Zerstört (eBook)
512 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0786-1 (ISBN)
Reese, Georgia: In einem ausgebrannten Auto wird eine Leiche gefunden - und ausgerechnet Detective Lena Adams ist die Hauptverdächtige in der anschließenden Mordermittlung. Denn Lena ist in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, in einen Ort, der von Gewalt, Drogen und Lügen regiert wird und der sie vor vielen Jahren fast gebrochen hätte. Natürlich ist Chief Jeffrey Tolliver zur Stelle, um seiner besten, aber gefährlich labilen Ermittlerin zu helfen, aber seine Frau, die Ärztin und Gerichtsmedizinerin Sara Linton, braucht ebenfalls jede mögliche Unterstützung. Trotzdem begleitet sie Tolliver - doch beide müssen schnell feststellen, dass Lenas Fall bizarrer ist als angenommen. Bald finden sie sich im Kreuzfeuer wieder ...
<p>Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 <em>New York Times</em>-Bestseller-Romanen. Dazu zählen »Cop Town«, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller »Die gute Tochter« und »Pretty Girls«. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller »Ein Teil von ihr« ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix eingestiegen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent läuft derzeit erfolgreich auf Disney+, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta. Mehr Informationen zur Autorin gibt es unter www.karinslaughter.com</p>
Montagnachmittag
1
Sara Linton blickte auf ihre Armbanduhr. Die Seiko war ein Geschenk ihrer Großmutter zu ihrer bestandenen Abschlussprüfung an der Highschool gewesen. Als Granny Emma selbst die Schule abgeschlossen hatte, lagen noch vier Monate bis zu ihrer Hochzeit vor ihr, eineinhalb Jahre bis zur Geburt ihres ersten von sechs Kindern und achtunddreißig Jahre bis zum Verlust ihres Mannes an den Krebs. Höhere Bildung war etwas, das Emmas Vater als Geld- und Zeitverschwendung betrachtet hatte, vor allem bei einer Frau. Emma hatte deswegen nicht gestritten – sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der Kinder nicht einmal daran dachten, ihren Eltern zu widersprechen –, aber sie hatte dafür gesorgt, dass die vier ihrer Kinder, die überlebten, aufs College gingen.
»Trag sie, und denk an mich«, hatte Granny Emma gesagt, während sie das silberfarbene Uhrenarmband an Saras Handgelenk befestigte. »Du wirst alles schaffen, wovon du träumst, und du sollst wissen, dass ich immer bei dir sein werde.«
Als Studentin an der Emory University hatte Sara ständig auf die Uhr geschaut, vor allem in den Vorlesungen über Biochemie, angewandte Genetik und menschliche Anatomie, die anscheinend per Gesetz von den langweiligsten und einsilbigsten Professoren, die es gab, gehalten werden mussten. Während des Medizinstudiums dann hatte sie ungeduldig auf diese Uhr geblickt, wenn sie am Samstagvormittag vor dem Labor stand und wartete, dass der Professor kam und die Tür aufschloss, damit sie ihr Experiment abschließen konnte. In ihrer Zeit als Assistenzärztin am Grady Hospital hatte sie das weiße Zifferblatt mit verquollenen Augen angestarrt und versucht, die Zeigerstellung zu erkennen, damit sie wusste, wie viel von ihrer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht noch vor ihr lag. In der Heartsdale Children’s Clinic hatte sie den Sekundenzeiger nicht aus den Augen gelassen, während sie die Finger aufs dünne Handgelenk eines Kindes drückte, die Herzschläge zählte, die unter der Haut pochten, und herauszufinden versuchte, ob ein »Mir tut alles weh« eine ernsthafte Krankheit bedeutete oder nur, dass das Kind an diesem Tag nicht in die Schule gehen wollte.
Seit fast zwanzig Jahren trug Sara nun diese Uhr. Das Glas war zweimal ausgetauscht worden, die Batterie noch öfter, und einmal sogar das Armband, weil Sara den Gedanken nicht ertragen konnte, das getrocknete Blut einer Frau, die in ihren Armen gestorben war, nicht vollständig entfernen zu können. Auch bei Granny Emmas Begräbnis hatte Sara sich dabei ertappt, wie sie das glatte Gehäuse um das Glas herum berührte, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und ihr bewusst wurde, dass sie nun nie mehr das schnelle, offene Lächeln und den funkelnden Blick ihrer Großmutter sehen würde, wenn sie von den neuesten Großtaten ihrer ältesten Enkelin erfuhr.
