Fräulein Gold: Nacht über der Havel (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01838-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fräulein Gold: Nacht über der Havel -  Anne Stern
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Berlin, 1930: In der Stadt brodelt es gewaltig. Wirtschaftskrise und politische Instabilität rufen immer radikalere Kräfte auf den Plan. Auch Hulda spürt, dass die vermeintlich goldenen Jahre vorbei sind. Umso engagierter kümmert sie sich als Hebamme um die Belange von Frauen und Müttern. Als sie einer Schwangeren helfen will, stößt sie auf einen mysteriösen Todesfall im Dunstkreis der Familie: Die jüngere Schwester Jutta ist Teil einer Jugendgruppe, die sich nachts an der Havel trifft. Die Jugendlichen singen und feiern zusammen. Doch dann wird am Ufer ein Student tot aufgefunden. Er war der Anführer von Juttas Gruppe - und ihr heimlicher Schwarm. Aber war sein Tod wirklich ein Unfall bei einem nächtlichen Abenteuer? Bald ahnt Hulda, dass die Zusammenhänge größer sind als angenommen. Eine Jugend ohne Zukunft sucht in unruhigen Zeiten verzweifelt nach Halt. Und ist bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen ...

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Prolog


Samstagnacht auf den 13. Juli 1930

Ein Käuzchen schrie im Zwielicht zwischen den Stämmen der Fichten und Kiefern, und Jutta spürte, dass Louise einen Moment stehen blieb und schmerzhaft ihre Hand umklammerte. Unter ihren Füßen knackten kleine Zweige und Kienäpfel, während sie sich weiter, Seite an Seite, durchs Dunkel tasteten. Louises Kleid schimmerte weiß im schwachen Lichtschein, ein halber Mond schaukelte hoch oben über den Tannenwipfeln und leuchtete ihnen notdürftig auf ihrem Weg. Wenn sie nur endlich die Hütte fänden, von der Joachim gesprochen hatte! Er hatte sie extra für die Gruppe gebaut, und nun mussten sie sie unbedingt aufspüren. Am besten, bevor die anderen es taten, denn es war schließlich ein Wettstreit.

Jutta hatte nicht viel für diese Abenteuer übrig, wie Joachim ihre nächtlichen Aktionen nannte. Doch sie wollte es um keinen Preis zugeben. Am Ende würde man sie aus der Wandervogel-Gruppe ausschließen – nein! Außerdem sollte sie nicht mehr dieses Wort benutzen, sondern von Bewegung sprechen, erinnerte sie sich, während sie mit pochendem Herzen Fuß vor Fuß setzte. So bläute Joachim es ihnen andauernd ein, er und die anderen älteren Studenten, die bei der Bündischen Jugend den Ton angaben. Nur dann würden die anderen Verbände – die Pfadfinder, die Adler und nicht zuletzt die Deutsche Freischar – ihre kleine Steglitzer Gruppe als gleichwertig anerkennen. Und das, obwohl ja in Steglitz die erste Wandervogelbewegung überhaupt gegründet worden war, anno 1896, wie Joachim stets hochmütig betonte. Doch daran erinnerten sich die anderen deutschen Jugendgruppen wohl nicht mehr.

Das alles interessierte Jutta nur sehr wenig. Ihr waren ganz andere Dinge wichtiger – das gemeinsame Singen, das Sitzen ums prasselnde Feuer, wenn die Sonne blutrot hinter dem Steglitzer Fichtenberg unterging, die Gemeinschaft mit ihren Freundinnen und Freunden. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie liebend gern auf die mitternächtlichen Abenteuer mit all ihren Schrecken und düsteren Ritualen verzichten können. Doch es ging nicht nach ihr. Als Allerletztes fragte man sie, das einzige jüdische Mädchen im Bund, nach ihrer Meinung zu den Dingen.

Etwas rauschte ohne Vorwarnung durch die Luft, und Jutta zuckte zusammen. Sie spürte, wie auch Louise neben ihr schauderte, als das Käuzchen, das eben geschrien hatte, plötzlich mit weiten Schwingen über ihre Köpfe hinwegflog. Doch keine von ihnen sagte ein Wort, sie schlichen weiter durch den dunklen Grunewald. Dort hinten, hinter dem undurchdringlichen Dickicht aus Bäumen, Sträuchern und Moos, musste die Havel liegen. Jutta meinte in einigen Momenten, wenn der Wind sich kurz legte, das Wasser der Wellen gegen den kleinen Strand schlagen zu hören.

