Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12350-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe -  Myriam Lacroix
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Zwei Frauen, eine Liebe, unzählige Beziehungsmöglichkeiten Was wäre, wenn wir die Geschichte eines Paares immer und immer wieder erleben könnten? Bei Myriam und Allison ist das so: Sie verlieben sich, aber ihre Geschichte ist immer eine andere. Sie werden Eltern oder schreiben einen Bestseller, sie streiten sich oder verfallen in Sprachlosigkeit. Welchen Weg sie auch einschlagen, immer begegnen ihnen die vielen Versprechungen und Gefahren der Liebe. Bissig, unerschrocken und konsequent bis zum letzten Satz erzählt Myriam Lacroix in diesem Roman von den unendlichen Möglichkeiten der Liebe und legt dabei das Herz unserer Beziehungen offen. Als Myriam und Allison sich auf einer Party in einem besetzten Haus schlagartig ineinander verlieben, entspinnen sich verschiedene Versionen ihrer Beziehung. Was wäre, wenn sie in einer Gasse ein Baby finden und es aufnehmen würden? Was wäre, wenn Myriams Depression nur durch Allisons Körper geheilt werden könnte? Was wäre, wenn eine von ihnen erfolgreicher wäre als die andere? Myriam und Allison entscheiden sich immer wieder füreinander, sei es zu Beginn ihrer gemeinsamen Liebe oder nachdem sie in die unweigerlichen Untiefen ihrer langjährigen Beziehung geraten sind. Sie spüren in aller Konsequenz, was es bedeutet, wenn sie aufhören, miteinander zu streiten und stattdessen sprichwörtlich im Gleichschritt laufen. Mit trockenem Witz und herzzerreißender Offenheit erzählt Myriam Lacroix von Queerness, Liebe und unserem Wunsch nach Verbindung in allen möglichen Welten. »Was für ein kühnes, atemberaubendes und inspirierendes Debüt.« George Saunders

Myriam Lacroix wurde als Tochter einer Quebecerin und eines Marokkaners in Montreal geboren und lebt derzeit in Vancouver. Sie hat einen BFA in Kreativem Schreiben von der University of British Columbia und einen MFA von der Syracuse University, wo sie Chefredakteurin des Salt Hill Journal war und das 'New York Public Humanities Fellowship for creating Out-Front' erhielt, eine LBGTQ+-Schreibgruppe, deren Ziel es war, die Möglichkeiten des Queer Writing zu erweitern. George Saunders war einer ihrer Mentoren an der Syracuse University.

Myriam Lacroix wurde als Tochter einer Quebecerin und eines Marokkaners in Montreal geboren und lebt derzeit in Vancouver. Sie hat einen BFA in Kreativem Schreiben von der University of British Columbia und einen MFA von der Syracuse University, wo sie Chefredakteurin des Salt Hill Journal war und das "New York Public Humanities Fellowship for creating Out-Front" erhielt, eine LBGTQ+-Schreibgruppe, deren Ziel es war, die Möglichkeiten des Queer Writing zu erweitern. George Saunders war einer ihrer Mentoren an der Syracuse University. Anke Caroline Burger lebt nach ausgedehnten Reisen durch Nord-, Südamerika und Asien in Berlin und Zürich. Sie übersetzt aus allen englischsprachigen Ecken der Welt, u. a. die Bücher von Ottessa Moshfegh, Adam Johnson, Tanya Tagaq, Jon McGregor und Naoise Dolan.

Der Sinn des Lebens


Eigentlich hatten sie sich im Toby’s ein Bier holen wollen, stattdessen kamen sie mit einem Baby nach Hause, und damit waren sie auch einverstanden. Myriam und Allison hatten bisher noch nicht über Kinder geredet, aber jetzt hatten sie eins gefunden, und vielleicht hieß das ja, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Als Lesben ersparten sie sich so außerdem die Mühe einer Adoption und brauchten auch keinen ihrer Freunde zu überreden, mit ihnen zu schlafen.

