Gesammelte Gedichte (eBook)
560 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78038-1 (ISBN)
Friederike Mayröcker war eine der großen Dichterinnen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Immer wieder wurde sie für den Literaturnobelpreis ins Gespräch gebracht. Am 4. Juni 2021 verstarb sie mit 96 Jahren in ihrer Heimatstadt Wien. Der vorliegende Band knüpft an die Gesammelten Gedichte 1939-2003 (2004) an und trägt Friederike Mayröckers lyrisches Spätwerk bis zu ihrem allerletzten, 2021 entstandenen Proëm zusammen.
Als Friederike Mayröcker 2004 den 80. Geburtstag feierte und ihre Gesammelten Gedichte 1939-2003 erschienen waren, entschloss sie sich, noch einmal in eine ganz neue Richtung aufzubrechen. Nach und nach entwickelte sich so eine eigene Form, der sie den Namen »Proëm« gab - lyrische Erleuchtung und hellwache Weltbeobachtung, changierend zwischen Kurzprosa und Gedicht. Zu ihrem erklärten Ziel wurde es, schreibend den Tod, ihren erbitterten Feind, auf Distanz zu halten. Friederike Mayröcker tat es mit ungeahnter Produktivität und überbordendem Farbenreichtum, indem sie ihre Liebe zum Leben heraufbeschwor: In Erinnerungen an ihre wechselvolle Kindheit im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre, an ihre Jahrzehnte an der Seite von Ernst Jandl, an zahllose Begegnungen mit Menschen, Kunstwerken und Musik. Dem Wechsel der Jahreszeiten folgte sie aufmerksamer denn je, und mit ihrer Sprachmacht verstand sie es, eine Blume auf dem Fensterbrett gegenüber zum Zentrum des Universums werden zu lassen.
<p>Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren und starb am 4. Juni 2021 ebendort. Sie besuchte zunächst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schließlich die kaufmännische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließen. Nach der Matura legte sie die Staatsprüfung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten.<br /> <br /> Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift "Plan" erfolgte 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte.</p>
Nachwort
I
Im Dezember 1994 findet in der Alten Schmiede in Wien anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Friederike Mayröcker ein Symposium zu ihrem Werk statt. Der italienische Germanist und Übersetzer Luigi Reitani spricht in seinem Vortrag unter anderem über das Gedicht mit dem Titel »Proëm von der verspäteten Schwalbe«. Während der anschließenden Diskussion rückt die Frage in den Mittelpunkt, was genau unter einem ›Proëm‹ zu verstehen sei. Der Begriff ist niemandem in der Runde geläufig, die Spekulationen laufen in verschiedene Richtungen dahin, überschneiden sich, drohen in allgemeinen Überlegungen zu Gattungsbezeichnungen im Werk Friederike Mayröckers zu zerfasern. Irgendwann steht Ernst Jandl, der den Ausführungen des Fachpublikums bis dahin still, doch mit erkennbar wachsender Unruhe gefolgt ist, von seinem Platz auf und erklärt: Beim Begriff ›Proëm‹ (im Französischen: ›proême‹) handele es sich um eine Prägung des von Friederike Mayröcker hoch geschätzten französischen Dichters Francis Ponge, die sie aufgegriffen habe.
Mit dem Werk von Francis Ponge in deutscher Übersetzung ist Friederike Mayröcker spätestens Mitte der sechziger Jahre in Berührung gekommen, etwa mit Proëmes (1959) und Die Seife (1969), woraufhin sie sich in den achtziger Jahren dem Autor erneut begeistert zuwendet, als mit Das Notizbuch vom Kiefernwald (1982), Die Kunst der Feige (1984) oder Gnoske des Vorfrühlings (1990) in rascher Folge weitere Übersetzungen seiner Proëme auf Deutsch erscheinen.
