Späte Rache (eBook)
208 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7546-8 (ISBN)
Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat elf Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.
Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat elf Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.
Tod am Napf
Ich bin am 17. August gestorben. Obwohl ich gar nicht hätte sterben sollen. Wir hätten es beide rückgängig gemacht, wäre es möglich gewesen. Doch das war es nicht. Ich weiß, das klingt nach einer komplizierten Geschichte. Ist es auch. Und eine traurige, zumindest aus meiner Sicht. Aber lassen Sie mich von vorne beginnen.
»Alles eingepackt? Proviant, Regenschutz? Wanderschuhe, und zwar die richtigen?«
Agnes konnte es nicht lassen. Jedes Mal ließ sie einen Spruch fallen. Ich konnte es nicht mehr hören. Nur weil ich damals, als wir über die Sieben Hengste wandern wollten, die falschen Schuhe mitgenommen hatte. Nicht die meinen, sondern seine. Als es noch einen »Ihn« in meinem Leben gab. Etwa drei Nummern zu groß waren sie gewesen. Eine Stolperpartie war das geworden, damals, vor ungefähr elf Jahren. Agnes hatte es nicht vergessen, sie vergaß nie etwas.
An diesem Tag, der der letzte meines Lebens werden sollte, stand der Napf auf dem Programm. Ein Tag, zum Sterben schön. Jemand hatte in großzügigen Schwüngen Wolkenfransen an den Himmel gemalt, um dem eintönigen Blau die Langeweile auszutreiben. Felder und Hügel lagen wie ein welliger Teppich vor den verschneiten Bergen, die sich Zähnen gleich auf den Horizont gesetzt hatten. Als wären sie ein Gebiss, der Himmel der Rachen – und die Wolken der Atem.
Agnes und ich standen oben an der Treppe, warteten auf Brigitte. Paul, der uns von Burgdorf nach Trubschachen chauffieren sollte, war nicht ausgestiegen. Seinem Gesicht nach zu urteilen war es eher ein Müssen als ein Wollen. Unbeteiligt schaute er zu uns herüber, trommelte mit beiden Zeigefingern einen stummen Rhythmus aufs Lenkrad. Er würde nicht mitwandern. Er wanderte nie mit. Undenkbar.
Von jenem Paul mit wilden Locken, Schlaghosen und Wollstrickpulli, der Agnes einst im Berner Gaskessel Samstag für Samstag tanzend umworben und dank einer unerschütterlichen Ausdauer letztlich auch erobert hatte, war nicht viel übrig geblieben. Siebzehn waren sie gewesen, damals, siebenundvierzig waren sie heute. Sie wirkte fünf Jahre älter – er fünf Jahre jünger. Banker war er geworden, einer von der Teppichetage. Man sah es ihm an. Kopfform, Haarwuchs wie auch seine Art sich zu bewegen und zu geben, schienen sich seiner beruflichen Tätigkeit angepasst zu haben. Aufrechter Gang. Die Haare kurz-, die Locken weggeschnitten. Ein auswechselbares Durchschnittsgesicht.
Wandern war für Paul »Weiberzeugs«, für Agnes war es Frauensache. Wandertag war Frauentag, einmal im Monat, im Sommer wie im Winter, seit Jahren schon. Stets wir drei: Agnes, Brigitte und ich, die wir bereits in der Schule gemeinsam unterwegs gewesen waren. Die Unzertrennlichen, wie Agnes manchmal sagte. Sie, die immer recht hatte, lag damit falsch. Doch wer sollte das an diesem lauen Sommermorgen ahnen?
