Die Schwestern von Krakau (eBook)

576 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-28113-7 (ISBN)
Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Die Leidenschaft für Familiengeheimnisse und die Faszination für die deutsch-französische Geschichte vereint Bettina Storks immer wieder in ihren vielschichtigen Romanen. Die Autorin lebt und arbeitet am Bodensee.
Ausgesetzt
In einer Barke von Nacht
Trieb ich
Und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlaß.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.
Mascha Kaléko »Die frühen Jahre«
PROLOG
Krakau, April 1943
Die untergehende Sonne taucht die Stadt an der Weichsel in ein diffuses Licht. Aus ihrer Gefängniszelle kann Gusta Dawidson Draenger nur auf den Zehenspitzen stehend durch einen kleinen vergitterten Schacht nach draußen sehen. Sie erkennt Ausschnitte von einem Gebäude, die Stiefel der Wachtposten. In der Ferne Stacheldraht, ein Wachhaus. Irgendwann hat die meistgesuchte Widerstandskämpferin Krakaus jegliches Zeitgefühl verloren. Sie orientiert sich an Geräuschen, am Lichteinfall.
Wie lange schon sitzt sie hier ein, in diesem drei Quadratmeter großen Raum mit nichts als einem Eimer für ihre Notdurft und einer Pritsche? Wochen, Monate? Manchmal schieben sich vorbeiziehende Wolken am Himmel vor die Sonne und werfen Schatten in die feuchte Zelle mit der Nummer 15. Sie stellt sich vor, wie sie hoch über den Dächern ihrer Heimatstadt, jener, in der sie vor sechsundzwanzig Jahren geboren wurde, weiterziehen.
Tagtäglich hört sie das Geschrei der Wächter im Gefängnis. Sie brüllen, obgleich alle Insassen umgehend ihre Befehle befolgen. Genauso haben die Deutschen auf den Plätzen des Ghettos gebrüllt, auf den Straßen, vor den Geschäften, bei Festnahmen, bei Appellen, bei Aussiedlungen, wie sie ihre Deportationen zynisch genannt haben.
Noch furchterregender sind jedoch diejenigen Deutschen, die schweigen, das hat Gusta in den zwei Jahren im Ghetto gelernt. Aus dem Nichts konnten sie eine Waffe ziehen, wahllos auf Menschen schießen und anschließend ihre Hunde streicheln.
Der jüdische Widerstand Akiba hat sich von alldem nicht einschüchtern lassen, nicht von Schlägen, nicht von Schreien oder Drohungen, nicht von den grausamen Verhörmethoden der Deutschen. Gusta hat aufgehört, die Folterungen zu zählen, bei denen sie irgendwann ohnmächtig wurde, weil ihr schmaler Körper die Schmerzen nicht mehr aushielt.
»Wie heißen deine Komplizen? Namen, wir brauchen Namen, du jüdische Schlampe! Wer hat das Attentat geplant?«
Gusta hat Wunden davongetragen, seelische und körperliche, aber ihr innerer Widerstand ist daran nur gewachsen. Wut kann ungeahnte Kräfte bündeln. Besonders schlimm ist der Schlafentzug, das permanente An- und Ausgehen des Lichts in der Sonderzelle. Dort bleibt ihr nur das Gebet.
»Wir müssen die Kühnheit unserer Angreifer besitzen, um gegen unsere Peiniger zu bestehen«, hat Marek seine Mitstreiter immer wieder angetrieben. Stets hat er mit kühlem Kopf, ganzem Einsatz, voller Leidenschaft gekämpft.
Sein richtiger Name lautet Shimshon Draenger, Tarnname Marek – ein großer Mann mit dunklem Teint, verschlossenem Blick, der sich nie zu emotionalen Ausbrüchen hinreißen lässt. Ein liebender Ehemann, ein Kämpfer, dem einige Gleichgesinnte aus diesem Grund eine gewisse Gefühlskälte zuschreiben. Gusta aber weiß es besser. Sie kennt seine Sensibilität, seine Sanftmut, seine Zärtlichkeit.
