Haus des Vergessens -  Donato Carrisi

Haus des Vergessens (eBook)

Psychothriller
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
384 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-228-6 (ISBN)
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Ein zwölfjähriger Junge wird allein und verstört in einem Wald im Valle dell'Inferno aufgefunden. Offenbar handelt es sich um den seit Monaten als vermisst gemeldeten Nico. Doch der Junge bleibt stumm und gibt keine Auskunft über die Gründe seines Verschwindens. Der renommierte Kinderpsychologe Pietro Gerber soll Nico mittels Hypnose zum Sprechen bewegen und fördert schließlich ein beunruhigendes Geständnis zutage: Nico behauptet, er habe seiner Mutter etwas Schreckliches angetan. Aber für Gerber klingen diese Worte einprogrammiert. Er ist von der Unschuld des Jungen überzeugt und bereit, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, um sie zu beweisen - doch ihm bleibt nicht viel Zeit ...

Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.

Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.

1


23. Februar 2021

Wie jeden Tag erwachte die Pferdezüchterin auch an diesem Mittwoch jäh in ihrem Bett und schlug sofort die Augen auf. Und auch an diesem Mittwoch drehte sie sich als Erstes zu dem altmodischen Wecker auf ihrem Nachttisch um, der ihr bestätigte, dass es auf die Sekunde genau 3:47 Uhr war.

Vielleicht hätte sie ergründen sollen, warum sie seit einigen Wochen immer genau zur selben Uhrzeit aufwachte, ohne die geringste Abweichung. Ein Teil von ihr war überzeugt, dass es einen Grund geben musste, wenn diese Zahlenfolge ausgerechnet jetzt, in ihren späten Lebensjahren, so regelmäßig wiederkehrte, als handelte es sich um ein kabbalistisches Zahlenrätsel. Ein anderer Teil jedoch zog es vor, die Sache nicht zu vertiefen, war sie doch überzeugt, dass man, vor allem ab einem gewissen Alter, die ein oder andere Frage am besten unbeantwortet ließ. Und sei es nur aus Aberglauben oder schlicht und einfach aus Vorsicht. Denn sonst geriet man in null Komma nichts ins Grübeln, und zwar über wesentlich bedeutendere Dinge. Wie zum Beispiel den Sinn des Lebens oder die Frage, was nach dem eigenen Tod passierte. Mit zweiundachtzig Jahren war es besser, solchen Fragen auszuweichen. Nicht zuletzt weil die Alten, auch wenn sie es nicht zugeben wollten, bereits alle Antworten kannten.

Also würde das Rätsel, was es mit der Uhrzeit 3:47 Uhr auf sich hatte, sie für den Rest ihrer Tage begleiten, und sie war sich sicher, dass der Tag, an dem ihre innere Uhr sich auch nur um eine Minute vertat, auch jener sein würde, an dem sie nicht mehr aufwachte.

Aufgrund ihrer nächtlichen Unruhe schlief sie nie mehr als vier oder fünf Stunden pro Nacht. Sie wünschte, das wäre in ihren Zwanzigern so gewesen. Stattdessen hatte sie heute sehr viel mehr Minuten zur Verfügung als früher und so gut wie nichts, um sie zu füllen. Und jeder ältere Mensch wusste, dass, auch wenn einem die Sekunden durch die Finger rannen, sich die Minuten träge in die Länge zogen. Daher war das Alter ein Ringen zwischen der Zeit, die sich unerbittlich dem Ende näherte, und jener, die überhaupt nicht verging. Tatsächlich würde sie noch vor der Mittagszeit die Pferde versorgt haben. In der restlichen Zeit würde sie trainieren, die Langeweile, die sie auch in der Ewigkeit erwartete, totzuschlagen.

Aber das war nun einmal nicht zu ändern.

Wie jeden Morgen schlüpfte sie mit ihren müden Füßen in die Stiefel, zog ihre grüne Winterjacke über, setzte den grünen Borsalino-Filzhut auf und steckte eine Toscano classico-Zigarre in eine Jackentasche. Bevor sie das Haus verließ, grüßte sie ihren verstorbenen Ehemann, indem sie einen Kuss auf das schwarz-weiße Hochzeitsfoto hauchte, das in einer Ecke des Vitrinenschranks steckte, und entzündete ein Feuer im gusseisernen Ofen, um es, wenn sie wieder zurückkam, schön behaglich zu haben.

