Akbara (eBook)

und andere Märchen
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2024 | 1. Auflage
80 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31190-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Akbara -  Tschingis Aitmatow
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Wenn Tschingis Aitmatows Kinder Eldar und Shirin nicht einschlafen wollten, baten sie ihren Vater um eine Geschichte. Und so erzählte er: von einem Äffchen, das keines war, von drei tapferen Schwestern, die in ihrer Not Berge und Wälder sprießen lassen, und von den Wirbelwinden der weiten Steppen, die im Balchaschsee versinken und das Schicksal der furchtlosen Königstochter Akbara heraufbeschwören. Dieser Band versammelt drei Märchen, die Tschingis Aitmatow seinen Kindern erzählt hat, inspiriert von den Sagen und Legenden Kirgisiens.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.

Akbara


In den endlosen Weiten um den Balchaschsee breiten sich abgestorbene, menschenleere Steppen aus. Es wird erzählt, dass es hier vor langer Zeit fruchtbares Land gegeben hat, Regen, Pflanzen und grünes, grünes Gras. Und es sprudelten Bäche und Quellen, und Flüsse strömten durch das weite Land, wo viele Menschen glücklich lebten, die mit ihren Herden von Weide zu Weide zogen.

Und es war einmal das Khanat Toro Baital. Niemand weiß so recht, ob es tatsächlich ein großes Königreich war oder nur ein winziges Feudalreich. Aber man kann bis in unsere Tage die Ruinen der Grabstätten sehen, die einst prachtvolle Mausoleen waren. Heute ist aber dort keine Menschenseele mehr anzutreffen. Nichts lebt, alles ist erstarrt und wie tot, erbarmungslos glüht die Sonne auf die trockene Erde herab.

Nur dann und wann im Hochsommer, wenn die Hitze unerträglich ist, tauchen am fernen Horizont Sandsäulen auf – Wirbelwind um Wirbelwind jagt über die Einöde. Die Wirbelwinde kommen von weit her, sie fegen durch die weiten Steppen, und wenn sie endlich ihr Ziel, den Balchaschsee, erreicht haben, versinken sie im Wasser.

Dann sagen die Hirten am Ufer des Sees: »Das ist Akbara, die schöne Akbara, die vor ihren Feinden flieht.«

Die Hirten sprechen das mit ehrfürchtiger Stimme aus und fallen zurück in ihr Schweigen.

Der Ort, wo die Wirbelwinde verschwinden, liegt nahe der schönsten Bucht des Balchaschsees. Sie zieht sich hin wie ein schmaler, langer Strich aus Wasser. Auch die Bucht heißt Toro Baital – die braun gescheckte Stute.

In den alten Zeiten, als das Land gesegnet war und Menschen darin lebten, als Gräser wuchsen und das Vieh weidete, gab es dort einen weithin gerühmten Khan. Ihm war nur ein einziges Kind geboren worden – die bildschöne Akbara.

Dieser Khan war klug und geachtet, natürlich war er ein reicher Mann. Aber das genügte ihm nicht. Er wünschte sich, dass sein einziges Kind alles erlernte, was es zu lernen gab, ohne jeden Zwang sollte es aufwachsen und einzigartig sein. Die besten Lehrer und Mullahs unterrichteten das Mädchen. Und so lernte Akbara, die Tochter des Khans, lesen und schreiben, und Akbara war sehr begabt.

Aber unter den Stämmen in den Weiten um den Balchaschsee war dieser Khan der Vasall eines noch mächtigeren Khans. Und der Großkhan war ein gefürchteter Tyrann, der danach strebte, mit Allmacht über die Menschen zu herrschen. Er führte ständig Kriege. Er selbst und seine Nächsten waren zueinander wie Katz und Maus, da traute keiner dem anderen, sie belogen und betrogen sich und stellten sich gegenseitig Fallen.

Natürlich suchte der tyrannische Großkhan mit Akbaras Vater, dem guten Khan, Streit. Sie mochten sich nie, doch einer offenen Fehde waren sie bis dahin aus dem Weg gegangen. Alle wussten, dass der Großkhan den Vater der schönen Akbara hasste. Die Feindschaft zwischen den beiden war groß, und die Spannung wuchs beständig. Aber nicht davon handelt unsere Geschichte.