Gusta wendet sich vom Fenster ab und lässt ihren Blick durch die armselige Zelle wandern, über die Pritsche, den Eimer, den stillgelegten alten Ofen, in dem sie kurz nach ihrer Inhaftierung eine verrostete Blechdose gefunden hat.
Um den Verstand nicht zu verlieren, hat sie angefangen zu schreiben. Auf Klopapier, das einzige Papier, das es hier drinnen gibt. Über das Leben und Sterben im Ghetto, über die Heldentaten von Akiba, über ihre effiziente Logistik.
Noch einmal durchlebt sie die Tage und Jahre im Widerstand, die Idee von Gemeinschaft, spürt das Band unzähliger Freundschaften, das Wunder der Haltung, die keine Mauern zum Einsturz bringen konnten, die aber ihre Tapferkeit schulte, ihren unbändigen Überlebenswillen. Für das Überleben zählt jede Stunde, jede Sekunde, jedes gesprochene Gebet.
Sie haben gekämpft – bis zu jenem schicksalhaften Dezemberabend im Jahr 1942, einer Nacht, in der eine neue Zeit angebrochen ist.
Erschöpft rutscht Gusta mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und zieht die Knie an die Brust, den Kopf in ihre Hände gelegt. Ihr Gesicht brennt.
Sie greift nach dem Papier und dem einzigen Stift, den sie besitzt, und beginnt zu schreiben.
Aus dieser Gefängniszelle, die wir nie mehr lebend verlassen werden, grüßen wir jungen, todgeweihten Kämpfer Euch.
Mit glühender Stirn vollendet sie ihr einsames Ritual. Tagebuch einer Partisanin nennt sie ihren Zeugenbericht. Sie schreibt an gegen ihren Husten, das Fieber, das am Abend steigt und sie an den Rand ihres Verstands bringt. Sie hat die Tarnnamen ihrer Mitkämpfer notiert, sich selbst voller Stolz Justyna, die Gerechte, genannt. Die vielen Pseudonyme schwirren durch ihren Kopf, dahinter stehen Menschen, Schicksale, die Taten stiller Helden – Täter, Verräter auf der anderen Seite, auch welche aus ihren eigenen Reihen. Für diejenigen, die diesen schrecklichen Krieg überleben werden, mag das, was sie geleistet haben, ein Wimpernschlag im kollektiven Gedächtnis der Weltgeschichte sein, für den jüdischen Widerstand ist das Wort Wehrhaftigkeit kein leeres. Solange sie gekämpft haben, fühlten sie sich lebendig. Solange sie einander hatten, waren sie nicht allein. Sie kämpfen für ihr Volk, für dessen Ehre.
’s brennt! Brüder, hört, es brennt
nehmt die Eimer, löscht das Feuer!
Das Lied des Krakauer Ghettos legt sich auf Gustas entzündete Stimmbänder, brennt in ihrem Herzen, genau wie in jeder einzelnen Zeile ihres Berichts.
In Gedanken geht sie dorthin, wo alles begann. Das Tor zum Ghetto öffnet sich, und sie tritt ein. Über dem Portal prangt der Davidstern. Ab jetzt muss sie nur der Blutspur folgen.
Heute ist das Ghetto menschenleer.
Was ist geschehen?
In ihrem Tagtraum macht Gusta vor einem schwarz verfärbten Sandsteingebäude mit einem verblassten Schriftzug an der Hauswand halt. Es befindet sich auf dem Zgody, dem Platz der Einheit, jenem Ort, wo die Deportationen stattfanden. Einst hieß er Friedensplatz.
Gusta schreckt auf. Ihr Stift ist heruntergefallen. Sie hebt ihn auf und schreibt mit zittriger Schrift weiter.
Wenn sie schon sterben müssen, dann aufrecht in ihren Stiefeln.