Tagsüber war sie schon oft hier gewesen, zuletzt mit ihrer Klasse auf einem Badeausflug kurz vor den Sommerferien. Sie war mit ihren Mitschülerinnen aus der Auguste-Viktoria-Schule mit der neuen elektrischen Stadt-Schnellbahn hergefahren, in Begleitung von Fräulein Krugmacher und Fräulein Lustig, den Klassenlehrerinnen. Der Sand an der Badestelle war fein und weich gewesen, das Wasser klar, und der Ort hatte wie ein breites Fenster im Wald gewirkt, von dem aus man aufs Wasser hinaussehen konnte. Und als Jutta das bei einem ihrer Treffen mit Joachim erwähnt hatte, hatte er entschieden, dass dieser Schauplatz unbedingt für seine nächste nächtliche Aktion herhalten musste. Alle anderen – Louise, Hedi, Joachims jüngerer Bruder Günther, sogar Wolf – hatten sofort zugestimmt, wie beinahe jedes Mal, wenn Joachim etwas vorschlug. Es war eigentlich gar kein Vorschlag, wenn er etwas vortrug, sondern immer ein Befehl. Manchmal meinte Jutta, in den Gesichtern einiger anderer Mitglieder ihrer Gruppe ebenfalls eine leise Skepsis gegenüber dem Tonangeber zu lesen, doch nie erhob jemand das Wort gegen ihn. Und Jutta tat es ganz bestimmt nicht. Die wenigen Male, in denen sie erlebt hatte, wie Joachim auf Kritik reagierte, hatten ihr gereicht.

Es war ja auch eigentlich gar nicht so schlimm, nachts durch den Wald zu gehen, es hätte sogar ganz romantisch sein können. Auf jeden Fall war es eine Abwechslung zum sonstigen Trott in der Schule und daheim.

Jutta fasste Louises Hand fester, als die Freundin erneut stehen blieb, sie von der Seite ansah und flüsterte: «Meinst du, es ist noch weit?»

«Ich weiß es nicht», wisperte Jutta zurück. Das gehörte auch zu den nächtlichen Ausflügen – dass man alles nur im Flüsterton äußern durfte, um den Zauber des Abenteuers nicht zu zerstören. Dass man so tat, als wäre man wirklich auf geheimster Mission unterwegs, mit einem Auftrag, der staatsbedeutend war. «Als wir mit Fräulein Lustig hier bei Tag langliefen, sah alles so anders aus.»

«Aber die Richtung stimmt», sagte Louise und zog sie weiter. «Komm, vielleicht gewinnen heute einmal wir den Preis, das wär doch knorke!»

«Ich wette, Günther ist schneller als wir am Ziel», sagte Jutta und ließ sich mitziehen. Leiser fügte sie noch hinzu: «Ich mache mir ohnehin nichts aus Joachims Zigaretten und dem Schnaps.»

Louise kicherte. «Ich finde es toll», sagte sie. «Man fühlt sich nach ein paar Schlucken so herrlich leicht und frei. So, als könnte man alles wagen.»

Wieder warf Louise ihr einen Blick im Dunkeln zu. Jutta erkannte das Gesicht der Freundin nur schemenhaft, den Rest erschloss sie sich aus der Vertrautheit vieler gemeinsamer Schuljahre. Helles Haar umschloss die feinen Züge und die weichen Wangen. Louise war eine elfengleiche Schönheit, die sich dessen als Einzige nicht bewusst war. Sie hatte trotz ihrer siebzehn Jahre noch etwas Kindliches, über das Jutta, die nur wenige Monate älter war, manchmal lächeln musste.

«Joachim sieht sehr gut aus mit dem Schnurrbart, den er sich wachsen lässt, findest du nicht?», flüsterte sie jetzt und schlug sich kieksend eine Hand auf den Mund. «Wie Charlie Chaplin.»

Jutta schwieg, während sie langsam weitergingen. Ja, Joachim sah gut aus, sehr gut sogar mit seinem dunklen gescheitelten Haar und den markanten Zügen. Er hätte ohne Weiteres eine ebenso perfekte Figur auf der Kinoleinwand gemacht wie Louises Idol Chaplin. Joachim gefiel ihr. Und Jutta wusste, dass sie auch ihm gefiel. Manchmal berührte er sie an der Schulter oder strich ihr wie zufällig übers Haar, und dann bemerkte sie den eifersüchtigen Blick, den Louise ihr zuwarf. Doch sie zuckte unter Joachims Berührungen stets zurück. Etwas an ihm jagte ihr einen Schauder über den Rücken, wenn er ihr zu nahe kam. Es hatte mit seinen Augen zu tun, die immer seltsam kühl wirkten, und mit den Pupillen darin, die so groß und schwarz waren. Aber auch mit seiner Unberechenbarkeit, wenn er über einen Scherz erst überbordend lachte und dann mitten im Lachen abbrach und in kaltes Schweigen fiel.

