Bavarese (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31342-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bavarese -  Leo Reisinger
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Ohne Hölle gibt es keinen Himmel
Frühmorgens, wenn die Schickeria in den Münchner Nobelclubs noch zwischen Champagner und Koks auf den Tischen tanzt, gehen auf dem Großmarkt schon die Lichter an. Hier reißt sich Sepko als Handlanger den Arsch auf. Die Schichten sind hart, der Lohn dürftig. Das echte Geld mit den Gastronomen machen andere - auch jenseits der Legalität. Sepko verliebt sich in Lene, die jeden Tag schon im Morgengrauen auf dem Großmarkt einkauft. Um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten, beliefert sie einen kleinen Kundenstamm mit ihrem klapprigen Lieferwagen. Doch er ist nicht der einzige, der um Lenes Herz kämpft: Pfeiffer, Gastronom und Wiesnwirt in spe, hat Geld und Einfluss. Unwissentlich entfacht Sepko mit seinen Bemühungen um Lene eine Spirale der Gewalt, die unaufhaltsam eskaliert und sogar die verborgenen Kräfte des organisierten Verbrechens auf den Plan ruft.

Leo Reisinger lernte mit sechs Klavier, mit siebzehn Schreiner und mit einundzwanzig Schauspiel. In der Zeit zwischen ungehobelten Brettern und denen, die die Welt bedeuten, arbeitete er als Kellner in der Münchner Gastro, auf der Wiesn und am Großmarkt. Wenn er nicht gerade dreht oder mit seiner Band das Publikum rockt, hat er ein Faible für ungewöhnliche Geschichten. »Bavarese« ist sein erster Roman. Er lebt mit seiner Familie südlich des Weltdorfs München mit Blick in die Berge.

2
DIESELBE OKTOBERNACHT IN DERSELBEN METROPOLE


23.58 Uhr zeigte der Bildschirm des Geldautomaten an. Lene tippte ihre Geheimzahl ein, Sekunden später spuckte das Gerät 500 Euro aus. Tageslimit erreicht erschien auf dem Touchscreen. Eine Zigarette später, um 00.01 Uhr, hob Lene weitere 500 Euro ab. Dann stieg sie in ihre Rostlaube, einen Mercedes Sprinter, und fuhr durch die leeren Straßen Münchens zurück zu ihrem Zuhause, einer Bausünde aus den Fünfzigerjahren in Berg am Laim mit dunklen Abgasflecken an der einstmals weißen Fassade. Lene musste unbedingt noch etwas schlafen.

Nur zwei Stunden später riss sie der Wecker aus dem Tiefschlaf. Luca, ihr fünfjähriger Sohn, lag neben ihr und wälzte sich unruhig. Schnell stellte Lene den Alarm stumm, damit er nicht aufwachte, kroch vorsichtig unter der warmen Decke hervor und schlich aus dem Schlafzimmer. Im Flur checkte sie zuerst den Anrufbeantworter, keine neuen Nachrichten. Mist. Derfler hatte wieder nicht bestellt. Schon die zweite Woche hintereinander. Er war ihr wichtigster Kunde, sie brauchte ihn. Und vor allem das Geld, das er ihr noch schuldig war.

In Lenes Wohnzimmer stand ein dreibeiniger Kunstholztisch mit Laptop drauf, davor auf dem Fußboden mischten sich in wildem Durcheinander gemalte Kinderbilder mit Formularen und Rechnungen. Lene sammelte sie zu einem Stapel, legte sie auf die Seite. Danach holte sie aus einer Nische hinter der Wohnzimmertür eine Matratze samt Kissen, Laken und Decke hervor, die dort zwischen Kunstholzschrank und Wand eingeklemmt verstaut war. Sie warf die Matratze auf den Boden, dann zog sie verschiedene Kleidungsstücke aus einem großen Wäscheberg, der sich auf einer durchgesessenen Couch türmte. Sie wählte eine enge Jeans und ein körperbetontes Top, obwohl es in der Nacht angefangen hatte zu regnen.

Wie vor jeder Schicht trug sie im Bad Wimperntusche auf und drehte das blonde Haar zu einem Dutt, wodurch man ihren nackten Hals sehen konnte. Zurück im Flur warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel: Ihre grazile Figur war trotz der dicken Daunenjacke gut zu erkennen, ihr Gesicht aber gefiel Lene schon lange nicht mehr. Sie lächelte, aber es sah traurig und ausgelaugt aus.