In derselben Gegend gab es einen jungen Mann, der von armen Leuten abstammte. Er hieß Muchtar, war voller Tatendrang und Wissbegierde. Die Mullahs seines Ortes entdeckten sein Talent, lehrten ihn ihre Kunst und ihr Wissen, und er hatte bald alles gelernt, was ihm die Lehrer seiner Heimat beibringen konnten. Dann sorgten sie dafür, dass er in die Medrese nach Chiwa geschickt wurde – in die beste Schule von ganz Mittelasien. Chiwa war das Zentrum der Kultur und lag weit entfernt vom Ail am Balchaschsee, aus dem er stammte. Doch der Ruhm des Khanats von Chiwa war weit verbreitet. Chiwa ist längst versunken, aber noch heute kann man an den großartigen Mausoleen erkennen, wie prachtvoll das mittelalterliche Chiwa gewesen ist.

Die Mullahs seiner Gegend schickten also den fähigen jungen Mann zum Studium nach Chiwa. Aber Muchtar blieb mit seiner Heimat verbunden und kam immer wieder zu Besuch nach Hause an den Balchaschsee.

Das größte Talent des jungen Mannes war die Poesie, er konnte wunderschöne Gedichte schreiben. Auch Akbara verfasste Verse. Und die Neigung der beiden, Gedichte zu verfassen, brachte die schöne Akbara, Tochter des reichen Khans, und Muchtar, den begabten Sohn einer armen Familie im Ail am Balchaschsee, einander näher.

Wie heute gab es auch damals Treffpunkte der jungen Menschen, wo sie sangen, spielten und tanzten. Eines schönen Abends, als die Mädchen und Burschen beisammen waren und sich vergnügten, da verliebten sich Akbara und der Dichter aus Chiwa ineinander. Die siebzehnjährige Akbara und der Chiwine, wie ihn alle nannten, trugen ihre Verse vor. Der Chiwine blickte in Akbaras Augen. Von diesem Tag an konnte er nicht mehr vergessen, wie die Augen Akbaras strahlten, und wie herrlich ihre Stimme klang, als sie ihre Verse sang.

Die Augen Akbaras waren ganz blau. Unter asiatischen Menschen kommt das selten vor, und Akbaras Augen waren von einem ganz besonderen Blau.

Als sie um die besten Lieder und Gedichte wetteiferten, war dem Chiwinen sofort klar, dass Akbara in allem unvergleichlich war. Sie fesselte ihn nicht nur durch ihre Schönheit, sondern auch durch ihr ungezwungenes Wesen, war sie doch die Tochter eines Khans. Er empfand, der Vortrag ihrer Lieder und Verse war ganz ihm, dem Dichter aus Chiwa, bestimmt. Er erwiderte ihr darauf mit seiner Kunst. Um nicht gleich allen zu zeigen, was er empfand, begann er mit Versen, die andere verfasst hatten und schon bekannt waren. Erst dann trug Muchtar eigene Lieder und Verse vor, denen er einen tieferen Sinn unterlegte. Diese Gedichte enthielten etwas Verborgenes, das allein Akbara galt, sie drückten das Gefühl und die Sehnsucht des Chiwinen aus. Der Dichter aus Chiwa wandte sich also an die schöne Akbara mit Worten, die er verschlüsselte.

So begann die Geschichte der großen Liebe Akbaras und Muchtars.

Natürlich war die schöne Tochter des reichen Khans für ihn unerreichbar. Was besaß er schon? In seiner Sippe gab es niemanden, der ihn, wie es Sitte und Brauch jener Zeit erforderten, unterstützen konnte. Niemand konnte für Muchtar bei Akbaras Vater um die Hand der Tochter anhalten. Um überhaupt vor den Khan treten zu dürfen, hätte Muchtar mit einer Karawane ankommen müssen, mit Geschenken und Menschen von Rang, die der Khan anerkennt und anhört.

