Der Mord in der Schlange. Inspector Grants erster Fall (eBook)

Ein Krimi aus dem London der 20er-Jahre

(Autor)

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2024
192 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-32450-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mord in der Schlange. Inspector Grants erster Fall - Josephine Tey
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London in den 1920er-Jahren: Großes Gedränge vor dem Theater im West End, die Karten für die letzten Aufführungen des Musicals sind heiß begehrt. Da sackt ein junger Mann inmitten der Menge zusammen, in seinem Rücken steckt ein Dolch. Niemand der Umstehenden will von der Tat etwas mitbekommen haben. Und wer ist das Opfer überhaupt? Ein Fall für Inspector Grant von Scotland Yard, dessen Ermittlungen sich mühsam genug anlassen. Die Schottin Josephine Tey (1896-1952) überwand die Grenzen, die dem Krimi-Genre zu ihrer Zeit gesetzt waren, und schuf mit ihrem ersten Fall für Inspector Grant einen klugen Roman voll überraschender Wendungen.
  • Josephine Teys Krimis sollte man nicht verpassen: Einer wurde Grundlage für einen Hitchcock-Film, einen anderen wählte die »Crime Writers' Association« 1990 zum »besten Kriminalroman aller Zeiten«!
  • »Inspektor Alan Grant, ein super Typ und die Bücher sind richtig gut geschrieben.« NDR
  • Ein Klassiker des Golden Age der Kriminalliteratur und erster Band der sechsteiligen Alan-Grant-Reihe
  • Großes Lesevergnügen mit einer ordentlichen Prise britischen Humors


Elizabeth Mackintosh (1896-1952), bekannt unter dem Pseudonym Josephine Tey, war eine schottische Autorin von Kriminalromanen und Theaterstücken. Sie lebte zurückgezogen in ihrem Elternhaus in Schottland. Mit ihren Romanen über den Ermittler Alan Grant zählt sie, wie Agatha Christie, Ngaio Marsh und Dorothy L. Sayers, zum Goldenen Zeitalter des Krimis. 'Alibi für einen König' wurde von der britischen Crime Writers' Association zum besten Kriminalroman aller Zeiten gekürt.

1

Es war zwischen sieben und acht Uhr an einem Märzabend. Überall in London wurden Kinos und Theater geöffnet. Die Anhänger von Thespis und Terpsichore standen geduldig in Viererreihen vor den Toren des Versprechens. Hier und da gab es natürlich keine Kolonnen. Vor dem Irving standen zum Beispiel nur fünf Leute auf den beiden Eingangsstufen; griechische Tragödie war nicht sonderlich beliebt. Vor dem Playbox war überhaupt niemand. Im Arena trat seit drei Wochen ein Ballett auf. Hier hatten sich zehn Personen für Galerieplätze und eine lange Schlange für das Parterre angestellt. Aber vor dem Woffington schienen sich beide Menschenschlangen bis ins Unendliche zu erstrecken. Schon vor einiger Zeit war ein lordhafter Portier an der Parterre-Schlange entlanggegangen. Mit ausgestrecktem Arm hatte er eine Geste gemacht, die alle Hoffnung zu vernichten schien. Dabei hatte er gesagt: »Ab hier ist Schluss!« Nachdem er so die Schafe von den Böcken getrennt hatte, zog er sich wieder auf seinen olympischen Platz vor dem Theater zurück, hinter dessen breiten Glastüren Wärme und Geborgenheit lockten. Aber niemand hatte sich von der langen Schlange entfernt. Wer dazu verdammt war, noch drei Stunden länger hier auszuharren, schien das Martyrium gleichgültig auf sich zu nehmen. Man lachte und plauderte und bot sich gegenseitig Schokoladenstückchen aus knisterndem Silberpapier an. Noch drei Stunden auf die nächste Vorstellung warten? Na und? Wer würde das nicht tun? Schließlich lief ja Didn’t you Know? die letzte Woche. Seit nahezu zwei Jahren war die musikalische Komödie in London die Sensation gewesen, und jetzt begann der Schwanengesang. Jedermann von London schien sich nun vor dem Woffington zusammenzudrängen, um diese Show noch einmal genießen zu können; um zu sehen, ob Golly Gollan einen neuen Gag seinem Triumph der Torheit hinzufügen würde … Golly Gollan, der von einem wagemutigen Manager vor einem Leben auf der Straße bewahrt worden war und seine Chance genutzt hatte. Man wollte sich noch einmal im lieblichen Reiz und temperamentvollen Glanz von Ray Marcable sonnen, die vor zwei Jahren wie ein Komet aufgetaucht war und alle bekannten Stars in den Schatten gestellt hatte. Jetzt würde sie – wie alle guten Dinge – nach Amerika gehen. Nach diesen letzten zwei Jahren mit Ray Marcable würde London wie eine unvorstellbare Wüste sein. Wer würde sich also nicht geduldig ein paar Stunden lang anstellen, um sie wenigstens noch ein einziges und letztes Mal zu sehen?

