Die Welt zwischen den Nachrichten (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
220 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1058-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Welt zwischen den Nachrichten -  Judith Kuckart
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Alles ist gewesen, nichts war genau so. »Am 17. Juni, Tag der Deutschen Einheit, wurde ich geboren. Ich blieb das einzige Kind. Am 2. Juni 1967 saß ich im Trikot des Kinderballetts vor der Tagesschau. Benno Ohnesorg war erschossen worden. Ich schlug meinem Vater während der Meldung auf's Knie: Papi, wenn ich groß bin, erschieß ich dich auch. 1977 schenkte mir meine Großmutter, Fließbandarbeiterin in einer Fabrik für Babybadewannen aus Plastik, zum Abitur 1.000 DM. 1989 stand ich in der Oper Duisburg zum letzten Mal als Tänzerin auf der Bühne. Eine wichtige und schüchterne Verlegerin saß im Publikum und meinte: Sie könnten auch mal einen Roman schreiben, Judith. Am 17. Juni 2024 steht der Titel für meinen neuen Roman fest. Und ich weiß, ab jetzt habe ich noch zwanzig grandiose Sommer vor mir - oder?« Mit einer sprachlichen Dichte, die berührt, erzählt Judith Kuckart entlang ihrer Biografie und beleuchtet damit eine ganze, ihre Generation.

JUDITH KUCKART, 1959 in Schwelm (Westfalen) geboren, lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman >Lenas Liebe< (2002), der 2012 verfilmt wurde. Ihr Roman >Kaiserstraße< stand 2006 auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse, ihr Roman >Wünsche< 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschien >Café der Unsichtbaren< (2022). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.

Apothekertochter


Terroristin, sagen die Leute in S.

Keine Hübsche, meint Leo.

Ich finde Ina schön –

Ina ist die Tochter des Apothekers und dreizehn Jahre älter als ich. Sie will Schauspielerin werden. An Sonntagnachmittagen werde ich ihr anvertraut. Leo hat als Mann den Schulterwurf beim Rock ’n’ Roll und Liz und Leo haben als Paar das Kinderkriegen aufgegeben. Gegen ihre Menstruationsbeschwerden nimmt Liz nun die Pille, aber redet nicht darüber – auch mit Leo nicht. Sie reden ohnehin nicht mehr viel miteinander, aber gehen sonntags zusammen im Kolpinghaus tanzen. An den Nachmittagen nimmt Ina mich mit in die Roten Berge, Halden eines stillgelegten Eisenbergwerks am Rand von S., wo sie sich mit Jungen trifft, die dort in Baracken zwischen Müllhalde und Fußballplatz leben. Nissenhütten, sagen die Leute in S. Einer der Jungen trägt einen dunklen breitkrempigen Hut und schmutzige Stiefel.

Alle sind sie so fremd, so schön. Sie sind so anders.

Zigeuner, sagen die Leute in S.

Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht?

Ina und die Jungen, sie raufen und sie küssen sich. Wenn Ina und ich später durch Müll, hohes Gras und Brennnesseln wieder nach Hause gehen, hat die Apothekertochter Heiserkeit und Übermut in der Stimme. Da haben wir uns ja ein widerliches Biest großgezogen, schreit Inas Vater, der Apotheker, an ihrem sechzehnten Geburtstag. Sie schreibt es auf. Jede seiner Beschimpfungen hält sie in ihrem Tagebuch fest. Die Schrift rast außer Rand und Band und schräg über das Papier. Kaum dass der Kuli ihr folgen kann: Das, schreibt sie, sagte er zu Mutti, genau das, was er schon immer auf der Zunge hatte, na ja, nun hat er es wenigstens gesagt. Ich bin keine Tochter, sondern eine alte Hexe! Ich geh dann mal zur Theaterprobe. Nächsten Samstag haben wir Premiere. Ich spiel die Braut, das ist die Hauptrolle.

Der Eintrag vom 12.6.1960 ist der letzte im Tagebuch, auf dessen abwaschbarem Einband fein gestrichelte Frauen tanzen wie Feuerwerksfunkenmariechen.

Sind das Blumen oder Frauen?

Nach dem Abitur heiratet die Apothekertochter den Sohn vom Uhrmacher und bekommt einen Sohn vom Briefträger.

Der Briefträger hat Zauber, der Uhrmachersohn die Sprache.