Sie fanden das Kind in der Gasse hinter ihrem Wohnblock, neben einem ausgeweideten Sofa, Konfetti und Blut bedeckten den Boden. Hinter dem Toby’s hatte eine Schlägerei stattgefunden – während der Stand-up Comedy Night, ausgerechnet. So war das Toby’s. Myriam und Allison inspizierten das Sofa, ob es sich vielleicht in ein Kunstwerk verwandeln ließ, und bemerkten strampelnde Füßchen in einem Flanellkokon. Allison putzte ihre Brille, Myriam kniete sich hin und pikste das Bündel.

»Guck mal, wie ernst das Baby ist.« Myriam lachte. Sie strich ihm mit dem Finger über die runden Bäckchen und die gerunzelte Stirn. »Wie süß, ich liebe dieses Baby.«

»Es ist auf jeden Fall ein kritischer Denker«, pflichtete Allison ihr bei. »Mit so einem Baby ließe sich’s aushalten.«

Sie nahmen das Kind mit nach Hause und badeten es im Spülbecken. Sie rieben es sauber, bis es warm und zufrieden war, rubbelten es mit einem Geschirrhandtuch ab und schnupperten abwechselnd an seinem kleinen Kopf. Er roch nach Spülmittel, Duftnote Grüner Apfel.

Sie wickelten das Kind in einen Pullover und zeigten ihm die Wohnung. Die enge Küche mit der Zitronenscheibentapete. Die Boggle-Ecke. Die kaputten Spielsachen, die Allison in der Gasse fand und als Instrumente benutzte, und das Bad, dessen Wände mit roten Lippenstiftgedichten bedeckt waren, weil Myriam sich oft von der leeren Seite tyrannisiert fühlte und lieber im Bad schrieb. Dem Baby gefiel die Wohnung sehr gut. Es gluckste, streckte die Finger aus und wollte alles in den Mund stecken.

Sie polsterten neben ihrem Bett eine Rubbermaid-Box mit Decken aus, brachten es aber nicht übers Herz, ihren neuen Sohn hineinzulegen. Also kuschelten sie sich von beiden Seiten an ihn und schliefen ein, Haut an Haut, warm wie Hamster.

Jonah, weil sie niemanden mit dem Namen kannten. Sie hatten keine Ahnung, was Jonahs für Typen waren, und das Überraschungsmoment daran gefiel ihnen. Sie waren nicht die Sorte Eltern, die ihr Kind Mozart oder Beyoncé nennen. Sie einigten sich sogar sofort darauf, Jonah keinen übermäßigen Erfolg zu wünschen. Von zu viel Ehrgeiz bekamen die Menschen Magengeschwüre, oder sie produzierten schlechte Kunst.

Myriams Mom war die Erste, der sie davon erzählten, am Telefon. Eine verzweifelte Frau ohne Augen in den Höhlen habe sie gebeten, das Baby mitzunehmen und als ihr eigenes aufzuziehen. Das sagten sie, weil sie wussten, Myriams Mom würde nichts kapieren und sie damit nerven, dass sie keine Anstrengungen unternommen hatten, die Eltern ausfindig zu machen.

»Kinder sind teuer«, nervte sie trotzdem. »Wie wollt ihr die Windeln und den Zahnarzt bezahlen, oder, noch schlimmer, den Kieferorthopäden? Mit Allisons Job im Callcenter?«

Myriams Mom war überzeugt, Allison müsse die Familie ernähren, weil sie Männerhemden und kurze Haare trug. Sie hatte keine Ahnung vom Lesbischsein und keine Ahnung von ihrem Leben.

»Wenn du nicht versuchst, ein bisschen positiver zu sein, erzählen wir Jonah, er hat nur eine Großmutter«, sagte Myriam und drückte sie weg.

