Chronik der laufenden Entgleisungen (eBook)
368 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78035-0 (ISBN)
Im Herbst 2024 wählt Österreich einen neuen Nationalrat, ein Jahr zuvor hat der Wahlkampf längst begonnen. Thomas Köck führt Buch über die alltäglichen politischen Entgleisungen: Da werden Messer auf Wahlkampfveranstaltungen geschliffen und Journalisten vor laufender Kamera in den Schwitzkasten genommen, während österreichische Aktivisten der Neuen Rechten in Deutschland Vorträge über Massenabschiebungen halten und Spenden aus bürgerlichen Kreisen sammeln. Köck kommt mit seinem Protokoll der (sprachlichen) Eskalation kaum noch hinterher. Aber er belässt es nicht bei der Buchführung: Unter Rückgriff auf Fragen nach Klasse, Herkunft und Ökonomie versucht er zu verstehen, wie Österreich zum Prototyp rechter Subjektbildung in Europa werden konnte. Es entsteht eine wütende, bisweilen ironisch bissige Intervention in jenem Wahljahr, in dem die rechte FPÖ unter Herbert Kickl erstmals in der Geschichte des Landes eine Nationalratswahl gewinnt.
»Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal, right? Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. In Österreich wiederholt sich nur noch die Farce, und die vergisst irgendwann ihr Gesicht und wird wieder zur Fratze, zur Groteske.«
<p>Thomas Köck, geboren 1986 in Steyr, Oberösterreich. Er wurde durch Musik sozialisiert und studierte Philosophie in Wien sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Er arbeitete beim theatercombinat wien, war mit einem Dokumentarfilmprojekt über Beirut zu Berlinale Talents eingeladen, war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, bloggt mit KollegInnen auf nazisundgoldmund.net gegen rechts und entwickelt mit Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance konzertante readymades. Für seine Theatertexte wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Literaturpreis »Text & Sprache« des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft sowie 2018 und 2019 mit dem Mülheimer Dramatikpreis, zuletzt auch mit dem Publikumspreis der Mülheimer Theatertage NRW.</p>
Vielleicht sollte Österreich auch zwischen Ungarn, Slowenien und Italien aufgeteilt werden. Oder in so Hoheitsgebiete oder Autonomiegebiete eingeteilt werden. Ober- und Niederösterreich werden dann eher so autonome europäische Naturschutzgebiete, da darf auch niemand mehr wohnen.
Und es gäbe dann so touristisch geführte Reisen durch die »ZONE« – extrem gefährliche Reisen, die von speziell ausgebildeten oder dubiosen Menschen durchgeführt werden, die in verrauchten Kneipen sitzen, nur gegen Bargeld, versteht sich, und sie übernehmen keine Verantwortung für das, was unterwegs passieren könnte, überleg es dir gut, und wenn du dennoch willst, findest du mich morgen wieder hier, nachts geht es los, über Passau oder den Brennerbasistunnel, je nach Wetterlage.
18.08.
Klasse und Reichtum sind in Österreich Tabus – genauso wie Geld. Darüber wird nicht gesprochen. Dabei steckt in Österreich vor allem altes Geld überall mit drin. Und oft auch altes Geld, das eigentlich anderen gehörte, die, huch, Pardon, von einem Tag auf den andern weg waren.
Ich meine, nehmen wir mal Heidi Horten: Hauptberuf: Kaufhauserbin. Späterer Beruf: Kunstsammlerin und Mäzenin. Sie lernt Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre als Sekretärin in Velden am Wörthersee in einer Bar (diese wilden Bars in Velden in den späten 50ern, Klaviermusik, Bach, Stecktücher und Unmengen an altem und vor allem arisiertem Geld, das kurz nach dem Krieg als österreichisches Wirtschaftswunder verkauft wurde) ihren zukünftigen, 32 Jahre älteren Mann kennen, Helmut Horten, der zum Kaufhaus-König wurde – mit arisiertem Geld. Die beiden heiraten, er stirbt irgendwann, sie sammelt Kunst und fördert öffentliche Kunstinstitutionen, österreichische Festivals etc., und niemand will so richtig genau hinschauen, weil natürlich kompliziert, weil natürlich super, wenn Geld da ist, weil natürlich nicht so einfach, immerhin ist »das« ja auch so lange her, und der Mann ist ja auch schon 1987 gestorben usw. usf.
Nach dem Tod ihres Mannes heiratet sie erneut, lässt sich vier Jahre später scheiden und vergrößert durch die Scheidung ihr Vermögen, frei nach dem Motto von Mariah Carey, die sich von ihrem Mann hat scheiden lassen und auch noch mehrere Millionen Dollar mitnahm, weil sie gerichtlich begründen konnte, dass er während ihrer Beziehung ihre Zeit verschwendet hatte, da sei die Summe ein gerechtfertigter Schadensersatz.
However. Millionärserbin / Witwe / Scheidungsprofi.
Heidi Horten wird noch einmal heiraten, hat dann ein Schloss, Wohnungen in Wien, irgendwas auf den Bahamas und gilt als viertreichste Österreicherin und verfügt über eine der »beeindruckendsten« Kunstsammlungen Europas. Sie fördert Museen, zeitgenössische Künstler:innen, Performer:innen usw., und dieses ganze alte, arisierte Geld schmiert sozusagen die Öffentlichkeit, es hält diese Insel der Seligen noch irgendwie zusammen, und als Künstler:in fragst du natürlich eher selten nach, woher das Geld kommt (außer Hito Steyerl), weil das würde letztlich nicht nur den Markt kaputtmachen, sondern auch dich. Weil die Bereitschaft sämtlicher Produzierender, vom Kapital abhängiger Teile der Gesellschaft (oder der Kunstszene), mal beim Geld nachzufragen, wo das denn eigentlich herkommt, das wäre mal radikal.