Sie geht mit dem Sohn des Uhrmachers und dem Kind vom Briefträger nach Berlin und politisiert sich im April 68, als ein Attentäter auf Rudi Dutschke schießt. Am 11. April taufe ich meinen Wellensittich Muck auf einen neuen Namen. Ab heute sollst du Rudi heißen, sage ich und schütte feierlich ein Milchkännchen voll Wasser durch die Gitterstäbe. Lass doch das Tier in Ruhe, kreischt meine Mutter. Rudi schüttelt die Federn aus. Da ist Ina bereits mit dem nächsten Mann zusammen. Er hat rote Haare, Ähnlichkeit mit einem Clown und zieht mit ihr in die Kommune I. Den Sohn vom Briefträger, der wie eine Tochter aussieht, holen die Großeltern nach S. zurück und schneiden ihm bereits im Zug die langen Haare ab. Er soll ja keine Hexe, kein Biest wie seine Mutter werden. Fritz ist sieben Jahre jünger als ich. Mit Nachnamen heißt er wie seine Großeltern. Niemand weiß, dass er der Sohn von Ina Siepmann ist. Auch ich weiß es lange nicht, habe auch ich Ina vergessen? Wo sind meine Erinnerungen, wenn ich sie nicht habe? Als Fritz auf das einzige Gymnasium der Stadt kommt, auf dem Ina einmal war und ich noch bin, tragen fast alle Parka und das Haar lang. In den großen Pausen rauchen die Biester und Hexen in einer Ecke neben dem Klo, während Fritz Jahr für Jahr Klassenbester ist.

Ina und ihr rothaariger Freund sind aus der Kommune I rausgeflogen und haben sich dem Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen angeschlossen. Später werden sie in einem Ausbildungscamp der palästinensischen Al Fatah gesehen, wo sie alles lernen, was man für das Leben im Untergrund braucht.

Wirklich alles?

Und was müssen sie verlernen?

Ob Ina ihre Herkunft als peinlich empfindet und sich deswegen im Untergrund versteckt?

Ob sie beim Basteln von Molotowcocktails geschickt war, geschickter als Ulrike Meinhof?

Ob sie nicht doch und immer noch lieber Schauspielerin geworden wäre?

Ob alles anfangs ein Spiel für sie war, mit den Männern dort, alle so fremd, so schön, so anders?

Ob sie sich mit ihrer hellen Haut oft einen Sonnenbrand geholt und sich noch öfter verliebt hat?

Ob sie so, unter Fremden, mutiger und nie einsam war?

Ob sie manchmal geweint hat? Aus Trauer? Aus Angst?

Ob die Apothekertochter wusste, dass die Tränen der Angst eine andere Rezeptur haben als die der Trauer?

Ina kommt nach Deutschland zurück. Es folgen ihre Banküberfälle im weißen Hosenanzug zwecks Geldbeschaffung. 1974 wird sie festgenommen und zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, um 1975 gegen einen entführten CDU-Politiker von der Bundesregierung mit vier anderen aus der Bewegung 2. Juni ausgetauscht zu werden. In Begleitung eines Pastors wird sie in den Südjemen ausgeflogen. Ina aus S. und der Mann der Kirche verstehen sich gut. Bei der Abreise trägt sie eine lila Samthose und eine bestickte Afghanenjacke. In der Flugzeugtür, sehe ich im Fernsehen, dreht sie sich noch einmal um. Sie winkt. Ich winke zurück. Was machst du denn da, fragt meine Mutter, das ist doch nur die Tagesschau.

Im Sommer nach meinem Abitur arbeite ich nicht bei der Post, sondern in einer Lokalredaktion der Nachbarstadt. Von Sonntag bis Freitag fahre ich morgens um sieben mit dem Bus über einen Berg, dann durch einen kleinen Wald. Dahinter kommt ein Tal, das weder tief noch breit ist. Wo Ina ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist sie nicht im Fernsehen.

Im Bus lese ich regelmäßig die Zeitung von gestern. In der ersten Praktikumswoche reißt mir das Riemchen an meiner Sandale. Ich rutsche eine halbe Stunde mit nur einem Schuh auf dem Hocker bei Mister Minit herum. Das soll ein Schnellschuster sein? Er ist jung und sehr langsam. Neben mir auf dem Hocker sitzt der Bürgermeister des Orts in weißen Socken und starrt auf meinen nackten Fuß. Aus Ohren und Nase wachsen ihm Haare. Am gleichen Abend fange ich eine Freundschaft mit dem langsamen Schnellschuster an. Freundschaft plus, würde man heute sagen. Er heißt Hans, hat einen Ohrring und eine anhängliche Katze im Radkörbchen.

