Der König (eBook)
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3303-8 (ISBN)
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo. Günther Frauenlob, geb. 1965, arbeitet seit 1995 als literarischer Übersetzer aus dem Norwegischen und Dänischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Jo Nesbö, Jörn Lier Horst, Lars Mytting, Line Holm & Stine Bolther uvm. Günther Frauenlob lebt in Waldkirch bei Freiburg i. Brsg. und auf der norwegischen Insel Hidra.
1
Jeder hat eine Achillesferse. Das hat Papa mir schon eingetrichtert, als er mir das Boxen beigebracht hat. Ich war kleiner als die anderen Jungs, er aber hat mir gezeigt, dass selbst der Furcht einflößendste Gegner eine Lücke in seiner Deckung hat, eine ungeschützte Stelle, und immer wieder zu denselben Fehlern neigt. Und dass es nicht ausreicht, diese Stelle zu finden, sondern man kalt genug sein muss, diese Schwachstelle, ohne zu zögern, auszunutzen. Und damit sind wir auch schon bei meiner Schwachstelle. Mein Herz schlägt für solche wie mich, für Menschen mit denselben Schwächen. Mit der Zeit habe ich aber viel dazugelernt, und mein Herz ist kälter geworden. Wie ein erkalteter, längst verloschener Vulkan. Der letzte, finale Ausbruch liegt inzwischen acht Jahre zurück. Aber auch schon da war mein Herz kalt. So kalt, dass es mich zum Mörder hat werden lassen.
Genau diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich auf der Treppe vor dem Einfamilienhaus mit Garage und herbstlich goldenem Apfelgarten in Oslo-Kjelsås stand. Ich war ein Mörder.
Es war Samstagabend, kurz vor acht, und ich hatte gerade auf den Klingelknopf gedrückt. Darunter hing ein kleines, herzförmiges Keramikschild mit der Aufschrift ›Hier wohnt die Familie Halden‹, ergänzt durch einen Smiley.
Ich weiß nicht, ob ich an mich als Mörder dachte, weil ich schon in diesem Moment ein schlechtes Gewissen hatte oder weil ich mir ins Gedächtnis rufen wollte, dass ich diese Seite in mir habe und schon schlimmere Sachen gemacht hatte.
Mein Herz schlug schneller, als ich drinnen Schritte hörte. Immer mit der Ruhe. Scheiß drauf und bring es hinter dich.
Die Tür ging auf.
»Guten Abend?«
Der Mann war größer, deutlich größer als ich mit meinen 175 Zentimetern. Schlank, fast dünn. Graue Haare, junges Gesicht. Er war 41 Jahre alt, das hatte ich vorher gecheckt. Hinter ihm im Flur hingen zwei Matschanzüge, darunter Schuhe in allen Größen, das übliche organisierte Chaos von Familien mit kleinen Kindern. Laut Grundbuchauszug, den ich im Internet eingesehen hatte, gehörte ihnen das Haus seit vier Jahren. Ich tippte darauf, dass Bent Haldens Frau auf die Idee mit dem Eigenheim gekommen war, als sie mit dem zweiten Kind schwanger gewesen war, weil sie bald mehr Platz brauchten. So was in der Art war jedenfalls ihrem Insta-Konto zu entnehmen. Während er vermutlich lieber ein Haus etwas weiter oben am Hang und damit näher an den Joggingstrecken und Skigebieten gehabt hätte. Bei Google tauchte sein Name auf diversen Teilnehmerlisten von Ski- und Orientierungslaufwettbewerben auf. Die letzte Teilnahme lag inzwischen ein paar Jahre zurück, vermutlich fehlte ihm die Zeit zum Trainieren. Zwei Kinder sind nämlich mehr als doppelt so viel wie eins. Vielleicht war auch die Firma, die er gemeinsam mit Jon Fuhr gegründet hatte, der Grund – Selbstständigkeit hat ihren Preis. Natürlich waren das alles nur Vermutungen, ich war mir aber ziemlich sicher, dass ich recht hatte. Die Firma hieß GeoData und hatte den Auftrag, die geologischen Gegebenheiten eines möglichen Todde-Tunnels zu analysieren, durch den die neue Trasse des Riksveis verlaufen sollte, der heute noch durch Os führte. Die immer schon durch Os geführt hatte, auch schon lange bevor die Straße 1931 zum Riksvei erklärt worden war.
Ich räusperte mich. »Roy Opgard. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.« Ich versuchte, mein joviales, vertrauenswürdiges Bauer-in-der-Stadt-Gesicht aufzusetzen. Nicht gerade meine Spezialität, vermutlich sah ich noch immer aus wie Roy. Und damit etwas grüblerisch, verschlossen, reserviert. Zu meinem Glück scheine ich damit aber zu dem Typ Mensch zu gehören, dem die Leute in diesem Land vertrauen. Vermutlich glauben wir wirklich, dass es einen Zusammenhang zwischen Schüchternheit, sozialen Hemmungen und Ehrlichkeit gibt. Nun, ich vertraue eigentlich auch darauf, also lassen wir das.
Bent stieß ein lang gezogenes »Aaah« aus, ein Zwischending zwischen »ja« und »keine Ahnung«.
»Ich habe Ihr Auto repariert, als Sie für einen Auftrag in Os waren«, half ich ihm.
