Pi mal Daumen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024
272 Seiten
Kiepenheuer & Witsch eBook (Verlag)
978-3-462-31133-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pi mal Daumen -  Alina Bronsky
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Ausgezeichnet als Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen 2024
Bestseller-Autorin Alina Bronsky legt eine Komödie über zwei Menschen vor, die aus unterschiedlichen Welten stammen - und am Ende nicht mehr ohne einander sein wollen. Warmherzig, rasant und höchst unterhaltsam. Sie begegnen sich zum ersten Mal in einer Vorlesung: Der hochbegabte Oscar ist 16, hat einen Adelstitel und ist noch nie mit der U-Bahn gefahren. Moni Kosinsky hat drei Enkel, mehrere Nebenjobs und liebt knalligen Lippenstift und hohe Absätze. Sie ist fest entschlossen, sich heimlich den Traum von einem Mathe-Studium zu erfüllen. Doch im Hörsaal wird Moni für eine Putzfrau gehalten und belächelt. Wie kommt sie dazu, sich für eines der schwierigsten Fächer überhaupt einzuschreiben? Und woher kennt sie den berühmtesten Professor der Uni? Bald muss nicht nur Oscar feststellen, dass Monis Verstand und Beharrlichkeit größer sind als ihre Wissenslücken. Denn Mathematik schert sich nicht um Fragen der Herkunft, des Alters und des Aussehens. Oscar dagegen kämpft mit dem Alltag und findet ausgerechnet in der warmherzigen Moni eine Vertraute, die seinem Leben eine entscheidende Wendung gibt. Bald verbindet die beiden Außenseiter eine Freundschaft, die niemand für möglich gehalten hätte. Ein leichtfüßiger, raffinierter, tragikomischer Roman über eine schillernde Heldin und eine ungewöhnliche Freundschaft, die weit über Fragen nach der vierten Dimension und schlechtes Mensa-Essen hinaus durchs Studium und Leben trägt.

Alina Bronsky, geboren 1978, lebt in Berlin. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller und fürs Kino verfilmt. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. 2019 und 2021 erschienen ihre Bestseller »Der Zopf meiner Großmutter« und »Barbara stirbt nicht«.

Der Lauch und der Stiefel


Als ich Moni Kosinsky zum ersten Mal sah, hielt ich sie wahlweise für eine Sekretärin oder für eine Kantinenfrau, die sich verlaufen hatte. Ich wunderte mich noch, wie man sich derart verirren konnte: Die Mensa befand sich einen zehnminütigen Fußweg entfernt. Die erste Vorlesung in Analysis hatte vor einer Viertelstunde begonnen, und Moni stand in der Tür, die jämmerlich gequietscht und dadurch alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sie trug einen roten Kunstlederrock und eine tief ausgeschnittene Bluse mit Leopardenmuster. Über ihrer Schulter hing eine blaue, knallvolle Ikea-Tasche.

Professor Zschau hielt mitten im Satz inne, die Hand mit der Kreide in der Luft.

»Tschuldigung«, flüsterte Moni durchdringend und raschelte mit ihrer Tüte den Gang entlang. Sie blieb vor mir stehen. »Ist der Sitz hier noch frei, Kleiner? Rückst du ein Stück?«

Ich wurde rot und nickte.

Ich gab ihr nicht die geringste Chance.

Am Anfang des Semesters waren die Vorlesungen noch voll, die Leute mussten auf der Heizung oder auf dem Boden sitzen. Die Hälfte der Professoren hatte osteuropäische Namen. Sie waren besonders gefürchtet, weil sie den Stoff des ersten Uni-Semesters bereits in der neunten Klasse auf ihren spezialisierten Schulen gelernt und wenig Verständnis für das Schneckentempo in Deutschland hatten.

»Warten Sie ein paar Wochen«, hatte der Studiendekan Professor Orlov bei der Begrüßungsveranstaltung gesagt. »Dann sind wir wieder unter uns. Nach der ersten Woche geht jeder Zweite von Ihnen. Nach vierzehn Tagen bleibt ein Fünftel übrig. Nach der ersten Klausur weinen Sie alle bis auf zwei, drei Leute, die wirklich hierhergehören.«

Ich wusste, dass ich zu den wenigen Bleibenden gehören würde. Ich ließ den Blick über die Köpfe schweifen, um aufgrund des Erscheinungsbildes abzuschätzen, wer wie lange durchhalten würde. Es waren ein paar Ältere dabei, mit gestressten Gesichtern und silbrigem Haaransatz, die Mathelehrer werden wollten. Sie waren unangenehm überrascht davon, dass sie in den ersten Semestern dieselben Veranstaltungen wie richtige Mathematiker besuchen mussten. Nichts interessierte sie weniger als ihr künftiges Fach. Sie wollten einen sicheren Arbeitsplatz und ihre Ruhe.

