Finsteres Herz (eBook)
464 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31245-4 (ISBN)
Holger Karsten Schmidt, geboren 1965 in Hamburg, ist dreifacher Grimme-Preisträger und seit vielen Jahren einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands. Zuletzt wurde der Mehrteiler »Gladbeck«, für den er das Drehbuch geschrieben hat, mit dem Bayerischen und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. 2011 erschien sein Mittelalterthriller »Isenhart« bei Kiepenheuer & Witsch, ab 2017 folgten unter dem Pseudonym Gil Ribeiro die Bände der »Lost in Fuseta«-Krimireihe, die in Portugal spielt. Holger Karsten Schmidt lebt und arbeitet bei Stuttgart.
Holger Karsten Schmidt, geboren 1965 in Hamburg, ist dreifacher Grimme-Preisträger und seit vielen Jahren einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands. Zuletzt wurde der Mehrteiler »Gladbeck«, für den er das Drehbuch geschrieben hat, mit dem Bayerischen und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. 2011 erschien sein Mittelalterthriller »Isenhart« bei Kiepenheuer & Witsch, ab 2017 folgte unter dem Pseudonym Gil Ribeiro der erste Band der »Lost in Fuseta«-Krimireihe, die in Portugal spielt. Holger Karsten Schmidt lebt und arbeitet bei Stuttgart.
1
31. Dezember 2006,
Hohen Sprenz
Das kleine weiße Ferienhaus mit dem Reetdach lag in der Schneelandschaft am Hohensprenzer See, als könne es kein Wässerchen trüben.
Der Blick des Mädchens im Bibliothekszimmer klebte aufmerksam auf einer Seite des Bildbands, der auf seinem Schoß lag. Unterwasserfotos von Orcas und Grauwalen. Kurz schaute es auf, um die Augen von Lona Mendt auf sich gerichtet zu finden und sich trotzdem unbeobachtet zu fühlen. Und um zu merken, dass die blonde Frau sie mit keinem geringeren Interesse betrachtete als Sarah die Aufnahmen der Wale. Sie saßen nebeneinander auf der Couch des kleinen Zimmers, das an zwei Seiten mit deckenhohen Holzregalen bestückt war, in denen unzählige Bücher darauf warteten, gelesen zu werden. Lona schenkte Sarah ein Lächeln.
»Warst du mal in Neuseeland?«
»Ja«, antwortete Lona Mendt, und eine unbestimmte Traurigkeit schwang darin mit. Eine, das spürte das Mädchen, die sie hinter sich zurückgelassen geglaubt hatte.
»Ist das weit von hier?«
»Man braucht 24 Stunden mit dem Flugzeug.«
Sarah blätterte weiter. Eine Strähne löste sich dabei aus ihrem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und fiel ihr in die Stirn. Lona schob sie sanft zurück, ohne dass das Mädchen stutzte. Und schaute dann hinaus.
Das Zimmer des Ferienhauses war komplett vertäfelt, und im angrenzenden Nebenraum loderte das Feuer in einem dunkelroten Schwedenofen. Es knackste und zischte und brummte wie ein lebendiges Wesen und verströmte den angenehmen Geruch verbrannten Holzes.
Durch das breite Fernster und die verglaste Terrassentür hatte Lona einen freien Blick auf das rückwärtige Gelände, das unter einer feinen Schneedecke lag. Ein Pärchen, dick eingepackt wegen der winterlichen Temperaturen, spazierte mit seinem Husky vorbei und verschwand im angrenzenden Wald. Leichtes Schneetreiben hatte wieder eingesetzt. Zwei Jogger, die vom benachbarten Rundweg um den Hohensprenzer See kamen und Kurs zurück auf den Ort nahmen, stemmten sich dagegen.
»Hast du da Wale gesehen?«
Sarahs Frage holte Lona aus der Beobachtung der winterlichen Umgebung zurück.
»Ja. In Kaikoura.«
»Kaiku…«
»Kaikoura.«
»Kaikoura«, wiederholte Sarah, um sich den Namen einzuprägen.
»Wenn du da mit einem Boot rausfährst, ins Wasser springst und den Kopf unter Wasser hältst, kannst du manchmal etwas hören, was ganz besonders ist.«
Das Mädchen sah sie gespannt an, und Lona musste lächeln. Wie wenig es brauchte, um seine ganze Aufmerksamkeit zu gewinnen.
»Da kann man hören, wie Wale singen«, beantwortete Lona die unausgesprochene Frage und steigerte Sarahs Interesse.