Seit fünf Uhr hatte es genieselt, und es wehte auch ein ziemlich rauer Wind, aber das vermochte niemanden abzuschrecken; nicht einmal das Wetter konnte heute ernst genommen werden. Die Menschenschlange harrte geduldig aus. Zeitungsjungen waren aufgetaucht, wie Wiesel an der Schlange entlanggeflitzt und wieder verschwunden, nachdem sie einen Teil ihrer Zeitungen abgesetzt hatten. Dann hatte ein Mann, dessen Beine kürzer gewesen waren als sein Körper, einen zerlumpten Teppich auf dem nassen Pflaster ausgebreitet und damit begonnen, seine Gliedmaßen zu verrenken, bis er schließlich wie eine unversehens überraschte Spinne ausgesehen hatte; seine traurigen Krötenaugen waren immer wieder an anderen und völlig unerwarteten Plätzen aufgetaucht, sodass selbst dem gleichgültigsten Zuschauer ein kaltes Prickeln über den Rücken gerieselt war. Ihm folgte dann ein Mann, der auf einer Geige bekannte Weisen gespielt hatte; dass die E-Saite einen halben Ton zu tief gestimmt war, hatte er gar nicht gemerkt. Beinahe gleichzeitig war auch noch ein Straßensänger aufgetaucht, der sentimentale Balladen zum Besten gegeben hatte, begleitet von drei Musikanten. Danach hatten noch ein Zauberkünstler, ein Evangelist und ein Mann, der sich als Entfesselungskünstler produzierte, ihre Vorstellungen gegeben. Alle diese Leute waren nach Beendigung ihrer Darbietung an der langen Schlange entlanggewandert und hatten ihren bescheidenen Obolus geheischt und kassiert. Um das kurzweilige Programm komplett zu machen, hatte es natürlich auch nicht an Hausierern gefehlt, die Süßwaren, Zündhölzer, Spielzeug und sogar Ansichtskarten verkauft hatten. Gutmütig hatte die wartende Menge ein paar Pence geopfert, um sich für die gebotene Unterhaltung zu bedanken, die ihnen die lange Wartezeit verkürzte.

Und dann kam plötzlich Bewegung in die lange Schlange. Für den Erfahrenen konnte es dafür nur eine Ursache geben – die Türen wurden geöffnet. Hocker wurden zusammengeklappt und in großen Taschen verstaut; Naschwerk verschwand; Geldbörsen wurden gezückt. Das so herrlich aufregende Spiel hatte begonnen. Wie würde man dabei abschneiden? Sieg, Platz oder Verlierer? Bis zur Kasse war ein langer Weg. Während am Kopf der langen Schlange klirrende Münzen auf dem Zahlteller verkündeten, dass die ersten Glücklichen ihren Zutritt zum Paradies erkauft hatten, drängten die weiter hinten Stehenden ungeduldig nach, bis von vorn lautstark protestiert wurde. Ein Polizist ging an der Schlange entlang, um wieder einigermaßen für Ordnung zu sorgen.

»Na, na!«, sagte er gutmütig. »Immer mit der Ruhe! Ist ja noch Zeit genug. Drängeln nutzt doch gar nichts. Alles zu seiner Zeit.«

Ab und zu rückte die Schlange ein, zwei Schritte vor, wenn wieder einige der Auserwählten aufatmend durch den Eingang verschwunden waren. Jetzt hielt eine dicke Frau den Betrieb auf, indem sie in ihrer Handtasche nach mehr Geld fummelte. Hätte die dumme Pute sich nicht vorher nach der Höhe des Eintrittspreises erkundigen können? Die Frau schien die Feindseligkeit zu spüren, denn sie drehte sich um und fauchte den hinter ihr stehenden Mann wütend an: »He, so schubsen Sie doch nicht so! Kann eine Dame nicht mal ihren Geldbeutel aus der Handtasche nehmen, ohne dass deswegen gleich jedermann sein gutes Benehmen vergisst?«

Aber der Mann, den sie angesprochen hatte, reagierte überhaupt nicht. Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Der empörte Blick der Dicken fiel lediglich auf den weichen Hut des Mannes. Sie schnaufte verächtlich, drehte sich wieder um und legte das Geld für die Eintrittskarte hin.

Der Mann hinter ihr sackte in die Knie, sodass die nächsten Leute hinter ihm beinahe über ihn gefallen wären. Er verharrte einen Augenblick in dieser Position, dann kippte er noch langsamer um und fiel auf sein Gesicht.