Von Mister Brown wusste ich, dass sie die Ersten waren, die sich über zu viele Übungsblätter und zu schwierige Klausuren beschweren würden. Sie würden die Dozenten sofort über die Anzahl und das Alter ihrer Kinder unterrichten, auf den Brotjob verweisen, der ihre Großfamilie nur notdürftig ernährte, und nach der ersten Woche versuchen, zu Germanistik oder Sonderpädagogik zu wechseln. Sie kamen mir wie Heiratsschwindler vor: Ich war der Meinung, dass nur Menschen, die es mit der Mathematik ernst meinten, dieses Fach studieren durften.

Moni saß neben mir, nachdem sie ihre Ikea-Tasche in den Gang gestellt hatte. Daraus lugten ein kleiner, bunter Gummistiefel und mehrere Stangen Lauch hervor. Ich konnte ihr Alter nicht schätzen. Ihre ausladende Figur erinnerte mich an unsere Haushälterin Frau Berger, ihre gelben Haare an die alten Puppen meiner Schwester Lou, ihre Kleider an die amerikanischen Pin-up-Plakate aus den Sechzigerjahren, die in unserem Billardzimmer hingen.

Während ich Moni verstohlen musterte, holte sie einen Stift heraus und begann, sich Notizen zu machen. Sie schrieb langsam, konzentriert, mit großen runden Buchstaben. Niemand würde es in diesem Tempo durchhalten. Mathematiker schrieben klein, schnell und unleserlich. Ich trainierte es seit der fünften Klasse.

Sie hatte mich schon in den ersten Minuten so abgelenkt, dass ich kurz vergessen hatte, der Vorlesung zu folgen. Als ich wieder nach vorn schaute, war eine der beiden Tafeln bereits vollgeschrieben und wurde hinter die andere geschoben.

»Mach dir nichts draus, Kleiner«, sagte Moni, als sie meine Panik bemerkte. »Du kannst bei mir abschreiben.«

Ich war es nicht gewohnt, dass fremde Menschen nach dem Erstkontakt weiter mit mir sprachen. Schon meine erste Reaktion war für mein Gegenüber meist so erschöpfend, dass kein weiterer Bedarf bestand. Nahezu alle Ausnahmen von dieser Regel erwiesen sich als Freaks. Monis wiederholter Redebedarf versetzte mich daher in Alarmbereitschaft.

Ich musste sie ganz schnell abschütteln. Sie hatte von nichts eine Ahnung. Zwar hatte sie einen handgeschriebenen und gefalteten Stundenplan dabei, der auf den ersten Blick auf dem Vorlesungsverzeichnis aus dem Vorjahr aufbaute. Dafür besaß sie nicht den blassesten Schimmer, wo die Mensa und wo die Bib waren und wie man sich für anwesenheitspflichtige Tutorien anmeldete. Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, sich überhaupt zu immatrikulieren. Ihrem Smartphone-Modell nach zu urteilen musste sie noch älter sein, als ich gedacht hatte.

»Dreiundfünfzig«, sagte sie, obwohl ich sie gezielt nicht gefragt hatte. »Ich bin dreiundfünfzig. Guck nicht so schockiert. Und du, du siehst aus wie vierzehn.«

Das hörte ich nicht zum ersten Mal. »Ich werde bald siebzehn.«

»Ach du Schreck. Was machst du dann schon hier?«

»Früh eingeschult und eine Klasse übersprungen.«

»Wow«, sagte sie. »Wie konnten dich deine Eltern in die schlimme Großstadt ziehen lassen?«

»Es blieb ihnen nichts anders übrig.«

»Du bist ein ganz Schlauer, ja?«

»Ja«, sagte ich.

In Monis grünen Augen lag etwas, das wie eine Mischung aus Trauer und Mitgefühl aussah. »Dann bleib mal schön in meiner Nähe. Ich bin allerdings nicht so schlau. Mein Vater hat immer gesagt, wenn man den Durchschnitt aus den IQs seiner beiden Kinder bildet, kommt ein normaler Mensch heraus.«

Ich hatte noch nie gehört, dass jemand sich bereitwillig als dumm bezeichnete. Vor lauter Verblüffung (und vermutlich unbewusst geprägt durch die karitative Tätigkeit meiner Familie) bot ich Moni an, ihr die Mensa, die Bib und das elektronische Campus-System zu zeigen.

»Was wäre ich nur ohne dich«, sagte sie.