Als sie nun auf die Uhr schaute, war Sara zum ersten Mal in ihrem Leben froh, dass ihre Großmutter nicht bei ihr war, nicht den Zorn in Saras Augen sehen und die Demütigung spüren konnte, die in ihrer Brust brannte wie ein unkontrollierbares Feuer, während sie in einem Gerichtssaal saß und unter Eid in einem Kunstfehlerprozess aussagen musste, den die Eltern eines toten Patienten gegen sie angestrengt hatten. Alles, wofür Sara je gearbeitet hatte, jeder Schritt, der ihrer Großmutter noch unmöglich gewesen war, den sie aber getan hatte, jede Leistung, jedes Diplom wurde bedeutungslos gemacht von einer Frau, die Sara als Kindsmörderin bezeichnete.
Die gegnerische Anwältin beugte sich über den Tisch und starrte mit erhobenen Augenbrauen und gespitzten Lippen herüber, als Sara auf die Uhr schaute. »Dr. Linton, haben Sie eine dringendere Verpflichtung?«
»Nein.« Sara versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, die Wut zu unterdrücken, die die Anwältin in den letzten vier Stunden ganz offensichtlich in ihr zu schüren versucht hatte. Sara wusste, dass sie manipuliert werden sollte, dass die Frau versuchte, sie zu ködern, sie zu einer unbedachten Aussage zu verleiten, die dann von dem kleinen Protokollführer, der sich in der Ecke über seinen Laptop beugte, für alle Ewigkeit aufgezeichnet werden würde.
»Ich habe Sie jetzt die ganze Zeit Dr. Linton genannt.« Die Anwältin las in der Akte, die aufgeschlagen vor ihr lag.
»Sollte es nicht Dr. Tolliver heißen? Ich sehe, dass Sie vor sechs Monaten Ihren Ex-Gatten, Jeffrey Tolliver, ein zweites Mal geheiratet haben.«
»Linton ist schon richtig.« Unter dem Tisch schlenkerte Sara den Fuß so heftig, dass sie beinahe ihren Schuh verloren hätte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Unterkiefer schmerzte, weil sie die Zähne so fest zusammenbiss. Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein. Sie sollte jetzt zu Hause sein und ein Buch lesen oder mit ihrer Schwester telefonieren. Sie sollte Patientenakten studieren oder alte medizinische Fachzeitschriften sortieren, zu deren Lektüre sie nie ausreichend Zeit fand.
Sie sollte vertrauenswürdig sein.
»Nun gut«, fuhr die Anwältin fort. Die Frau hatte zu Beginn der Anhörung ihren Namen genannt, aber Sara hatte ihn vergessen. Das Einzige, worauf sie sich zu der Zeit hatte konzentrieren können, war der Ausdruck auf Beckey Powells Gesicht gewesen. Jimmys Mutter. Die Frau, deren Hand Sara so oft gehalten hatte, die Freundin, die sie getröstet hatte, die Person, mit der sie unzählige Stunden telefoniert und dabei versucht hatte, in allgemein verständliche Sprache zu übersetzen, was die Onkologen in Atlanta der Mutter in Fachchinesisch an den Kopf warfen, um ihr zu erklären, warum ihr zwölfjähriger Sohn würde sterben müssen.
Von dem Augenblick an, als sie den Saal betreten hatten, hatte Beckey Sara angestarrt, als sei sie eine Mörderin. Der Vater des Jungen, ein Mann, mit dem Sara zur Schule gegangen war, hatte es nicht geschafft, ihr in die Augen zu schauen.
»Dr. Tolliver?«, fragte die Anwältin noch einmal.
»Linton«, korrigierte Sara, und die Frau lächelte, wie immer, wenn sie gegen Sara einen Punkt gemacht hatte. Das passierte so oft, dass Sara schon versucht war, die Anwältin zu fragen, ob sie an einer ungewöhnlich lächerlichen Form des Tourette-Syndroms leide.