Doch er war nun einmal der unangefochtene Anführer – noch vor Wolf, dem Zweitältesten der Gruppe –, und Jutta hatte nicht vor, es sich mit ihm zu verscherzen. Um nichts in der Welt hätte sie ihren Platz in der Mitte gefährdet. Was bliebe ihr denn noch, wenn man sie ausschlösse? Ihre Freundinnen im Lyzeum würden sie fortan schneiden, so, wie sie es schon mit Rosalind gemacht hatten, als deren Eltern ihr die Teilnahme an der Jugendgruppe verboten hatten. Jutta würde fortan jeden Nachmittag und auch am Wochenende zu Hause in der Steglitzer Wrangelstraße hocken und ihrer älteren Schwester, die bald ein Kind bekommen würde, zur Hand gehen müssen. Vorbei wäre es mit den Liederwettbewerben auf dem Fichtenberg, mit den Wanderungen im Elbsandsteingebirge, wohin sie regelmäßig mit der Bahn fuhren, mit den Lagerfeuern und Freundschaften. Eine nächtliche Suche nach einer Reisighütte und eine kreisende Schnapsflasche, an der sie eben nippen musste, waren da das kleinere Übel.

Und selbst Joachims kalte Finger, die ihr ab und an über den Arm strichen, würde sie weiterhin als Tausch dafür in Kauf nehmen.

Ein paar Meter vom Weg entfernt knackte plötzlich ein Zweig, und Jutta fuhr zusammen. Auch Louise schien erstarrt. Beide Mädchen wagten nicht, sich zu bewegen. Atemlos lauschten sie in die Finsternis hinein.

Vor den Mond hatte sich eine große Wolke geschoben, das Licht war beinahe ganz versiegt. Der Duft des Sommerwaldes stieg Jutta in die Nase, es roch nach dunkler Erde und feuchtem Moos, und sie horchte noch angestrengter in die Nacht. War da nicht ein Grunzen gewesen? Eine Schrecksekunde lang dachte sie, dass sie vielleicht ein Wildschwein aufgescheucht hatten oder sogar einen der Wölfe, die angeblich wieder in den Berliner Wäldern hausten. Dann brach etwas durch die Zweige des Gebüschs, jemand lief mit hocherhobenen Armen auf sie zu und jaulte lang gezogen. Die Gestalt brach in Lachen aus, und durch Juttas Adern schoss so tiefe Erleichterung, dass ihr die Knie weich wurden. Ein Wildschwein trug normalerweise keine Schiebermütze auf dem Kopf und schon gar nicht hatte es eine Gitarre mit einem breiten Flechtband auf den Rücken geschnallt.

«Günther!», japste sie und fiel dem jungen Mann lachend um den Hals. «Du hast mich zu Tode erschreckt.» Einen Moment lehnte sich Jutta an ihn und spürte seine Wärme, ehe sie sich von ihm löste.

«Das würde ich nie tun», sagte er mit seiner freundlichen Stimme. «Eine so feine Gefährtin wie dich? Ich müsste verrückt sein.»

«Du Armleuchter!» Nun lachte auch Louise und hielt sich an ihrem langen Zopf fest, den sie sich wieder und wieder ums Handgelenk schlang. «Warum heulst du denn hier herum...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2024
Reihe/Serie Die Hebamme von Berlin
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1920er Jahre • 1930er Jahre • Alleinerziehende Mutter • Antisemitismus • Berlin Krimi • Berlin Roman • Deutsche Geschichte • Frauenleben • Frauenleben 20. Jahrhundert • Hebamme • historienromane • historische Buchreihe • historischer Krimi Deutschland • Historischer Liebesroman • historische romane 20. jahrhundert • historische Roman-Serie • Historischer Roman • Hitlerjugend • Jugendbewegung • Jugendliche • Jugendorganisation • Kindheit • Kommissar • Kriminalroman • Krimi-Reihe • Liebesroman • Schicksal • Spiegel-Bestsellerautorin • Starke Frau • Todesfall • Wandervogelbewegung • weibliche Ermittlerin • Weibliche Kriminalpolizei • weiblicher Ermittler • Weimarer Republik
ISBN-10 3-644-01838-3 / 3644018383
ISBN-13 978-3-644-01838-9 / 9783644018389
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