Im Unterholz (eBook)
432 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-31265-7 (ISBN)
Als in den endlosen Wäldern Schwedens die Elchjagd beginnt, sucht die ehemalige Journalistin Vera Bergström den Schauplatz eines Mordes auf: Unter einem Hochsitz wurde die Leiche einer Frau aufgefunden, die grausam ihr Leben verlor. Während die Polizei auf der Stelle tritt, soll Vera ihrem früheren Zeitungschef die Hintergrundstory zur Tat zu liefern. Doch die Geschichte, die Vera zuerst noch widerwillig aufdeckt, ist weit dunkler als erwartet - und die Vergangenheit des Opfers enger mit Veras Mitmenschen verwoben als ihnen allen lieb ist.
Ein tiefgründiger Krimi mit einer ungewöhnlichen Protagonistin! Verpassen Sie nicht den Auftakt der Bestsellerreihe - von der schwedischen Krimiakademie als »bestes Debüt« sowie »bester Kriminalroman« ausgezeichnet!
Die Schwedin Sara Strömberg avancierte in ihrem Heimatland zum Bestseller-Phänomen: Sie wurde 1975 geboren und lebt als Autorin und Journalistin in Östersund. Ihr erster Roman ?Im Unterholz? erschien 2021 und wurde von der Schwedischen Krimiakademie zum besten Debüt des Jahres gekürt. 2022 folgte der zweite Band der Serie über die Journalistin Vera Bergström, der von der Schwedischen Krimiakademie als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde. Seitdem feiert die Serie überwältigende Erfolge bei Leser*innen und Kritiker*innen; zahlreiche weitere Nominierungen folgten, unter anderem für den Glasnyckeln 2023 - den wichtigsten skandinavischen Krimipreis. Strömbergs Romane wurden alle zu Platz-1-Bestsellern in Schweden; sie werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und von den Produzenten der »Millenium«-Reihe verfilmt.
In Åre hielt ich, um zu tanken. Mountainbiker rasten den Åreskutan herunter. Ich drehte mich weg, wollte sie nicht sehen. Nicht mehr lange, dann würden dort andere vorbeikeuchen, Skifahrer mit Pelz über den Ohren. Aber auch die wollte ich nicht sehen, diese wippenden Ärsche, die tagsüber tiefe Rillen in das Fjäll kerbten und nachts eigene Pisten zwischen den teuren Lokalen zogen.
Vor fünfundzwanzig Jahren hatte man hier zumindest noch den Sommer und Herbst für sich gehabt. Sobald alle – Touristen und Saisonkräfte – gegen Ende April abgereist waren, hatte es sich angefühlt, als hätte ein Sturm sich gelegt. Verwundert angesichts der unverhofften Ruhe, waren wir von Storlien nach Åre gefahren, hatten uns ins düstere Torvtaket gesetzt – das einzige Restaurant, das dann noch geöffnet war – und hatten Pizza bestellt. Die Pizza hatte nie so gut geschmeckt wie in diesem Moment. Inzwischen hielt der Trubel das ganze Jahr über an, rund um die Uhr, und fürs Durchatmen blieb keine Zeit mehr. Natürlich kam das der Wirtschaft zugute, zumindest redeten sich das alle ein, sobald auch nur der geringste Zweifel aufkam – oder wenn Zlatan hier oben vorbeischaute. Allerdings hielt mittlerweile der Boden nicht mehr stand: Kaum dass es regnete, traten sämtliche Flüsse und Bäche über die Ufer. Sümpfe und Fjällwälder, die früher das Wasser absorbiert hatten, waren zugunsten von Bauland geopfert worden. Die Fische wanderten nicht mehr ihre angestammten Flüsse hinauf und trauerten, genau wie wir Alteingesessenen auch.
Ich betrat die Tankstelle und kaufte mir eine Cola und ein Snickers, obwohl ich genau wusste, dass ich es bleiben lassen sollte. Als ich gerade wieder ins Auto gestiegen war, klingelte mein Handy auf dem Beifahrersitz.
»Na, Bergström, wie läuft’s als Wallraff des schwedischen Schulsystems?«
Die laute Stimme von Nils Strömqvist, genannt »Strömmen« oder auch »Schande«.