Das erfüllte den Dichter aus Chiwa mit tiefer Trauer, ja es machte ihn fast schwermütig. Muchtar liebte Akbara mehr als alles in der Welt, und Akbara erwiderte die gleichen Gefühle. Er war der einzige Mann, dem sie ihr Herz öffnete. Nur ihn wollte sie ewig lieben. Und je länger der Wunsch währte, desto heftiger wurde die Liebe.

Es gab damals keine Post wie in unseren Tagen. Dann und wann reiste jemand von Chiwa an den Balchaschsee, oder vom Balchasch ins berühmte Chiwa mit ihrer Medrese, den prachtvollen Mausoleen und dem herrlichen Schloss in Kunja-Ark. Wer eine Liebesbotschaft überbringen wollte, suchte einen Reisenden und gab ihm seine Worte mit auf den Weg, die schönsten Verse der Zeit, die dann die Jugend als Lieder sang. Ganz besonders das Lied über Akbara und ihre unsterbliche Liebe zu Muchtar, dem Chiwinen, der sich so weit weg von ihr danach verzehrt, sie zu sehen und zu umarmen.

»O, Akbara«, schrieb er ihr, »ich bin so weit weg von dir, lese Bücher um Bücher und schreibe dir meine Verse, all das erfüllt meine Tage, und dennoch brennt in mir die Sehnsucht nach dir, geliebte Akbara, wie kann ich nur zu dir gelangen, für immer bei dir sein, um in deine blauen Augen zu blicken, deinen Gesängen zu lauschen und mich an deiner Stimme zu berauschen.«

Muchtar schrieb ihr all das, was das Herz eines jungen Liebenden erfüllt, und sie antwortete ihm mit derselben Leidenschaft.

Noch heute singt man dort, wo Akbara einst lebte, die Lieder über ihre Liebe. Doch leben dort in unserer Zeit fast keine Menschen mehr, nur ein paar alte Hirten, die weitererzählen, was man ihnen erzählte. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, der das Glück hatte, dorthin zu gelangen und einen Alten zu treffen, der mir davon berichtete, als ich die seltsamen Wirbelwinde aus Sand sah, die ich nirgendwo sonst in der Welt gesehen habe. Das ist die Jagd der Wirbelwinde, ein Wind prescht hinter dem anderen her, als verfolge er ihn, bis sie alle in der Bucht Toro Baital versinken. Und der Alte sagte mir: »Das ist Akbara, die schöne Akbara, die vor ihren Feinden flieht. Wer hinhört, vernimmt ihre Lieder in den Wirbelwinden …«

Akbara und Muchtar, der Chiwine, lebten also lange voneinander getrennt, er studierte in Chiwa, und sie verbrachte ihre Tage am Balchaschsee.

Allmählich sprach sich herum, was als das Geheimnis der beiden begonnen hatte. Ihre Briefe und Verse wurden zu Liedern des Volkes, die bei Festtagen und Hochzeiten die besten Sängerinnen und Sänger vortrugen. Die Liebe von Akbara und dem Chiwinen war in aller Munde. Und genau dies sollte ihr Verhängnis werden.

Akbaras Vater war inzwischen beim Großkhan in Ungnade gefallen. Der Tyrann wusste wohl, dass
sein Vasall nicht schwach war. Hinter dem Vater von Akbara standen mehrere Stämme, die zu kämpfen verstanden. Der Großkhan war sich also nicht sicher, wer in einem Krieg gewinnen würde. Andererseits wollte er aber nicht untätig bleiben und sich lächerlich machen. Ein Mann hatte Mann zu sein, vor allem ein Großkhan.

Der Tyrann wusste natürlich auch von der großen Liebe Akbaras und Muchtars. Auch ihm waren die feurigen...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2024
Übersetzer Friedrich Hitzer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dichtung • kirgisistan • Märchen • Natur • Nomaden • Sprache • Steppe • Tier • Wolf
ISBN-10 3-293-31190-3 / 3293311903
ISBN-13 978-3-293-31190-9 / 9783293311909
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