An der Wohnungstür summte die Klingel. Lene drückte den Türöffner, kurz darauf schlurften von unten Schritte in den dritten Stock. Je näher sie kamen, desto lauter wurde im Treppenhaus das Prusten eines leicht übergewichtigen Mädchens Anfang zwanzig im Jogginganzug. Sie hieß Nina und war Lucas Babysitterin.

»Guten Morgen«, flüsterte Lene freundlich.

»Morgen.«

Nina zog eine Duftwolke hinter sich her, eine beißende Mischung aus süßlichem Parfum und Nikotin. Sie verschwand sofort im Wohnzimmer und sank auf die Matratze, wo sie weiterschlief. Lene checkte noch mal, ob Luca okay war, dann stieg sie in ihre Arbeitsstiefel, schnappte sich das Reißbrett mit der Einkaufsliste und machte sich auf den Weg.

Zwei Becher Kaffee später, den sie sich am Abend zuvor gekocht hatte, erreichte sie den Großmarkt. Ein vierundvierzig Fußballfelder großes Areal, das wie eine Insel im zentrumnahen Stadtbezirk Thalkirchen lag. Als Lene vor drei Jahren das kleine Einzelunternehmen ihres Vaters Gerhard übernommen hatte, wusste sie noch nicht, dass jede Tomate, jeder Apfel, jeder Salat, der zwischen Prag und Stuttgart, Salzburg und Nürnberg gegessen wurde – egal ob aus dem Supermarkt, in der Drei-Sterne-Küche oder an der Dönerbude –, einmal hier vorbeigekommen war. Als Gerhard Lene das erste Mal zum Großmarkt mitgenommen hatte, schwärmte er, als stünde dort das achte Weltwunder: »Nirgends in Europa wird mehr Obst und Gemüse umgeschlagen. Hier ist das Drehkreuz der Lebensmittellogistik.« Lene hatte nicht verstanden, warum sich ihr Vater im fortgeschrittenen Alter diesen Knochenjob antat, noch dazu um drei Uhr morgens. Noch weniger verstand sie allerdings, was um alles in der Welt sie getrieben hatte, selbst in das Geschäft einzusteigen. Auf sie wirkte der Großmarkt wie ein riesiger, platt gewalzter Teerbatzen voller LKWs – laut, dunkel, dreckig und chaotisch. Als sie zum ersten Mal die von Ratten und Ungeziefer verseuchten, verrotteten Lagerräume im Kellergeschoss der Markthallen sah, konnte sie nicht glauben, dass die Kisten Salat, die dort umgeben von Dieselabgasen vor sich hinwelkten, später in Spitzenrestaurants zu Gerichten verarbeitet werden würden.

Vor der Haupteinfahrt entlang des hohen Maschendrahtzauns, der das Betriebsgelände umfasste, wartete eine Armada aus LKWs und Sattelschleppern auf ihren Einlass. Lene reihte sich in die Schlange ein. Turmhohe Straßenlampen jenseits des Zauns tauchten das Gelände in gelblichen Schein, und Lene konnte durch das dichte Gestrüpp einer Hecke nur erahnen, dass dort schon Hochbetrieb herrschte, während der Rest der Stadt noch schlief. Der Motor ihres Sprinters ließ die Fahrzeugkabine vibrieren.

Nach fünfzehn Minuten Warten konnte Lene endlich die Haupteinfahrt passieren. Schwer beladene Gabelstapler manövrierten in Hochgeschwindigkeit ihre Paletten durch das Blechlabyrinth unzähliger LKWs und Sattelschlepper mit den verschiedensten Kennzeichen. Zu den regionalen Erzeugern kamen Vierzigtonner aus Italien, Spanien, der Türkei oder Griechenland hinzu, die ihre Fracht aus den riesigen Anbaugebieten im Mittelmeerraum über den Brenner geschleppt hatten. Belgien und Holland waren weitere große Importländer.

Irgendwo zwischen den Ungetümen fand Lene einen Parkplatz für ihre geliebte Rostlaube. Der Regen hatte nachgelassen, Lene lief im Eilschritt über die großen Parkplätze. Um ein Haar wurde sie von einem Gabelstapler über den Haufen gefahren. »Kannst du nicht aufpassen, Blödmann!«, raunzte sie den Fahrer an, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Die Regeln der Straßenverkehrsordnung galten hier nicht. Münchens Bauch, wie der Großmarkt von den Einheimischen genannt wurde, war eine eigene Welt.