»Wale singen?«
»Nun ja, für unser Gehör erinnert das an Gesang, an Lieder. Aber tatsächlich sind wir noch nicht in der Lage zu verstehen, wie sie miteinander kommunizieren.«
Lona konnte regelrecht sehen, wie es in Sarahs Kopf zu arbeiten begann.
»Das heißt, es ist ihre Art zu sprechen.«
»Ja.«
Lonas Blick fiel kurz auf den Roman, den Elling gerade las und den er auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt hatte: Owen Meany von John Irving. Elling und Lesen. Mit Sicherheit lag das daran, dass im ganzen Haus kein Fernseher aufzutreiben gewesen war. Und die Bandbreite für den Empfang per Computer hatte sich als zu miserabel erwiesen.
Aus der Küche drang das Geräusch von Metall auf Metall zu ihnen, von Kochtopf auf Gasherd.
Wieder ließ Lona den Blick nach draußen über die Landschaft schweifen. Keine Menschenseele. Nur eine Gruppe von Enten, die über den zugefrorenen See watschelte.
Die nahm auch Elling kurz wahr, während er in der Küche, die hinter dem Ofen vom Wohnzimmer abzweigte, den Rotwein entkorkte. Er gab dabei darauf acht, sich nicht über den Kochtopf zu beugen, weil der Dampf sonst wieder seine Brille beschlagen ließ.
Die Küche war überwiegend in massivem Holz gehalten, passend zum Boden. Von hier aus hatte man einen Teilblick auf den See, vor allem aber auf die enge Zufahrt, die von dem Gewässer zum Haus führte.
Zu Ellings Linken schnitt Dinko Karotten, und die Art, wie er das tat, verriet, dass er selten in der Küche aushalf.
»Noch mehr?«, fragte er Elling, der ihm, Gabriela und sich einen kleinen Schluck von dem Wein eingoss.
»Da kann noch eine rein«, befand Gabriela, der es besser als Dinko gelang, den osteuropäischen Akzent zu verbergen. Sie war eine kleine, vollschlanke Person mit kurzen dunklen Haaren und 42 Jahre alt. Und zupfte, worauf die beiden Männer keine gesteigerte Lust verspürten: Thymian.
Dinko sah aus wie Mitte vierzig, aber er war 38, wie Elling wusste. In zwei Wochen würde der dürre Kettenraucher Geburtstag haben.
»Das stimmt«, pflichtete Frank Elling ihr bei und löschte die Rindfleischstücke, die er gerade scharf anbriet, mit einem Glas Rotwein ab. Es zischte, und sofort lag der Duft des Weines schwer in der Luft.
»Eins für das Gulasch, eins für uns«, befand Elling und reichte ihnen die Gläser.
Seit über einer Woche wechselten sie sich jetzt mit dem Essen ab. Es hatte Rouladen gegeben und eine Zwiebelsuppe, einmal Käsefondue und dann eine bulgarische Bohnensuppe (Bob Tschorba, Elling kannte den Namen noch aus seiner Jugend in Rostock). Reihum bekochten sie einander und unterhielten sich oder spielten Karten oder zogen sich in den Lesesessel oder ins eigene Zimmer zurück. Nicht die schlechteste Art, über die Weihnachtstage zu kommen, wie er fand.
Elling stieß mit den beiden an: »Prost.«
Die grinsten etwas und entgegneten: »Na zdrave!«
Elling nickte. Prost hieß auf Bulgarisch so viel wie Dummkopf, aber Gabriela und Dinko sahen es ihm nach. Seine Bulgarischkenntnisse waren nach dem Fall der Mauer vor 17 Jahren nach und nach versiegt, ohne dass sie jemand vermisst hätte. Er am wenigsten.
Last Christmas nahm im Radio auf der Anrichte seinen Anfang. Elling drehte den Frequenzregler geistesgegenwärtig zum nächsten Sender. Nachrichten. Saddam Hussein war gestern hingerichtet worden. Und Steve Jobs kündigte für die Macworld in San Francisco in sieben Tagen ein eigenes Handy an. Ein iPhone.
»Komischer Name für ein Handy«, befand Dinko. Gabriela und Elling nickten.
In dem Augenblick kam Mertens mit seinem hellblauen Oberhemd vom Flur herein. Der besaß das magische Talent, immer dann wichtige Gespräche führen zu müssen, wenn der Abwasch anstand. Denn die Geschirrspüle im Haus war defekt und irgendeine boshafte Sachbearbeiterin in den Untiefen des Innenministeriums in Schwerin weigerte sich, die auf Formblatt 2/409 beantragte Reparatur oder deren Neuanschaffung zu bewilligen.