Genauso wie die gute alte k.u.k. Ausdehnung heute immer noch exakt den Zweigstellen von Bank-Austria-Niederlassungen in Osteuropa entspricht. Die Systeme mögen verschwunden sein, das Geld ist noch da und mit dem Geld die Koalitionen. Weil Ungarns retrotopischer Politstil passt perfekt zur österreichischen historischen Enttäuschung, die sich in der viel zitierten grundsätzlichen österreichischen Unzufriedenheit (abgekürzt G.R.A.N.T.) recht deutlich bemerkbar macht.
Und jetzt bereiten die auch noch eine große Christie’s Auktion mit ihrem Erbe vor – und ich denke mir, was heißt das eigentlich, Erbe?
Ich möchte gar nicht pauschal polemisieren, sondern wirklich mal nachfragen, was das eigentlich bedeutet, wenn dieses arisierte Geld mehrfach sauber gewaschen wird. Ich meine, die Menschen in Kunstinstitutionen versuchen doch andauernd, politische Momente zu nutzen, um ihre vermeintlich aufklärerische Arbeit zu unterstreichen, und dann werden irgendwelche Klassiker scharf gegengelesen, und dann werden die wieder anders scharf gegengelesen, und jedes Mal springt dann das Feuilleton mehr oder weniger auf den ausgerufenen Aufklärungsgestus mit auf und spricht von mutigem Umgang mit Klassikern – bis es halt alle langweilig finden, geändert hat sich dann meistens noch nichts, aber die Institutionen haben das Gefühl, sie hätten sich mit etwas beschäftigt und sie hätten ja auch irgendwie eine Veränderung gespürt. Die setzt sich dann allerdings selten in den Leitungsebenen nieder, weil ja eigentlich keine Aufklärung stattgefunden hat, nur der Klassiker irgendwie anders gelesen wurde fürs Repräsentationskapital, aber wo kommt das überhaupt an, wen erreicht das – aber egal, also der eigentliche Punkt ist doch, ja, was war noch mal der eigentliche Punkt, wo wollte ich hin, ich hab’s vergessen.
19.08.
Ich gebe zu, ich weiß überhaupt nicht mehr so viel über Österreich. Ich gehe im Ausland Menschen aus Österreich ja auch immer gezielt aus dem Weg.
So wie hier, in Kroatien, ich stottere lieber schwer gebrochenes Kroatisch oder intoniere mein feinstes Hochdeutsch, wenn ich wo niederösterreichische oder steirische Dialekte wittere – ich erkenne die ja immer schon aus der Ferne, die Körper, die Körper, die Hände, die Hände und der Sound, eh klar.
Billy Wilder soll mal gefragt worden sein, er reise ja sehr viel, ob er Menschen aus Österreich am Flughafen erkennen würde – er soll dann geantwortet haben, ja, klar, das sind immer die am schlechtesten gekleideten Menschen, denen kann man immer hinterherlaufen, dann würde man zielsicher am Gate nach Wien oder Salzburg landen.
Ich lese, dass es eine Sammelklage gegen Banken geben soll, weil sie die gestiegenen Zinsen nicht an die Kund:innen weitergeben, dass weiter über die freizügigen Urlaubsfotos von diesem Tiroler SPÖ-Chef und seiner postfaschistischen, italienischen Freundin diskutiert wird, weil Sommerloch, weil Skandal, weil darf ein »Linker« mit einer »Postfaschistin«? Die Frage, die mich beschäftigt, ist allerdings, wer von denen soll jetzt links sein, die eine ist eine Postfaschistin, der andere bei der SPÖ.
In der Gästewohnung ist es schwül, die Hitze enorm, die Algen im Wasser alle braun, in 20 Metern Tiefe ist es noch badewannenwarm.
Und ich lese, dass sich die ehemalige österreichische Außenministerin in Russland nicht um einen russischen Pass bemühe. Sie hatte damals prominenten Besuch von Putin auf ihrer Hochzeit.
Über Österreich und Politik zu sprechen ist schwierig. Weil die offizielle Politik sind vor allem Selbstdarsteller, die mit altem Geld und Medien, die dieses Geld wollen, zusammenarbeiten. Es gibt hier und da Reformen, aber in Wirklichkeit befindet sich dieses Land seit Schwarz-Blau eins, also als es das erste Mal keine sogenannte große Koalition und keine Alleinregierung einer großen Volkspartei gab, in einem Dauerwahlkampf, in dem Rechte im Prinzip die Themen vorgeben und die anderen nachlaufen und den Diskurs munter immer weiter nach rechts drehen, dann wieder ein Stück zurückrudern und dann natürlich Schiffbruch erleiden, weil sie so schnell gar nicht zurückrudern können, wie sie sich zuerst in den Wirbel hineingerudert haben,...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | AfD • aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Bundeskanzler • Der Deutsche Hörspielpreis der ARD in der Kategorie »Beste schauspielerische Leistung« 2021 • Elfriede Jelinek • FPÖ • Herbert Kickl • Hörspielpreis der Kriegsblinden 2021 • Identitäre Bewegung • Karl Nehammer • Klasse • Klassismus • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Martin Sellner • Mülheimer Dramatikerpreis 2019 • Nationalratswahl • Neue Rechte • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Österreich • ÖVP • rechts • Rechtsextrem • Rechtspopulismus • Sebastian Kurz • Volkskanzler • Wahlkampf |
ISBN-10 | 3-518-78035-2 / 3518780352 |
ISBN-13 | 978-3-518-78035-0 / 9783518780350 |
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