»Der Bursche ist ohnmächtig geworden«, sagte jemand. Niemand rührte sich zunächst, bis schließlich ein Mann daran dachte, dem Zusammengebrochenen zu helfen. Er bückte sich bereits nach ihm, doch plötzlich zuckte er zurück. Eine Frau kreischte entsetzt auf. Die schiebende und drängende Menge erstarrte jäh zu einer regungslosen Masse, dann zogen sich die Nächststehenden in einer instinktiven Reaktion langsam zurück.

Der Mann lag im hellen Lichtschein, der jede Einzelheit erkennen ließ. Aus dem grauen Tweed-Mantel ragte ein silbernes Ding schräg nach oben. Es glitzerte beinahe unheimlich im nackten, kalten Licht.

Es war das Heft eines Dolches.

Bevor der Ruf »Polizei!« noch richtig laut geworden war, tauchte der Constable vom hinteren Ende der Schlange auf. Er hatte sich bereits bei den ersten hysterischen Schreien der Frau umgedreht. Jetzt stand er da, starrte einen Moment auf die Szene, beugte sich über den Mann, drehte dessen Kopf langsam ins Licht, ließ ihn wieder los und sagte zu dem Mann hinter dem Schalter: »Telefonieren Sie nach einem Krankenwagen! Und nach der Polizei!« Dann richtete er seinen ziemlich schockierten Blick auf die Schlange. »Kennt jemand von Ihnen diesen Gentleman?«

Aber niemand behauptete, mit der regungslosen Gestalt auf dem Boden bekannt zu sein.

Hinter dem Mann hatte ein wohlhabendes Paar aus der Vorstadt gestanden. Die Frau stöhnte beständig vor sich hin, machte dabei aber ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht.

»Oh, Jimmy, lass uns heimgehen! Lass uns nach Hause gehen, Jimmy!«

Auf der gegenüberliegenden Seite vom Schalter stand die dicke Frau, von jähem Entsetzen wie gelähmt, die Eintrittskarte zwischen den Fingern in den schwarzen Handschuhen. Sie traf keinerlei Anstalten, sich einen Platz zu suchen, obwohl der Weg für sie jetzt frei war.

Die Schreckensnachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die lange Menschenschlange.

Ein Mann war ermordet worden!

»Oh, Jimmy, lass uns heimgehen! Lass uns nach Hause gehen, Jimmy!«

Jimmy sagte zum ersten Mal auch etwas.

»Ich glaube nicht, dass wir das jetzt können, altes Mädchen. Die Polizei muss erst entscheiden, ob sie uns brauchen wird oder nicht.«

Der Constable hatte es gehört und sagte: »Da haben Sie ganz recht! Sie können jetzt nicht gehen. Die ersten sechs müssen hierbleiben. Und Sie auch!«, wandte er sich an die Dicke. »Die anderen gehen bitte weiter!« Er gestikulierte dabei wie ein Verkehrspolizist, der nach einem Unfall neugierige Zuschauer zum Weitergehen auffordert.

Jimmys Frau brach in hysterisches Schluchzen aus. Die Dicke protestierte ungestüm. Sie sei hergekommen, um die Show zu sehen. Von dem Mann wüsste sie überhaupt nichts. Die vier Leute hinter dem Vorstadt-Ehepaar schienen auch keine Lust zu haben, in eine Sache verwickelt zu werden, mit der sie nicht das Geringste zu tun hatten und deren Ausgang gar nicht abzusehen war. Auch sie protestierten und behaupteten, nichts zu wissen.

»Kann schon sein«, sagte der Polizist. »Aber das alles werden Sie auf dem Revier erklären müssen. Kein Grund zu Befürchtungen«, fügte er tröstend, aber unter den gegebenen Umständen wenig überzeugend hinzu.

Die Schlange rückte allmählich weiter nach vorn. Der Portier brachte von irgendwoher einen grünen Vorhang...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Übersetzer Alfred Dunkel
Sprache deutsch
Original-Titel The Man in the Queue
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • 30er Jahre • 40er Jahre • Agenten • alan grant serie • alibi für einen könig • britische krimiautoren • Britischer Humor • Cosy Crime • cozy book list • Cozy Crime • Crime Fiction • der letzte zug nach schottland • Detektive • Detektivgeschichte • eBooks • ein fall für alan grant • englische Krimis • experte in sachen mord • Hardboiled • Inspector • Klassische Kriminalromane • Krimi • Kriminalliteratur • Kriminalromane • Krimi-Reihe • Krimis • Kultklassiker • Kultkrimis • Murder Mystery • Mystery • Neuerscheinung • Nicola upson • Scotland Yard • Spionage • Warten auf den Tod • Whodunit
ISBN-10 3-641-32450-5 / 3641324505
ISBN-13 978-3-641-32450-6 / 9783641324506
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