Bent machte mit dem Zeigefinger eine Art Peitschenschlag. »Natürlich! Gute Arbeit haben Sie da geleistet.« Seine Stirn zog sich besorgt in Falten. »Habe ich etwa die Rechnung nicht bezahlt?«
»Doch, doch.« Ich versuchte mich an einem Lachen. »Sorry, ich hätte vorher anrufen sollen, aber bei uns auf dem Land ist es üblich, einfach so vorbeizukommen und an der Tür zu klingeln. Ich war in Polen, bin eben erst gelandet, und als ich in die Stadt kam, ist mir wieder eingefallen, dass ich noch so ein Teil von Ihnen im Handschuhfach habe. Das hier.«
Ich hielt es ihm vor die Nase und sah, dass Bent, wie erwartet, nicht die geringste Ahnung hatte, um was es sich handeln könnte. »Es ist mir erst aufgefallen, nachdem Sie den Wagen abgeholt haben. Ich hatte damals dummerweise vergessen, es wieder einzusetzen. Sie merken beim Fahren nichts davon, es ist aber besser, wenn es da ist. Wo steht Ihr Wagen?«
»Das Auto? Jetzt? Kann ich das nicht selbst montieren? Was ist das eigentlich für ein Ding?«
»Und wie wollen Sie es dann montieren?«
Bent sah mich lächelnd an und schüttelte den Kopf. »Da sagen Sie was.«
»Sie haben mich für eine Arbeit bezahlt, die ich ganz offensichtlich nicht gründlich ausgeführt habe. Es dauert nur fünf Minuten. Wo …?«
»In der Garage«, sagte Bent, schlüpfte aus den Hausschuhen, nahm den Schlüssel des Audis vom Haken und zog sich Joggingschuhe an. »Camilla! Ich bin mal kurz in der Garage!«
Die Antwort kam irgendwo aus dem Haus. »Aber Sigurd muss jetzt ins Bett gebracht werden.«
»Fang schon mal an. Ich übernehme dann das Lesen.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte Bent über das Knirschen des Kieses auf dem Weg zu der großen weißen Garage hinweg. Ich war auf die Frage nicht vorbereitet und schüttelte den Kopf, schob krampfhaft den Gedanken beiseite, dass sie jetzt sieben Jahre alt gewesen wäre. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es ein Mädchen geworden wäre, irgendwie glaube ich aber immer mehr daran. Ich schluckte. Der Kloß in meinem Hals ist mit den Jahren etwas kleiner geworden, weigert sich jedoch, ganz zu verschwinden.
»Sie betreiben also diese Autowerkstatt in Os?«, fragte Bent in freundlichem Ton.
»Nein, die ist längst geschlossen. Aber ich bin ausgebildeter Automechaniker und kümmere mich hin und wieder um ein paar Autos. Eigentlich mehr zum Spaß. Ich betreibe die Tankstelle neben der alten Werkstatt.«
Vor der Garage hob Bent den Autoschlüssel an. Das Garagentor öffnete sich automatisch. Es war eines dieser wirklich teuren Modelle. Heute hätte Bent sicher eine andere Wahl getroffen.
»Ja, jetzt erinnere ich mich. Mir hat jemand im Ort den Tipp gegeben, mich an Sie zu wenden. Sie sind der Bruder dieses … dieses …«
»Carl Opgard ist mein Bruder«, sagte ich.
»Ja.« Bent lachte, als wir in die Garage gingen. »Der König von Os.«
Mir entging nicht, dass ihm noch im selben Moment aufging, wie herablassend das klang. Als wäre Os ein kleines Scheißkaff, in dem Carl wie irgendein komischer König herumstolzierte. Der König auf dem Misthaufen.
»Ich … meinte das nicht so … mir ist nur, als ich da war, aufgefallen, dass ihm fast der ganze Ort gehört.«
»Ihm gehört ein Großteil von Os Spa. Schließen Sie das Auto auf?«
»Ja, aber ist man dann nicht auch König von Os?«
Ich setzte mich auf den Fahrersitz, und Bent schob sich neben mich. Ich nahm einen Schraubenzieher, löste die Verkleidung unter dem Lenkrad und begann zu arbeiten. Bent sah mir mit gespieltem Interesse zu.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte ich, während ich die Kabel hin und her schob. »Aus Ihrem vorläufigen Bericht entnehme ich, dass Sie das Gestein für den Tunnelbau für geeignet halten?«
»Das ist richtig, ja.«
»Hm. Und wie sicher sind Sie sich?«
»Ziemlich sicher.«
»Kann man das bei den Gesteinsschichten, die man gar nicht sieht, denn sein?«
»Schon. Aber natürlich gibt es bei der Auswertung seismischer Daten immer eine gewisse Unsicherheit.«
»Und Sie – oder besser gesagt Ihre Firma, nehmen diese Auswertung vor und ziehen die entsprechenden Schlüsse daraus?«
»Ja. Mein Partner und ich.«
»Jon Fuhr.«
»Ja, ja. Wir sind die geologischen Sachverständigen.«
»Ihnen gehören sechzig Prozent, ihm vierzig. Was machen Sie, wenn Sie sich mal nicht einig sind?«
»Ui, Sie wissen aber viel über uns. Woher …?«
»Ach, dafür muss man nur einen Blick in das Firmenregister in Brønnøysund werfen. Ich wollte neulich die Bilanzen einer amerikanischen Firma überprüfen, die Achterbahnen herstellt. Nicht so leicht, das kann ich Ihnen sagen. Dabei ist mir wieder klar geworden, wie selbstverständlich für uns hier in Norwegen die Transparenz ist. In unserem Land...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Übersetzer | Günther Frauenlob |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brüder • Cold Case • Eifersucht • Ermittler • Freizeitpark • Geschwister • Geschwisterliebe • Hass • Hotel • Kain und Abel • Krimi • Kriminalfall • Kriminalroman • Leiche • Liebe • Mord • Natur • Norden • Polizei • Rivalen • Spannung • toxische männlichkeit • Wettkampf |
ISBN-10 | 3-8437-3303-1 / 3843733031 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3303-8 / 9783843733038 |
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