine Zange. Sie schnitten durch den schwarzen Qualm, trafen auf Widerstand, schlossen sich um einen schmalen Oberkörper und klammerten sich daran fest, wobei ihm das Geländer zwischen ihnen den nötigen Halt gab. Sie schrie auf, nur ganz kurz und leise, und er spürte keinen Widerstand, kein Gestrampel, nur das rhythmische Beben der Brücke, während unter ihnen die Güterwaggons voller Bücher vorüberlärmten, zehn oder noch mehr, bis der Qualm endlich fort war und Cornelius wieder etwas sehen konnte, einen Wirbel im Haar an ihrem Hinterkopf, ihren Umriss, halb zerfasert im gelblichen Dunst des Graphischen Viertels.

Ohne ihren Protest abzuwarten, zog er sie nach hinten über die Brüstung, und dann standen sie nebeneinander, lehnten schwer atmend am rostigen Geländer und blickten über die Fahrbahn hinweg dem Zug nach, dessen Ende sich im Nebel davonschlängelte wie ein Lindwurm im Rauch einer brennenden Heide.

»Das war dumm«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Ihr Atem überschlug sich, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. »Sagt wer?«

»Der Idiot, der fast hinter Ihnen hergefallen wäre.«

Sie wandte ihm den Kopf zu. »Sie haben den Qualm unterschätzt.«

»Als hätten Sie sich darüber vorher Gedanken gemacht.«

»Hab ich. Ich bin ja nicht zum ersten Mal hier.«

Wut stieg in ihm auf. »Sie machen das öfters?«

»Heute wäre ich gesprungen. Vielleicht tu ich’s morgen.«

»Ach, geh’n Sie zum Teufel«, sagte er und wollte sie stehen lassen. Aber etwas hielt ihn davon ab. Es würden noch viele Züge kommen an diesem Tag, genug Züge für ein paar Dutzend Selbstmordversuche, doch sie hatte morgen gesagt. Vorerst mochte sie sicher sein, vor sich selbst und dem, was in ihren Gedanken spukte. Trotzdem ließ ihn die Sorge nicht los.

Aus der Nähe betrachtet, ohne den schwefeligen Nebelschleier zwischen ihnen, wirkte sie nicht mehr wie ein Kind, aber auch noch nicht allzu erwachsen.

»Wie alt sind Sie?«, fragte er.

»Neunzehn.«

»Sie sehen jünger aus.«

Sie hob die Schultern und machte etwas mit ihren Lippen, das wie eine alberne Schnute aussah. Das nahm er ihr übel, weil sie sich die Kindchennummer gefälligst für jemanden aufheben konnte, der anfälliger dafür war als er. Dabei war sie hübsch, auf eine zerzauste, abgelebte Weise, die ihn vor zwanzig Jahren erschreckt hätte, heute aber ein alltäglicher Anblick war. Sie musste als Kind die große Hungersnot während des Krieges miterlebt haben, dann die Verarmung während der Zwanziger und deren Nachbeben bis zum heutigen Tag. Wahrscheinlich gehörte sie nicht zu denen, die ihre Hoffnung in das neue Regime in Berlin setzten, denn wer Hoffnung hatte, warf sich nicht vor Züge. Jedenfalls nicht in Cornelius’ Regelbuch des Freitods, das auf einer Menge persönlicher Erfahrungen beruhte. Erfahrungen als Polizist, aber auch als jemand, der selbst schon am Abgrund gestanden hatte, unentschlossen wie sie, bis sein gesunder Menschenverstand und eine Musiklehrerin namens Felicie ihn überzeugt hatten, dass seine Selbstmordgedanken in erster Linie Selbstmitleid waren. Und aus Selbstmitleid zu sterben erschien ihm dann doch ziemlich lächerlich, nachdem er Gasangriffe auf Schlachtfeldern und den Siegeszug des Lindy Hop in den Tanzschuppen überstanden hatte.

»Ihr Name?«, fragte er.

»Ihr Name!«, ahmte sie ihn mit verstellter Stimme nach. »Was sind Sie? ’n Wachtmeister?«

»Nur ein Nachtwächter.«

»Natürlich. Man denkt, man...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 1913 • 1933 • 20. Jahrhundert • 60er Jahre Romane/Erzählungen • Baltikum • Büchersammler • Bücher über Bücher • bücher wie die bücherdiebin • Die Bibliothek im Nebel • die bücher der junge und die nacht • Die Seiten der Welt • dramatische Romane • Dreiecksbeziehung • düsteres Geheimnis • Familienfehde • Familiengeheimnis • Familiengeschichten Romane • Familiensaga • familiensaga romane • historische Familienromane • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane 2. Weltkrieg • Historische Romane Deutschland • kai meyer beste bücher • Kai Meyer Bücher • kei meyer die seiten der welt • Kurland • Leipzig • Riga • Romane Familiengeheimnisse • Romane Liebe • Romane spannend • Zeitgeschichte Roman
ISBN-10 3-426-29360-9 / 3426293609
ISBN-13 978-3-426-29360-7 / 9783426293607
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99