Dann startete sie den Dieselmotor des Lada Niva, um ihn vorglühen zu lassen, holte ihre beiden Setter aus dem Hundezwinger zwischen Stall und Reitplatz, ließ sie in den Wagen springen und fuhr mit ihnen in Richtung Passo della Sambuca und Naturreservat.

Sie hatte es nicht eilig, schaltete zwischen dem zweiten und dritten Gang hin und her, ohne dem blauen Lada zuzusetzen, war er es doch gewohnt, freundlich behandelt zu werden. Sie brauchte keinen neuen Wagen, schließlich war sie selbst auch nicht mehr »neu« und wäre sich damit nur albern vorgekommen. Genauso wie sie nie das Bedürfnis nach einem neuen Mann verspürt hatte, auch nicht nachdem ihrer beschlossen hatte, ins Dunkel des Jenseits voranzugehen. Manche Dinge konnte man nur schwer erklären; dazu zählte auch dieser Vergleich zwischen einem Geländewagen Baujahr ’77 und dem einzigen Mann, den es je in ihrem Leben gegeben hatte. Nun ja, dachte sie dann, in beiden Fällen ging es um Zuneigung und Treue. Jedes Mal, wenn sie sich hinters Steuer setzte, erinnerte sie sich mit Stolz daran, wie der Sachbearbeiter in der Kfz-Zulassungsstelle bei der Verlängerung ihres Führerscheins ihre Fahrtüchtigkeit gelobt hatte. Sehkraft und Reflexe noch immer tadellos. Darin bestand auch ein wenig das Geheimnis einer guten Ehe: dem anderen immer Aufmerksamkeit schenken und stets mit Unvorhersehbarem rechnen. Man musste sich, wie ihre Mutter zu sagen pflegte, stets auf das Schlimmste gefasst machen.

Sie erreichte eine Lichtung inmitten eines Buchenwalds; von dort aus führten mehrere Wanderwege zu dem Bach Rovigo und zu der Schlucht, die Valle dell’Inferno genannt wurde, Höllenschlucht. Nachdem sie den Wagen geparkt hatte, ließ sie die Hunde rausspringen, kramte die Zigarre aus der Jackentasche, teilte sie in zwei Hälften und steckte sich die eine zwischen die Lippen. Es wäre sträflich gewesen, sie hier im Wald anzuzünden, aber sie mochte es, darauf herumzukauen.

Sie wusste nicht, warum sie in letzter Zeit tagtäglich hierherfuhr. Sie hätte auch andere Orte auswählen können, zumal es durchaus schönere gab. Aber genau wie das immergleiche Erwachen um 3:47 Uhr seit geraumer Zeit war auch dies zu einer Art Gewohnheit geworden.

Vielleicht zog es sie hierher, weil sie in diesem Wald früher mit ihrem Mann auf die Jagd gegangen war. Die Jagd und die Liebe zu Pferden hatten sie zusammengeschweißt. Die Pferdezüchterin hatte diese Leidenschaft von ihrem Vater geerbt, der, da er nur Töchter hatte, sie wie einen Jungen aufgezogen hatte. Niemand hatte sich vorstellen können, dass sie eines Tages heiraten würde. Doch sie hatte alle überrascht. Nach dem Tod ihres Mannes wollte sie die Jagd wieder aufnehmen, doch seit ihre Enkel sie vor ein paar Jahren für das Mitbringen von zwei prächtigen Alpenschneehühnern zum Weihnachtsessen scharf kritisiert hatten, blieben ihre beiden Jagdflinten deaktiviert und weggeschlossen. Um ihre Enkel zu beschwichtigen, hätte sie ihnen gern vom Beginn ihrer Jagdleidenschaft erzählt: wie sie als Zwölfjährige an einer Wildschwein-Hatz teilgenommen hatte, die für sie zu einer Art Erweckungserlebnis wurde. Denn ironischerweise hatte sie ausgerechnet durch die Jagd den Respekt vor der Natur und den Tieren gelernt. Und gern hätte sie dann hinzugefügt, dass Städter wie sie nur Hunde und Katzen mochten, aber andererseits Fleisch aus dem Supermarkt aßen. Doch sie hatte den Mund gehalten und war abends gedemütigt und trübselig nach Hause zurückgekehrt, im Bewusstsein, dass diese Familientradition eines Tages mit ihr aussterben würde.