»Ganz okay. Inzwischen schreibe ich nur noch für Leute, die nichts lesen wollen, und lese Texte von Leuten, die nicht schreiben wollen.«
»Ach du Schande, ist es wirklich so schlimm?«
Er ächzte laut und sank unter Garantie tiefer in seinen riesigen Bürostuhl. Ich konnte regelrecht vor mir sehen, wie er den Stift in seiner rechten Hand kreisen ließ. Wie er die Füße auf den Tisch gelegt hatte – samt seinen schwarzen Holzschuhen. In denselben Holzschuhen war er mal von einem Bären verfolgt worden, davon schwadronierte er in der Kaffeeküche bis heute. Chefredakteure wie er waren mittlerweile eine vom Aussterben bedrohte Art. Jemand, der von einem Verlangen nach Rache angetrieben war, die sich auf alles und jeden im Leben richten konnte. Das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, waren Leute in Führungspositionen, die ihre Privilegien nutzten, um sich über die Wahrheit zu erheben. Denen solle man Reißnägel auf ihre Chefsessel legen, sagte er immer. Sein Blick – sein professioneller Blick – kam immer leicht von der Seite und war gleichermaßen skeptisch und energisch, ganz gleich, wie müde er als Mensch gerade war.
»Ja, es ist wirklich so schlimm.«
»Ach, Schande. Da kannst du doch nicht bleiben!«
»Tja, du hast die Redaktion in Järpen doch selbst dichtgemacht.«
»Wenn’s so gewesen wäre, hätte sich das schon tags darauf für mich gerächt. Das weißt du.«
»Ja, ja, ich weiß.«
Als junger, aufstrebender Chefredakteur hatte Strömmen mich unter seine Fittiche genommen. Wir hatten irgendwann beide zum Inventar der Jämtlandsposten gehört, bis ich schließlich in der Tonne gelandet war. Wir lagen neun Jahre auseinander. Im kommenden Jahr würde Strömmen in Rente gehen – wie immer das funktionieren sollte. Doch er war gut gealtert, immer noch der Cowboy, der aus der Hüfte schoss, nur dass er das meiste Pulver schon verschossen hatte.
Ich schob den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum.
»Übrigens können wir froh sein, dass es die Stammredaktion noch gibt. Letzte Woche hat das heilige Mutterschiff neue Sparmaßnahmen bekannt gegeben.«
»Wie geht es denn allen?«
»Na ja, wir halten die Füße still, hoffen auf mehr Subventionen für die weißen Flecken auf der Landkarte und darauf, dass uns das Kultusministerium rettet. Die Gewerkschaft ist mit ihrem Latein am Ende – und ich bin es allmählich auch. Nicht mehr lange, und unsereins wird gegen irgend so einen Marketingmenschen ausgetauscht. Schande aber auch, dass wir nicht an die Presse gehen und uns ausheulen können, so wie die von der Polizei.«
Strömmen lachte kurz tonlos in sich hinein, schlürfte dann laut und schluckte. Garantiert Automatenkaffee vom Flur, schwarz und bitter. Die Milch aus solchen Maschinen konnte man ja nicht trinken. Laut Strömmen bestand sie aus demselben Scheiß, mit dem er seine Klamotten wusch. Hatte er mal irgendwo gelesen.
»Okay, spuck’s endlich aus.«
»Was denn?«
»Na, warum du anrufst. Dein Anliegen. Was du auf dem Herzen hast. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Beim letzten Satz schob ich die Zunge unter die Unterlippe, wie dieser Typ aus der Werbung, der gerade im Lotto gewonnen hatte. Ich öffnete die Coladose. Die Kohlensäure zischte.
»Nee, schon klar.«
Ich konnte ihm anhören, wie er den Mund verzog. Vermutlich war es als Lächeln gedacht, nur verhinderte die riesige Portion Snus-Tabak, die er sich unter die Oberlippe geschoben hatte, dass es als solches erkennbar war.
»Ich will, dass du dir das mit der Toten aus Kall näher ansiehst. Wir hatten von Anfang an den Verdacht, dass es ein Mord war. Dass die Polizei wirklich diesem Trend nachlaufen muss … wie heißt das gleich wieder … hat eigentlich mit Essen zu tun …«
»Slow Food?«
»Genau. Die setzen auf Slow Work.« Strömmen lachte erneut dumpf – und verstummte. Es klang, als kaute er auf etwas herum. »Über das Opfer kannst du natürlich nicht viel schreiben, aber du könntest die Stimmung auf der Straße einfangen – was der kleine Mann denkt, was die Leute reden, im Supermarkt, im Dorfgemeinschaftshaus. Ich hab läuten hören, dass sich die Frauen nicht mehr trauen, allein auf die Straße zu gehen.«
»Ich hatte noch keine Zeit, viel zu lesen. War den ganzen Tag im Unterricht.«
Ich wollte ihm lieber nicht erzählen, dass ich mich inzwischen ebenso schnell vor Nachrichten wegduckte, wie ich sie früher selbst geschrieben hatte.