Dagegen boten Allisons Eltern an, eine verspätete Babyparty zu schmeißen, und Myriam und Allison luden alle ihre Freundinnen und Freunde ein. Myriam trug ihr goldenes Minikleid, Allison legte eine passende Goldkette um, und Jonah steckten sie in ein weiß-goldenes Kleidchen, das sie der Jesuspuppe im Heilsarmeeladen ausgezogen hatten.

Ihre Bekannten verkündeten, Jonah sei ein sehr süßes Baby, was hieß, aus ihm würde mal ein hässlicher Erwachsener werden. Das machte Myriam und Allison nichts aus. Hässliche Menschen mussten sich bessere Witze ausdenken oder einen siebten Sinn für Mode entwickeln.

Sie saßen auf Gartenstühlen am Pool, und Allisons Eltern füllten gelegentlich die Schüsseln mit Chips auf. Niemand schwamm. Myriams und Allisons Bekannte hatten es nicht so mit Schwimmen. Sie trugen eine Menge Schminke und aufwendig zu schnürende Stiefel.

»Ich muss unbedingt eine Fotosession mit Jonah machen«, sagte ihre Trans-Freund:in Ash. »Eine Mischung aus Anne Geddes und Marina Abramovics Balkan Baroque – kleine Hommage an Jonahs unklare Herkunft.«

Ash war das Beste, was bei Myriams Kunstbachelor herausgesprungen war, was Myriam Ash auch immer wieder sagte.

»Auf die krassesten Tanten und Onkel der Welt!« Myriam hob das Glas. »Und auf unser supersüßes Baby!«

Alle erhoben die Gläser und tranken sie leer. Myriam trank Limonade, nur für den Fall, dass ihre Brüste anfangen würden, Milch zu produzieren, weil sie mit dem Baby zusammen war, aber Allison soff wie ein Loch. Nach dem fünften Bier stellte sie sich aufs Sprungbrett und kreischte den Text eines Songs, den sie für Myriam geschrieben hatte.

»Bis unsere Ärsche runterhängen wie Sandsäcke! Bis unsere Pussys riechen wie Seetang! Sag, du liebst mich, Baby, sonst geh ich kaputt, mach ich den Abgang!«

»Okay, okay, ich liebe dich für immer!«, brüllte Myriam, als Allison immer näher auf den Rand des Bretts zurückte. Sie verdrehte die Augen, lachte und errötete hinter ihrem Haar. »Voll die Drama Queen!«

Allison sprang trotzdem rein, und Myriam watete ins Wasser, um sie zu retten, schlang die Arme um sie und küsste sie heftig mit Zunge. Sie knutschten im blau leuchtenden Wasser, bis Allisons Mom rief, die Pizza sei da, dann wrangen sie ihre Klamotten aus und hockten sich wieder zu ihren Freund:innen. Ash ließ einen deren berühmt-berüchtigten Joints am Pool herumgehen, und Kamran verpasste Jonah einen Undercut mit Mini-Leopardenmuster an der Seite. Allison machte Musik, auf einem Synthesizer, den sie in ihrem alten Kinderzimmer aufgetrieben hatte, und ihr bester Kumpel Nate trommelte auf den Terrassenmöbeln. Sie spielten Space-Age-Versionen von Schlafliedern, und alle tanzten und schlängelten ihre Hände dem dunklen Nachthimmel entgegen.

Kurz vor Sonnenaufgang wurden sie von Allisons Dad heimgefahren, und Allison kotzte ein dünnes Rinnsal auf den Boden des Familienvans. Als sie zu Hause waren, schliefen Allison und Jonah sofort ein, aber Myriam lag wach und dachte über den Sinn des Lebens nach.