Brigittes Zug war eingefahren. Von Herzogenbuchsee nach Burgdorf, dreizehn Minuten Fahrt, weit hatte auch sie es nicht gebracht. Nur knapp über die Talgrenze hinaus. Für einen Moment verwandelten die Pendler die Unterführung in einen Menschenteich. Brigittes Kopf stach aus den vielen Häuptern hervor, die sich durch den Betontunnel schoben – ihr langes, glattes pechfarbenes Haar, die herausfordernd hellen Augen. Selbst in ihren Wanderklamotten strahlte sie eine Eleganz aus, die mir völlig abging. Und Agnes sowieso. Brigitte war schon immer die Schönste gewesen von uns dreien. Das hatte sich nicht geändert. Im Gegenteil: Die Jahre hatten für sie gearbeitet – und gegen uns.
»Da bist du ja! Blendend siehst du aus …«
»Hallo ihr beiden. Was für ein Tag! Das hast du wieder mal bestens organisiert, Agnes.«
»Wie schön, dich zu sehen!«
»Wunderbar, dass es geklappt hat.«
»Ja, ein ganz besonderer Tag soll es werden. Ihr werdet ihn nie vergessen!«
Eine Drohung?, frage ich mich im Nachhinein. Eine Drohung, die niemand als Drohung verstand?
Während der Fahrt durchs Emmental, den Bergen entgegen, Eiger, Mönch und Jungfrau zum Greifen nah und doch nicht näher kommend, schwieg einer, und drei redeten. Nichts Besonderes also. Alles wie immer. Paul war da und doch nicht da. Erst Stunden später, als alles plötzlich anders war, fiel mir ein, was mir nicht aufgefallen war: diese Blicke während der Fahrt. Er schaute hin und wieder in den Rückspiegel, als wollte er sich vergewissern, dass wir noch immer hinter ihm saßen. Agnes auf dem Beifahrersitz blickte zwei-, dreimal zu ihm hinüber. Doch warum hätte ich mir dabei etwas denken sollen? Ich, die Ahnungslose. Die Ahnungsloseste von allen.
In Trubschachen angekommen, stiegen wir aus. Drei Küsschen, zwei links, eines rechts, drückte Paul mir und Brigitte auf die Wangen. Seiner Frau eines auf den Mund. Keine Herzlichkeit. Das hingegen hatte ich registriert. Wie die Gewohnheit die Herzlichkeit verdrängt, hatte ich gedacht. Dann fuhr er weg, der Paul.
Tock, tock, tock. Das Klopfen der Stockspitzen auf den Steinen gab uns den Rhythmus vor und mir ein vertrautes Gefühl. Agnes bestimmte Route und Tempo. Schon in der Schule hatte sie stets das Kommando übernommen, keine hatte es ihr streitig gemacht. Es war uns gerade recht gewesen. Agnes, die Anführerin, damals wie heute. Sie war immer perfekt vorbereitet, hatte die passende Wanderkarte zur Hand, den Weg, den wir zu gehen hatten, mit rotem Filzstift eingezeichnet. Es gab schon viele rote Striche in ihrer Kartensammlung, zahllose gewanderte Kilometer. Wahrscheinlich hatten wir längst die Welt umrundet.
»Wahrscheinlich haben wir schon die ganze Welt umrundet.«
Ich setzte dem Schweigen ein Ende.
»Haben wir nicht. Ich hab sie gezählt, unsere Wanderkilometer. Wir haben drei Komma sieben Mal die Schweiz durchquert.«
Brigitte und ich tauschten einen Blick. Wir waren nicht überrascht. Agnes, die Buchführerin. Über alles und jedes.
Sonderbar eigentlich, wie ausgeprägt meine Erinnerungen sind. Jedes Detail tief in mein Bewusstsein eingraviert. Als hätte ich den Tag mit einem HD-Rekorder aufgezeichnet und mir den Film schon fünfmal in Zeitlupe angesehen. Dabei hatte ich zeit meines Lebens nie ein gutes Gedächtnis. Aber vielleicht ist das so mit unseren letzten Tagen. Dass man sie nie vergisst.