Vor Erschöpfung fallen ihr wieder die Augen zu, ihr Kopf kippt zur Seite. Langsam geht sie in ihren Erinnerungen die Stufen hinauf in das Ladengeschäft des schwarz verfärbten Gebäudes. Fast glaubt sie das helle Klingeln des Glöckchens zu hören, zärtlich und leise wie eine Spieluhr. Gusta schlägt der scharfe Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Ein hochgewachsener Mann mit strahlend weißem Hemd und einer schwarzen Fliege steht hinter dem Tresen, wiegt ein Pulver auf einer Apothekerwaage ab.
Dicht an dicht stehen Menschen in zerrissener Kleidung an und warten auf ein Wunder. Niemand drängt sich vor. Ein Bollerofen verströmt Wärme.
Hinter einer Durchreiche zum Labor sieht sie eine Frau, die sie aus Kindertagen kennt. Deren Schwester Helene ist eine herausragende Geigenspielerin und war einmal Gustas einzige arische Freundin.
Aber Helene ist fortgegangen.
»Gusta«, hört sie plötzlich wie aus der Ferne eine Stimme, reißt sie aus ihren Träumen heraus. Die vertraute Stimme einer Mitstreiterin. Ihr Name ist Genia Meltzer. Gusta stutzt, lauscht, runzelt die Stirn und blickt zum Fenster. Dies ist die Gegenwart, das Jetzt, alles, was noch zählt.
Verwirrt geht sie zum Fensterschacht, umklammert das Gitter und zieht sich auf den Zehenspitzen stehend nach oben. Spielt ihr ihre Fantasie einen Streich?
»Hörst du mich, Gusta?«
Die Stimme kommt aus einer Zelle über ihr.
»Ja«, flüstert sie und neigt den Kopf.
»Im Warschauer Ghetto hat der Aufstand begonnen. Sie kämpfen mit Waffen, haben sich in den Häusern verbarrikadiert.«
Wie unheimlich die Stimme klingt. Wie ein Trauerschleier legt sich die Dunkelheit über die Welt da draußen.
Gusta schlägt das Herz bis zum Hals.
»Halte dich bereit, Gusta«, sagt Genia. »Die Deutschen wollen uns nach Plaszów bringen, bald schon. Wir fliehen, sobald wir durch das Tor gegangen sind, in alle Himmelsrichtungen. Du läufst nach Osten!«
Plaszów – das bedeutet das Arbeitslager auf einem Hügel von Krakau, eines, in dem sich der Sadist Amon Göth hemmungslos an den Schwächsten der Schwachen austobt.
»Sie werden uns töten, ein Exempel statuieren«, flüstert Gusta in die kühle Nacht. »Sie wollen den Aufstand von Warschauan uns hier in Krakau rächen. Sie werden nicht lange herumfackeln.«
Genia unterbricht sie schroff. »Stell dich nicht in die Mitte des Pulks, sondern am Rand auf. Spitz die Ohren. Warte auf das Kommando: s’ brennt. Unser Schtetl brennt! Sobald du unser Lied vernimmst, läufst du los! Treffpunkt ist Bachun, unser Bunker im Wald.«
»Marek«, fragt Gusta, fast ohnmächtig vor Angst um ihn. »Was ist mit Marek? Weißt du, wo er …? Lebt er?«
Einen Moment zögert Genia. »Der Barmherzige beschütze uns alle«, presst sie schließlich hervor, ehe sie verstummt.
Gusta lässt sich wieder auf den Boden sinken, zurück zu ihrem...
Erscheint lt. Verlag | 27.12.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 2024 • beauvallon • Die Kinder von Beauvallon • dramatische Lebensgeschichte • eBooks • Familiengeheimnis • Famliengeschichte • Frankreich • gut recherchiert • Historische Romane • Jüdischer Widerstand • Krakauer Ghetto • lesemotiv eintauchen • Neuerscheinung • Roman auf zwei Zeitebenen • Spiegel Bestseller Autorin • transgenerationale Traumatisierung • von wahren Ereignissen inspirierter Roman |
ISBN-10 | 3-641-28113-X / 364128113X |
ISBN-13 | 978-3-641-28113-7 / 9783641281137 |
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