Mertens würde nächstes Jahr in Rente gehen. Er hatte sein Leben lang eifrig gespart, damit es seiner Frau und ihm im Rentenalter gut erging. Bisher hatten sie nur Urlaube im Umland gemacht. Mecklenburgische Seenplatte. Fahrradausflüge, Wandern, abends Malefiz spielen. Jetzt, so hatte er Elling anvertraut, wollten sie das erste Mal per Schiff verreisen. Nach Irland.
Mertens hatte große Pläne für diesen letzten Lebensabschnitt. Und diese handschriftlich auf einer Liste festgehalten. Eine Ballonfahrt. Einmal zum Roten Meer. Auf den Eiffelturm steigen.
Einen Hummer essen. Mit Delfinen schwimmen. Mit Ramona ausgehen (einer Escort-Dame, aber das hatte er sicherheitshalber nicht notiert) und so weiter und so fort.
»Essen fällt aus. Einvernahme um 17:30 Uhr in Rostock. Die Abholung ist unterwegs, on the way«, sagte er und stellte den Herd aus, »zehn Minuten.«
»Heute?«, fragte Elling, der nicht weniger überrascht war als Gabriela und Dinko.
»Ja.«
»Es ist Silvester.«
»Eben. Damit rechnet niemand«, antwortete er Elling und wandte sich an die beiden Bulgaren, »ziehen Sie sich an, bitte. Hier sind Ihre Ausweise.«
Mertens reichte sie ihnen, bevor er die Küche verließ und im Vorbeigehen seine Daunenjacke vom Haken nahm. Frank Elling seufzte und öffnete eine Schublade hinten in der Ecke mit einem Sicherheitsschlüssel. Darin hatten sie die geladenen Ersatzmagazine für die Sig Sauer deponiert, die sich für jeden zugänglich hinter den Konserven in der Vorratskammer befand.
Er bemerkte die eingefrorenen Gesichtsausdrücke von Gabriela und Dinko. Ihre Bewegungen wurden ungelenker, es war, als hätte ihre Muskulatur mit Mertens’ Nachricht ihre Elastizität eingebüßt.
Lona Mendt las die Neuigkeit in Mertens’ Gesicht, bevor er sie ihr und Sarah gegenüber verkündete.
»Hallo, Sarah.«
»Hallo, Herr Mertens.«
»Tja, also es ist so, dass Frau Schicketanz gerne heute mit dir sprechen möchte. Und auch mit Gabriela und Dinko.«
Heute, wollte Lona fragen, schluckte ihre Bemerkung aber herunter, denn natürlich hatte die Richterin exakt diesen Tag gewählt, um das Restrisiko für die drei Zeugen noch weiter zu minimieren. Niemand wäre heute in den Büros der Staatsanwaltschaft in Rostock. Niemand würde sie bemerken, sehen und an jemanden berichten können. Die mündliche Einvernahme würde äußerst diskret stattfinden. Kluger Schachzug.
Wie neuerdings üblich bei Dingen, die Sarah nicht einzuschätzen wusste, richtete sie ihren Blick auf Lona.
Die konzentrierte sich und schob mit einer Willensanstrengung die Nervosität beiseite, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Denn das Mädchen wusste sehr genau in Gesichtern zu lesen. Und es war Lonas Absicht, dass es sich entspannte.
»Komm, Sarah, wir holen deine Jacke. Du fährst nach Rostock und beantwortest Fragen. Das ist...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2024 |
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Reihe/Serie | Die Toten von Marnow |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | ARD-Serie • Deutsche Fernsehserie • Deutscher Fernsehpreis • Elisabeth Herrmann • Ermittlerduo • Ermittlerpaar • Frank Elling • Gil Ribeiro • Karsten Dusse • Korruption • Lona Mendt • Max Bentow • Melanie Raabe • Menschenhandel • Nele Neuhaus • Netflix Serie • Ostdeutschland • Petra Schmidt-Schaller • Puzzle-Thriller • Rätselhafte Verbrechen • Sabine Thiesler • Sascha Alexander Geršak • Sonderermittler • Spannung • True Detective • vermisste KInder |
ISBN-10 | 3-462-31245-6 / 3462312456 |
ISBN-13 | 978-3-462-31245-4 / 9783462312454 |
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