Jener Sommer ist lang wie ein letzter Kindersommer. An einem der wenigen Regentage interviewe ich für die Kulturseite Pierre

Brice. Er gibt den Winnetou auf einer Freilichtbühne im Sauerland. Ich frage ihn nicht, wie es als Soldat im Algerien- und Indochinakrieg war, frage ihn nicht, ob er nicht lieber in Paris Theater spielen würde, als auf Sägespänen im Sauerland den Häuptling der Herzen zu mimen. Ich frage ihn in meinem Schulfranzösisch, und seine Antworten kann ich schon am Abend nicht mehr richtig wiedergeben. Was ich nicht verstanden habe, erfinde ich. Die Fotos zum Interview sind bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen. Auf den Abzügen hatten der Häuptling der Apachen und ich ähnlich lange schwarze Haare. Seine waren eine Perücke.

Auch Ina hat Perücken getragen. So getarnt hat sie bei ihren Banküberfällen mehrere Millionen D-Mark erbeutet, die sich die PFLP, die RAF und der 2. Juni geteilt haben sollen.

Sagt man.

So ist sie eine der meistgesuchten Terroristinnen der Bundesrepublik Deutschland geworden und auf den Fahndungsplakaten aufgetaucht, die überall hingen. Auch in der Sparkasse von S. Der Briefträger, der einen Sommer lang in S. die große Liebe seiner Aushilfsbriefträgerin Ina war, ist mittlerweile in den Innendienst versetzt. An einer Säule gegenüber seinem Postschalter 3 hängt ebenfalls ein Plakat. Ina, dritte Reihe von oben, dritte von links. Besonderes Merkmal: ein Leberfleck auf der Oberlippe. Was sonst an ihr besonders ist, sieht man auf dem Foto nicht, sieht nicht, dass sie einmal Gedichte auswendig lernte, die ihr größer zu sein schienen als sie selbst. Vor dem Spiegel sagte sie ihre Verse auf und stellte sich dabei auf die Zehenspitzen.

Ob Inas Briefträger noch heute im Telefonbuch von S. steht?

Vom 20. bis 23. März 1959, lese ich in ihrem Tagebuch, hat sie mit der Klasse eine Fahrt ins Sauerland gemacht. Nachts, in der Jugendherberge, fotografiert ein Junge alle Mädchen im Pyjama, danach schläft Ina nur vier Stunden. Tagsüber aber wandert sie sieben. Ziel ist die Burg Altena. Auf der Wanderung fangen alle mit allen was an. Aber ich, so tippe ich aus ihrem Tagebuch ab, habe natürlich keinen abgekriegt. Wenn ich wenigstens hübsch wäre, aber das bin ich 1. nicht, 2. habe ich keinen Charme, und 3. habe ich keine Formen …

Ob wenige Sommer später der verliebte Briefträger das anders sah? Ob noch später er ihr wohl von Schalter 3 aus zugenickt hat, wenn er seinen Dienst begann oder beendete?

Ob sie von der Säule gegenüber, so ganz aus der Ferne, zurücknickte?

Ob sie noch immer ihren Humor hatte?

Woher ich ihr Tagebuch habe?

– geschenkt, sagt das Tagebuch.

Im September 1982 soll sie als Mitglied einer palästinensischen Frauenbrigade im Libanon beim Massaker von Sabri und Schatila ums Leben gekommen sein.

Im Libanon ums Leben gekommen – warum bin ich mir eines Tages Ende der Achtziger, auf einem engen Balkon neben einem Mann namens Methusalem sitzend, plötzlich so sicher, dass ich eine Geschichte schreiben werde, die genau mit diesen fünf Wörtern beginnt: Im Libanon ums Leben gekommen.

Ich könnte Methusalem fragen. Er könnte ihr sogar begegnet sein, denn er ist so alt wie sie, kannte sich einmal mit Che, Schah Shit und überhaupt allem Revolutionären aus und weiß bis heute, was richtig links und was richtig falsch ist.

Aber ich lasse...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Älterwerden • Aufwachsen • Autofiktion • Beziehungen • Deutsche Geschichte • Erinnerung • Familie • Frauenleben • Freundschaft • Kulturbetrieb • Lebensgeschichte • Literaturbetrieb • Roman zur Theaterinszenierung • Tanzen • Theater Bremen • Theater Bremerhaven
ISBN-10 3-7558-1058-1 / 3755810581
ISBN-13 978-3-7558-1058-2 / 9783755810582
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