Friederike Mayröcker selbst hat ›Proëm‹ als Zusammenziehung von ›Poem‹ und ›Prosa‹ bezeichnet, wie schon Ponge, der dieses Kofferwort 1948 prägte. Ein Proëm kann eher der Prosa oder dem Gedicht zuneigen, es kann, wie Ponge es praktiziert hat, aber auch in Form tagesgenau datierter Ansätze zu einem Gedicht, die von poetologischen Reflexionen durchsetzt sind, zu einem Werk von Buchlänge heranwachsen, mitunter über mehrere Jahre hinweg.
Als Friederike Mayröcker das Wort ›Proëm‹ Anfang der neunziger Jahre für sich entdeckt, scheint davon eher ein unbestimmter, wenn auch besonderer Zauber auszugehen, als dass die Autorin darin eine Gattungsangabe in Abgrenzung zu ›Gedicht‹ oder ›Prosa‹ sieht. Das Wort ›Proëm‹ entfaltet eine anregende Wirkung, bildet einen Auftakt zum Schreiben ebenso, wie es das Weiterschreiben verheißt.
Das erste in der Reihe, »Proëm von den Tapisserien, oder TINTE MEINES WESENS (Kleist)«, betrachtet sie wie das folgende »Proëm von der Reise in das chinesische Land« oder »amikables Proëm vom Steinbruch der Worte / für Helmut Heißenbüttel« selbstverständlich als Prosa. Sie werden – als Fließtext im Blocksatz – in die 1995 gesammelten Magischen Blätter IV aufgenommen. Nicht weniger selbstverständlich erscheint »Proëm von der verspäteten Schwalbe« – in Verse umbrochen und im Flattersatz – 1992 im Gedichtband Das besessene Alter, so wie »Proëm auf den Kopf des Klassikers, für Hans Mayer« und das berühmte »Proëm auf den Änderungsschneider Aslan Gültekin« 1996 Eingang in den Gedichtband Notizen auf einem Kamel finden.
Diese erste »Proëm«-Arbeitsphase hält von Januar 1991 bis Februar 1992 an. Doch der Zauber ist nicht verflogen. Das im November 1994 entstandene Gedicht »wo die Rosen in verwehten Büschen, oder amicitá,« verwendet das Wort Proëm zum ersten Mal konkret im Zusammenhang mit einer poetologischen Überlegung, nämlich der Frage nach einer eigenen Gattung, wenn es zum Einstieg heißt:
Proëm ja Proëm ja vielleicht jetzt zum Proëm geworden was in langen
Wochen aufbewahrt gewesen in Pappschachtel mit Namensschild, usw.
plötzlich die Zeilen verlängert zu Schnüren Perlen Tränen –
II
Im Nachwort zu Friederike Mayröckers Gesammelten Gedichten 1939-2003 habe ich 2004 ein wenig salopp behauptet, in ihrem Werk gebe es so gut wie nie auch nur den leisesten Zweifel, ob ein Text als Gedicht oder als Prosa aufzufassen sei. Stets wisse sie um die Gattung, schon allein darum, weil der Schreibimpuls mit einer gewissen Gestimmtheit einhergehe, einer Prosa- oder eben einer Gedicht-Stimmung, die den Schreibprozess in eine klare Richtung lenkt. Als würde ein auf dem Papier entstehender Text, sofern es sich um Prosa handelt, in der Imagination bereits im Blocksatz sichtbar, obwohl er bei der Arbeit an der Schreibmaschine stets im Flattersatz erscheint, ganz gleich, ob eben ein fortlaufender Prosatext entsteht oder ein Gedicht, das im Flattersatz gesetzt werden muss, selbst wenn die mögliche Zeilenlänge auf dem in die Maschine eingespannten Blatt Papier bis zum Anschlag ausgereizt wird.