Myriam und Allison hatten sich bei einem Konzert in einem ziemlich abgewrackten Punkerhaus in East Vancouver kennengelernt, als Myriam an der Uni war. Allison hatte gerade ein Set beendet und fragte Myriam, ob sie ihren letzten Song »derivativ« fände. Dieses Wort hatte Myriam noch nie gehört, aber so, wie Allison die Frage stellte, mit verschwitzten Haaren, ernst und verletzlich, wollte Myriam auf der Stelle mit ihr ins Bett. Zwei Jahre später waren sie so verliebt, dass sie das Gefühl hatten, in einem Traum zu leben, nur in den Nächten befiel Myriam manchmal Angst. Sie war bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, und wenn ihr Vater sie aufs Neue bedrohte, zogen sie um. Sie wusste nicht, wie man aus der Liebe eine sinnvolle Geschichte spann, und wurde häufig von existenziellen Abwärtsspiralen nach unten gezogen.

Myriam betrachtete Jonah, der die Zehen in seinen Pandasöckchen einkrallte. Sie war nicht der Meinung, dass Kinder dem Leben einen Sinn gaben. Die Kleinfamilie war ein Konzept, das dieselben Leute erfunden hatten, die einen dazu bringen wollten, Vollzeit zu arbeiten oder Kunst für Geld zu verkaufen. Und trotzdem: Als sie Jonah Allison von der Brust nahm und im Arm hielt, spürte sie die exakten Dimensionen ihres Glücks, sein Gewicht, seinen feuchten Atem. Es war kein Traum.

Myriam konnte nicht aufhören, an Jonahs Nacken zu riechen. Im Laden, im Bus, wenn sie ihm die Windeln wechselte. Sein Geruch war berauschend wie der von Permanentmarkern oder frischen Blumen. Allison fand eine Tüte mit Stricksachen im Müllcontainer und fing an, Mützen und kleine Pullis für Jonah zu stricken, alles aus derselben lila Wolle. Myriam lernte kochen. Nach ihrer Schicht im Café kam sie nach Hause, weichte Brot in Milch und Zucker ein und machte daraus einen Brei, den Jonah essen konnte. Sie kochte Apfelmus mit Zimt, damit er Vitamine bekam und weil es dann in der Wohnung roch wie in einem Kerzenladen. Sie taute gefrorene Erbsen auf und pürierte sie mit dem Handballen.

In manchen Nächten grübelte Myriam noch immer über den Sinn des Lebens, aber dann gähnte Jonah, legte seine kleine Hand an ihren Kopf und steckte die Finger zwischen ihre Locken, während sich seine Augen allmählich schlossen. Allison zog Myriam und Jonah an ihre Brust, die zwar flach und knochig, aber trotzdem die gemütlichste Brust der Welt war. Alle Fragen verflüchtigten sich, und der Schlaf nahm sich seinen Raum.

So war es, als Jonah ein Baby war. Weich, warm, easy. Sie verbrachten ihre gesamte freie Zeit mit Spielen – Verkleiden und Durchkitzeln und Flaschendrehen mit dem Milchfläschchen. Sollte eine von ihnen Gefühlsanwandlungen bekommen, übten sie den Urschrei, dachten sich Tänze dazu aus und wirbelten im Kreis herum, bis ihnen schwindlig wurde und sie irgendwo in die Wohnung fielen.

Doch dann, eines Tages, als er zwei war, bekam Jonah eine Mittelohrentzündung. Bis dahin hatten Myriam und Allison sich um Arztbesuche gedrückt, aber diesmal ließ es sich nicht mehr vermeiden. Jonahs Oberlippe und Kinn waren rotzverklebt, weil er ständig weinte. Sein kleiner Körper war heiß wie eine Wärmflasche. Sie gingen mit ihm...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2024
Übersetzer Anke Caroline Burger
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehung • George Saunders • Geschenk für Frauen • Geschenk für Freundin • Jeanette Winterson • Lesbisch • Liebesbeziehung • Liebesroman • Moderne Liebesbeziehung • neue Bücher 2024 • neue romane 2024 • Ottessa Moshfegh • queere Liebe • Virginie Despentes • Zwei Frauen
ISBN-10 3-608-12350-4 / 3608123504
ISBN-13 978-3-608-12350-0 / 9783608123500
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