»Egal. Bislang kursieren nur zwei Kurzmeldungen, die hast du im Nu gelesen. Zeit, dass was Größeres kommt. Um die Polizei kümmern wir uns, aber die Stimmung wollen wir von dir.«
Ich schluckte.
»Ich weiß nicht, Strömmen, ich bin inzwischen an der Schule …«
»Ja, ja, aber doch nur unter der Woche. Und jetzt ist Wochenende.« Auch er schien die Zunge unter die Unterlippe zu schieben. »Außerdem glaube ich, dass du mal wieder richtig unter Menschen kommen musst. Schulkinder werden doch erst zu Menschen, wenn sie die Schule verlassen, das weiß doch jeder – bis auf die Lehrer natürlich.«
»Außerdem wollte ich jagen gehen …«
»Ach, Jägermeister trinken und in den Wald scheißen, das hast du doch schon mit achtzehn gemacht.«
»Und der Nachrichtenchef weiß Bescheid?«
»Ja, verdammt. Per hat nun mal niemanden, den er schicken könnte, vom Schreibtisch aus kriegen wir nichts aus den Leuten raus und die Polizei hält dicht. Jemand muss die Bewohner vor Ort direkt ansprechen.«
»Aber nach Kall sind es hin und zurück hundertsechzig Kilometer.«
»War das für dich je ein Hinderungsgrund?«
»Nein.«
In Wahrheit war mein erstes Gefühl, als ich drei Jahre zuvor meinen Posten als Lokalredakteurin hatte räumen müssen, Erleichterung gewesen: endlich keine einsamen Nachtfahrten im Schneesturm auf vereisten Straßen mehr, um als Erste an einem Unfallort einzutreffen – manchmal noch vor der Polizei und dem Krankenwagen. Keine Albträume mehr, die damals vom Knistern und Pfeifen im Polizeifunk auf meinem Nachttisch begleitet waren. Keine Einsätze mehr mit der schweren Fotoausrüstung über der Schulter, mit der Schneeschaufel oder dem Schneemobil-overall im Kofferraum. Ich konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Als ich anschließend versuchte, mich als Freiberuflerin über Wasser zu halten, und scheiterte, war da nur noch Leere. Ich versuchte vergeblich, mit dem Fuß einen kleinen Felsvorsprung zu ertasten, aber da war einfach nichts mehr.
Und plötzlich war Strömmen in der Leitung und kramte in der Tonne nach mir. Ich war mir nicht sicher, ob er bloß alten Unrat finden würde oder ob dieses alte Möbelstück hier ein unverhoffter Glücksfund wäre. Aber ich hatte auch gar keine Lust, es herauszufinden. Noch mehr Niederlagen würde mein Herz nicht verkraften.
»Gut. Gib Bescheid, so schnell du kannst, ob du den Job übernimmst. Ich schicke dir die Links zu den Artikeln, die wir bislang haben.«
»Okay. Ich melde mich.«
Im Kopf hatte ich bereits abgelehnt. Allerdings war ich es Strömmen schuldig, zumindest einen Hauch Interesse zu heucheln.
Noch knapp dreißig Kilometer. Einhändig riss ich die Verpackung von meinem Schokoriegel auf und hielt mit der anderen Hand das Lenkrad fest. Die Erdnüsse staubten im Hals. Ich spülte sie mit süßer Cola hinunter. P3 meldete explodierende Kosten beim Slussen-Umbau und bei der Stockholmer Stadtumfahrung. Ich zappte zu P4 Jämtland. Die Apotheke in Föllinge stand kurz vor der Schließung.
Hinter Duved wurde die...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Übersetzer | Leena Flegler |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sly |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Apfelmädchen • Bestseller • eBooks • Elch • Erdschwarz • Frida Skybäck • gewittermann • Jagd • jägerstand • Jämtland • Johanna Mo • John Ajvide Lindqvist • kalt und still • Krimi • Kriminalromane • Krimis • nebelblau • Neuerscheinung • Nordschweden • Ragnar Jónasson • Refugium • Schwarzvogel • Schweden • Schweden Krimi • Schwedischer Krimipreis • Sturmrot • tief im schatten • Tina N. Martin • Tove Alsterdal • Verfilmung • Viveca Sten • Yrsa Sigurdardóttir |
ISBN-10 | 3-641-31265-5 / 3641312655 |
ISBN-13 | 978-3-641-31265-7 / 9783641312657 |
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