Lene erreichte die vier Haupthallen. Hier wurde der größte Anteil der Ware angeboten. Beim Betreten setzte Lene ihr charmantestes Lächeln auf, ihre Sorgen und Nöte gingen niemanden etwas an. Der Geruch von nassem Asphalt und Diesel wechselte mit dem blumigen Duft eines tropischen Urwalds, gelegentlich trat eine herzhafte Prise Leberkäs oder Imprägniermittel von den hölzernen Salatkisten hinzu. Seitlich der langen Gänge waren die Stände der Händler wie die Parzellen eines Campingplatzes aneinandergereiht. Hier handelte und verkaufte die versammelte Münchner Gemüse-Mafia jegliche Sorte an Salat, Gemüse, Obst, Beeren, Südfrüchten und Nüssen an Großhändler. Als junge Frau war Lene in der Männerdomäne eine seltene, doch gern gesehene Ausnahme. Dass sie genauso hart arbeitete wie ihre männlichen Kollegen, war nicht allen klar. Sie spürte jedes Mal die Blicke, die ihr ungeniert folgten, wenn sie mit ihren schweren Arbeiterstiefeln und Sackkarre versuchte, sich so elegant wie möglich durch das Gewirr aus Paletten und Hubwagen zu kämpfen.

Ihre erste Anlaufstelle war Michi, Berufsbezeichnung Fruchtimporteur, in der Halle sagte man Standverkäufer. Anfang dreißig. Junggeselle und Sohn vom Chef. Das lichte Haar trug er gepflegt nach hinten gegelt, die Steppweste über einem anwaltsblauen Hemd mit Manschettenknöpfen. Er war sympathisch, doch so gar nicht Lenes Typ, dafür sie eindeutig seiner, und das wusste Lene zu ihrem Vorteil zu nutzen. Er stand hinter einem rollbaren Schreibpodest, zugepflastert mit handschriftlich vollgekritzelten Zetteln – Bestellungen der Kunden. Ein Chaos, in das nur Michis fotografisches Gedächtnis eine Ordnung brachte. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Lene erblickte.

»Scheiß Regen«, sagte sie und umarmte Michi kumpelhaft.

»Hm, dein Haar riecht gut. Riechst du überall so gut?«

Lene ging auf solche Sprüche aus Prinzip nicht ein. Sie lächelte nur. »Schnauze. Was kosten die Gurken?«

Michi hatte gute Laune, das lag wahrscheinlich am Wochentag. Mittwochs ging es in der Halle etwas ruhiger zu als an Freitagen – dann benötigten die Gastronomen viel Ware für das Wochenende und es blieb wenig Zeit für Smalltalk. Ebenso montags, wenn die Kühlhäuser wieder leer gefuttert waren.

»Kiste sieben fünfzig«, gab Michi Auskunft.

»Okay, da nehme ich zwölf.«

Lene ging ihre Bestellliste durch. »Strauchtomaten?«

»Neun zwanzig.«

Lene überlegte kurz. Sie hätte den Preis noch bei einem anderen Standverkäufer erfragen können, aber sie war auf Michis Hilfe angewiesen, da er sie schon die letzten Tage hatte anschreiben lassen.

»Welchen Preis brauchst du denn?«, unterbrach Michi ihre Gedanken.

»Acht Euro.«

»Acht?«

Michi warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zu seinem Vater, der hinter der Plexiglasscheibe eines bemitleidenswerten Kabuffs saß, das er sein Büro nannte. Aber der alte Herr war ganz in seine Rechnungen vertieft. »Okay, geht klar. Ausnahmsweise«, entschied Michi schnell. »Geschenk unter Freunden.«

Lene bedankte sich, heilfroh und erleichtert. Ihr war klar, dass Michi jetzt nichts mehr an der Kiste verdiente. Auch, dass das seinem Vater gar nicht schmecken würde. Er gehörte zur Nachkriegsgeneration und hatte als Kind mitgeholfen, das wieder aufzubauen, was die Engländer in Schutt und Asche gebombt hatten.

Lene begann, die Gurken und die Strauchtomaten auf ihre Sackkarre zu laden.

»Lass gut sein, ich sag meinen Leuten, sie sollen sie dir mit dem Gabelstapler zum Auto fahren.«

»Ach, was würde ich nur ohne dich tun!« Sie zwinkerte ihm zu und wandte sich...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-641-31342-2 / 3641313422
ISBN-13 978-3-641-31342-5 / 9783641313425
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