»Am Morgen des Siebzehnten – das war der Tag nach Ostern – erhielten Sie die Laborergebnisse der Blastzellenanalyse, die Sie für James Powell in Auftrag gegeben hatten. Ist das korrekt?«
James. Sie ließ ihn so erwachsen klingen. Für Sara würde er immer der Sechsjährige bleiben, den sie vor so vielen Jahren kennengelernt hatte, der kleine Junge, der gerne mit seinen Plastikdinosauriern spielte und hin und wieder mal eine Malkreide verschluckte. Er war so stolz gewesen, als er ihr erzählte, er heiße Jimmy, so wie sein Dad.
»Dr. Tolliver?«
Buddy Conford, einer von Saras Anwälten, ergriff endlich das Wort. »Lassen wir doch den Blödsinn, Honey.«
»Honey?«, wiederholte die Anwältin. Sie hatte eine dieser heiseren, tiefen Stimmen, die die meisten Männer unwiderstehlich finden. Sara merkte, dass Buddy zu dieser Sorte gehörte, sie merkte aber auch, wie die Tatsache, dass der Mann seine Gegnerin begehrenswert fand, seine Streitlust verstärkte.
Buddy lächelte, weil nun er einen Punkt gemacht hatte.
»Bitte weisen Sie Ihre Mandantin an, die Frage zu beantworten, Mr. Conford.«
»Ja«, antwortete Sara, bevor die beiden noch weitere Sticheleien austauschen konnten. Sie hatte festgestellt, dass Anwälte bei dreihundertfünfzig Dollar pro Stunde ziemlich wortreich sein konnten. Wenn die Uhr tickte, würden sie sogar die Definition des Wortes »Definition« hinterfragen. Und Sara hatte zwei Anwälte: Melinda Stiles war die rechtliche Vertreterin der Global Medical Indemnity, einer Versicherungsgesellschaft, an die Sara im Verlauf ihrer medizinischen Karriere fast dreieinhalb Millionen Dollar gezahlt hatte. Buddy Conford war Saras persönlicher Anwalt, den sie engagiert hatte, damit er sie vor der Versicherungsgesellschaft beschützte. Das Kleingedruckte in den Kunstfehlerpolicen der Versicherung schränkte die Haftbarkeit der Gesellschaft ein, wenn die Schädigung eines Patienten die direkte Folge einer bewussten Leichtfertigkeit des Arztes war. Buddy war hier, um dafür zu sorgen, dass es dazu nicht kam.
»Dr. Linton? Der Morgen des Siebzehnten?«
»Ja«, antwortete Sara. »Nach meinen Unterlagen erhielt ich an diesem Morgen die Laborergebnisse.«
Sharon, fiel Sara jetzt wieder ein. Die Anwältin hieß Sharon Connor. So ein harmloser Name für eine so grässliche Person.
»Und was haben die Laborergebnisse Ihnen gezeigt?«
»Dass Jimmy mit großer Wahrscheinlichkeit an akuter lymphatischer Leukämie litt.«
»Und die Prognose?«
»Das fällt nicht in mein Gebiet. Ich bin keine Onkologin.«
»Nein. Sie überwiesen die Powells an einen Onkologen, einen Freund von Ihnen aus dem College, einen Dr. William Harris in Atlanta?«
»Ja.« Der arme Bill. Auch sein Name tauchte in dem Verfahren auf, auch er hatte einen Anwalt engagieren müssen und stritt sich jetzt mit seiner Versicherungsgesellschaft.
»Aber Sie sind Ärztin?«
Sara atmete einmal tief durch. Buddy hatte ihr eingeschärft, nur auf Fragen zu reagieren, nicht auf spitze Kommentare. Sie bezahlte ihm bei Gott genug für seinen Rat. Da konnte sie ja jetzt anfangen, ihn zu befolgen.
»Und als Ärztin wissen Sie doch...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2024 |
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Reihe/Serie | Grant-County-Serie |
Übersetzer | Klaus Berr |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Beyond Reach |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller • bücher krimi thriller • Georgia • Georgia / Atlanta • Georgia Serie • Gerichtsmedizin • Grant County • Sara Linton • Spannung • Spiegel-Bestellerautorin • Thriller • Will Trent • will trent buch • will trent Georgia Series • will trent serie • will trent serie karin slaughter |
ISBN-10 | 3-7499-0786-2 / 3749907862 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0786-1 / 9783749907861 |
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