Zwanzig Jahre später wirkt es nun im Rückblick fast so, als habe Friederike Mayröcker daraufhin begonnen, die Frage nach Gedicht oder Prosa noch einmal ganz neu zu stellen. Als habe die bis dahin mehr als sechzig Schreibjahre herrschende Eindeutigkeit der Gattungszuordnung sie dazu herausgefordert, die Membran zwischen den beiden Textformen durchlässig werden zu lassen. Denn nach der Veröffentlichung ihrer Gesammelten Gedichte 1939-2003, dieser – vermeintlichen – Bilanz eines Lebenswerks im achtzigsten Lebensjahr, lässt sich beobachten, wie sich nach und nach eine neue Textform entwickelt: Nicht ›Prosagedicht‹ und nicht ›lyrische Prosa‹, sondern sowohl Prosa als auch Gedicht. Mit der Zeit findet Friederike Mayröcker zu einer neuen, einer zusätzlichen Schreibhaltung. Die in dieser Schreibhaltung entstehenden Texte können jeweils eher der Prosa oder eher dem Gedicht zuneigen, und so gewinnt das Anfang der neunziger Jahre bei Francis Ponge als Schreibanschub entdeckte, in mehrere Titel aufgenommene Wort ›Proëm‹ als Gattungsangabe Gestalt.
Es ist faszinierend, den Weg dorthin zu verfolgen. Die Entwicklung vollzieht sich von Buch zu Buch im Werk selbst, wir dürfen der Autorin gewissermaßen dabei zuschauen, wie sie verschiedene Vorgehensweisen erkundet, wie sie mal demonstrativ, mal aber auch so diskret, dass es auf Anhieb kaum erkennbar ist, untersucht, ob ein von ihr geschriebener Text nun Prosa sei oder Gedicht. Im Verlauf der Arbeit an études (2013) dann lässt sich über das Entstehungsjahr 2011 hinweg nachzeichnen, wie die ›Proëm‹-Schreibhaltung eine solche Dynamik entwickelt, dass sie die bisherigen Schreibhaltungen in den Hintergrund drängt und über die Folgebände der Trilogie – cahier (2014) und fleurs (2016) – hinaus auch bei der Arbeit an Pathos und Schwalbe (2018) und da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete, dem Abschluss des Gesamtwerks im Jahr 2020, beibehalten wird.
In ihren auf die Gesammelten Gedichte 1939-2003 folgenden Gedichtband, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif (2009) nimmt Friederike Mayröcker insgesamt elf Texte auf, die – teils in leicht variierendem Wortlaut und mit anderem Titel – bereits im 2007 veröffentlichten Band Magische Blätter VI zu finden sind (siehe Nachweise). Welch einen enormen optischen Unterschied es macht, ob ein Text als Fließtext im Blocksatz gesetzt ist oder ob er, im Flattersatz, Versgestalt annimmt, ist wirklich frappierend – ich zumindest habe erst nach vielen Jahren begriffen, daß diese elf Varianten, diese ›Doppelgestalten‹ in zwei Büchern von Friederike Mayröcker existieren. Die Textgestalt hatte mich ›textblind‹ gemacht.
Der Autorin müssen die Texte bei der Konzeption zunächst einer Sammlung kurzer Prosa, poetologischer Reflexionen, Dankreden und Hörspiele, wie sie die sechs Bände der Magischen Blätter darstellen, und zwei Jahre darauf beim Zusammenstellen eines neuen Gedichtbandes ebenso...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2024 |
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Nachwort | Marcel Beyer |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
Schlagworte | aktuelles Buch • Alterswerk • Bücher Neuererscheinung • Dichtung • Erinnerung • Ernst Jandl • Friedrich-Hölderlin-Preis 2021 • Kindheit • Kurzprosa • Neuererscheinung • neues Buch • Peter-Huchel-Preis 2021 • Proëm • Spätwerk • Thomas-Kling-Poetikdozentur 2019 • Wien |
ISBN-10 | 3-518-78038-7 / 3518780387 |
ISBN-13 | 978-3-518-78038-1 / 9783518780381 |
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