Was für eine Verschwendung von Steuergeldern, dachte ich, als ich sie zu einem Automaten führte, aus dem sie die kleine Plastikkarte holen und wo sie diese auch aufladen konnte. »Damit können Sie Bahn fahren, sich als Studierende ausweisen und in der Mensa bezahlen.«

Sie trug die Karte ehrfürchtig auf der Handfläche wie einen Schmetterling, bis wir am Kaffeeautomaten standen. »Ich lad dich ein, Kleiner. Was willst du trinken? Ein Glas Milch?«

Ich winkte ab. »Sie müssen mir nichts ausgeben.«

»Lass mich doch. Zum Dank. Ohne dich wäre ich verloren.«

Weil sie recht hatte, erlaubte ich ihr, meinen Kamillentee zu bezahlen. Sie selbst drückte einen Knopf auf der Kaffeemaschine und balancierte einen Cappuccino auf einem Tablett zu einem Tisch am Fenster. Ich setzte mich neben sie, ernüchtert von der Bilanz: Ich hatte hier bislang keinen einzigen normalen Menschen kennengelernt.

»Ich fass es nicht.« Moni leckte den Milchschaum vom Löffel. »Ich trinke einfach so Cappuccino in der Uni-Mensa. Wie klingt das?«

»Absurd«, sagte ich höflich. Und dann dachte ich: Was soll’s? Ich war schließlich nicht hierhergekommen, um Freundschaften zu schließen. Ich wollte meinen Bachelor unter der Regelstudienzeit machen – fünf Semester[1] sollten reichen. Für den Master wollte ich ins europäische Ausland, für die Promotion in die USA.

Mister Brown hatte mir gesagt, dass Mathematik ein Mannschaftssport sei. Ich solle eine Lerngruppe finden, gemeinsam die wöchentlichen Übungszettel lösen, alles ausdiskutieren. Allein könne hier niemand bestehen. Aber ich war sicher, dass er sich zumindest darin irrte. Bislang hatte ich immer alles allein geschafft und war damit am weitesten gekommen. Hätte der geniale Andrew Wiles den Großen Satz von Fermat jemals lösen können, wenn er seine Teilergebnisse anderen geschenkt hätte? Hätte der geniale Autodidakt Srinivasa Ramanujan das Wort Teamarbeit buchstabieren können?

»In Analysis und linearer Algebra müssen wir unsere Lösungen in Zweiergruppen abgeben«, sagte ich. Eine Forderung, die mich bekümmerte, seit ich in der Orientierungswoche davon gehört hatte. Ich hatte extra die Hand gehoben, um zu fragen, ob ich auch allein abgeben dürfe.

»Trauen Sie sich ruhig, andere Menschen kennenzulernen«, hatte der Studiendekan Orlov geantwortet.

»Sie können mich nicht zwingen.«

Er hatte wie ein Bösewicht aus einem James-Bond-Film gelächelt. »Wenn Sie bestehen wollen, schon.«

»Wir können eine Zweiergruppe bilden«, sagte ich daher zu Moni.

Ich sparte mir die Frage, ob sie vielleicht bereits einen anderen Partner hatte. Es war klar, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte.

Sie strich sich eine gelbblonde Locke aus dem Gesicht. »Ich will dich doch nicht runterziehen. Such dir lieber jemanden, der gut ist.«

»Gut bin ich selber«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich überhaupt für das Studium haben werde. Meine Tochter hat drei Kinder, und Keanu zahnt gerade.«

»Ihr Meerschweinchen?«, fragte ich höflich.

»Mein Enkel.« Sie lächelte. »Das ist der jüngste. Püppi schläft kaum, und ich helfe ihr immer. Püppi ist meine Tochter. Keanu ist der Enkel.«

»Ich kann die Aufgaben notfalls auch allein lösen«, sagte ich schnell, bevor sie noch auf die Idee kam, Fotos zu zeigen. »Machen Sie sich keinen Kopf. Ich schreibe einfach nur Ihren Namen auf das Blatt, weil wir eine Zweiergruppe bilden müssen. Sie kriegen die benötigten Punkte quasi umsonst von mir geschenkt.«

»Ich will dich nicht...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asperger • Autismus • Beziehung • Gemeinschaft • Generationskonflikt • Geschenk für Frauen • Identitätssuche • Komödie • Konflikt • Mathematik • Oma • Scherbenpark • Studentenleben • Tragikomödie • unterschiedliche Welten • warmherzige Geschichte • Zusammenhalt
ISBN-10 3-462-31133-6 / 3462311336
ISBN-13 978-3-462-31133-4 / 9783462311334
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