Am Anfang des Schlussaktes meines persönlichen Dramas stand ein Fehltritt. Als hätte das Abrutschen meines Fußes über einen Stein mit dem darauffolgenden Umknicken des Knöchels dem Geschehen einen Stoß versetzt, um es in eine fatale Richtung zu lenken.
»Autsch, verflucht!«
Ich stolperte zwei, drei Schritte weiter, setzte mich auf einen Baumstrunk am Wegrand und zog den Schuh aus, um meinen Fuß zu untersuchen. Agnes verdrehte genervt die Augen.
»Aufpassen solltest du!«
In ihrer Stimme versteckte sich Hektik. Unvorhergesehene Ereignisse fanden in ihrem Programm keinen Platz.
»Hast du dir wehgetan?«
Brigitte begutachtete meinen Knöchel. Der machte sich gerade daran, sich bläulich zu verfärben und einen Kontrastpunkt zur heruntergeschobenen roten Socke zu setzen.
»Wird nicht allzu schlimm sein.«
Ich stand auf und belastete meinen linken Fuß, so vorsichtig, als drohe er abzuknicken wie ein angesägtes Stuhlbein, zuckte zusammen, versuchte es erneut. Der Knöchel hielt, was er nicht versprach.
»Der Schmerz wird sicher rasch nachlassen.« Der Versuch eines Lächelns missglückte, ich verzog mein Gesicht.
»Hoffentlich. Du kannst uns jetzt nicht die Wanderung verderben!« Agnes strich sich mit einer nervösen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sah nicht gut aus, das fiel mir jetzt erst auf. Zu bleich. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob sie wohl schlecht geschlafen hatte. Sie war nicht immer so.
Der kleine Zwischenfall, der an einem Tag wie jedem anderen nicht mehr als ein kleiner Zwischenfall gewesen wäre, vermochte unsere zufriedene Stimmung wegzufegen. Vielleicht lag es am Tonfall in Agnes’ Stimme, an ihrer Wortwahl. Keine Ahnung. Auf jeden Fall nahm ein unangenehmes Gefühl den Tag gefangen, der so gut begonnen hatte. Wie programmiert passte sich das Wetter umgehend unserer Laune an. Auf einmal blies uns der Wind ins Gesicht. Regenvolle Wolkensäcke hatten die Zirren weggeschoben und sich träge über den Hügeln an den Himmel gesetzt, darauf lauernd, sich zielgenau über uns zu entleeren.
Tock, tock, tock. Unbeirrt stapften wir weiter. Doch die zuvor angenehme Stille war einem bedrückten Schweigen gewichen. Keine von uns dreien mochte es brechen. Keine Bemerkungen. Keine Erzählung. Kein Wort. Etwas Unausgesprochenes hatte sich zwischen uns gedrängt und blieb verschwiegen, weil es nichts Gutes bringen würde. Was war bloß los mit uns, wir wollten es zusammen doch gut haben? Was stimmte nicht mit Agnes? Ich versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu treiben. Darin war ich immer gut gewesen, im Mich-Wegdenken. Ja nicht zu viel grübeln.
Natürlich. Jetzt, im Nachhinein, sind sie plötzlich da, all die Fragen, die ich mir nie gestellt hatte. Die Frage, ob ich diese beiden Frauen, die ich so lange zu kennen glaubte, wirklich kannte. Agnes – mit ihrem scheinbar makellosen Leben. Eine Villa mit Pool, ein angesehener Job, ein erfolgreicher Mann an ihrer Seite. Und Brigitte, die es weder im Beruf noch mit Männern jemals gut getroffen hatte und die ihre Zufriedenheit erst im Alleinsein fand. So zumindest schien es mir, die ich ihre Leben nur von außen sah. Das waren die Bilder, die sie mir hingemalt hatten und mit denen ich mich zufriedengab....
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller • Emmental • Ermittlungen • Erzählungen • Krimi • Leiche • Mord • Polizei |
ISBN-10 | 3-7152-7546-4 / 3715275464 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7546-8 / 9783715275468 |
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