Die Setter ließen sich indes nicht einfach wie Jagdgewehre wegschließen! Irgendwie musste man den armen Tieren gestatten, ihren Instinkt auszuleben. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sie durchdrehten, so wie es oft bei Jagdhunden geschah, wenn sie keine Beute mehr zu suchen und zu apportieren hatten. Deswegen fuhr sie Tag für Tag in diese Gegend und ließ die Setter nach Lust und Laune herumlaufen. Sollten wenigstens sie die Illusion bekommen, einen Daseinssinn zu haben. Auch an diesem Morgen schob sie die kalte Zigarrenhälfte in den Mundwinkel und stieß einen kurzen, energischen Pfiff aus.

Auf Kommando schossen die beiden Setter davon und verschwanden im Gehölz.

Nach ein paar Sekunden erstarben die Knackgeräusche von Zweigen und das Rascheln der Buchenblätter. In Kürze würde die Sonne aufgehen, doch die Luft erwärmte sich bereits, und die Feuchtigkeit kondensierte zu einem leichten Nebel, der sich als glitzernder Tau absetzte, als ahnte die Natur den aufziehenden Tag voraus. Gewisse Erscheinungen in der Natur zeugten von so großer Klugheit, dass sie sie seit jeher in Staunen versetzten – bestimmt würde sie im Grab all diese vollkommenen Details, die der Schöpfer sich ausgedacht hatte, vermissen. Jetzt sog sie tief den Geruch von Harz und feuchter Erde ein, machte einen Schritt zur Seite und ließ einen kräftigen, befreienden Furz, denn ein Vorteil des Alters bestand darin, hin und wieder diese göttliche Vollkommenheit ungeniert entweihen zu dürfen. Während sie die gleichgültige Stille des Augenblicks genoss, der sich nicht darum scherte, wie viele solcher Momente ihr noch beschieden sein würden, ergriff sie eine sonderbare Vorahnung, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Das Gefühl, nicht allein zu sein.

Es war nicht nur ein Verdacht, sondern Gewissheit. Sie wusste nicht, woher sie rührte. Noch ehe sie es sich erklären konnte, nahm sie erneut die Hunde in der Ferne wahr und wandte den Blick in ihre Richtung.

Sie bellten wie verrückt.

Zuerst dachte sie, sie hätten einen unvorsichtigen Hasen aufgestöbert, der sich vor Tagesanbruch aus seinem Bau gewagt hatte, um Futter zu suchen. Aber dann wären sie bereits angesprungen gekommen, einer von ihnen mit der Beute im Maul.

Doch die beiden Setter kehrten merkwürdigerweise nicht zurück.

Mit zwei Fingern an den Lippen stieß sie einen langen, durchdringenden Pfiff aus. Keine Reaktion: Die Hunde bellten aufgeregt weiter. Kurz darauf begannen sie zu heulen. Da verstand sie, dass die Tiere ihre Aufmerksamkeit erlangen wollten.

Und dass dort im Wald etwas war, das sie zurückhielt.

Ohne auch nur einen Moment zu zögern, kehrte sie zu dem Lada zurück, holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und begab sich in das dichte Unterholz hinein.

 

Mithilfe ihrer schwieligen Hände kämpfte sie sich durch das Dickicht; ein Zweig zerkratzte ihr die Wange, aber sie merkte es nicht einmal – zum einen wegen des Hilferufs ihrer geliebten Hunde, zum anderen, weil sie wegen ihrer dunklen Vorahnung von Angst getrieben war, und sie betete zu dem Gott, an den sie noch nie geglaubt hatte, dass ihre Befürchtungen unbegründet und lediglich ein Produkt ihrer...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Übersetzer Monika Köpfer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Erinnerung • Florenz • Hypnose • Italien • Junge • Psychologie • Psychothriller • Therapie • Trance
ISBN-10 3-03792-228-1 / 3037922281
ISBN-13 978-3-03792-228-6 / 9783037922286
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