Tanzen wir die Liebe aus (eBook)
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-28430-8 (ISBN)
Matthias Henke (* 1953) ist Professor i. R. für Musikwissenschaft. Zuletzt lehrte er an der Universität Siegen und an der Universität für Weiterbildung Krems in Österreich. Er veröffentlichte Biografien über Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Clara Schumann, Arnold Schönberg und andere.
Matthias Henke (* 1953) ist Professor i. R. für Musikwissenschaft. Zuletzt lehrte er an der Universität Siegen und an der Universität für Weiterbildung Krems in Österreich. Er veröffentlichte Biografien über Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Clara Schumann, Arnold Schönberg und andere.
Vorspiel
Anfang März 2015. Es ist ein lausig kalter Wintertag. Der Wind pfeift uns um die Ohren. Wir erkunden zu Fuß die Umgebung von Dessau, gelangen dorthin, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Nach einigen Stunden bekommen wir Hunger. Aber kein Café oder Lokal in Sicht, nicht einmal ein Supermarkt oder Ähnliches. Und keine Menschen auf der Straße, die man fragen könnte.
Doch dann ein Lichtblick: in einem winzigen Dorf ein kleines Fleischereifachgeschäft. Wir gehen hinein. Und wir sorgen, genauer gesagt, »sie« sorgt beinahe für einen Ohnmachtsanfall. »Erich, Erich«, ruft die Metzgersfrau nach hinten, »Cornelia Froboess ist bei uns im Laden.« Die aufgeregte Dame verfällt in Schnappatmung. Man hat regelrecht Angst um sie. Aber sie beruhigt sich wieder und bereitet uns mit zitternder Hand die georderten Mettbrötchen zu. Gerettet! Donnerwetter, denke ich bei mir, die Froboess ist wirklich ein echter Star: Geht übers flache Land, kehrt dick eingemummelt in ein Geschäft ein, und gleich erkennt man sie – und das in Deutschlands Osten, wobei sie doch eigentlich ein Kind des Westens ist.
Wie kam es dazu, dass sie, die ständig in der Öffentlichkeit stehende Künstlerin, und ich, ein meist in seiner »Studierstube« hockender Musikwissenschaftler und Schriftsteller, gemeinsam querfeldein im Nirgendwo marschieren? Die Antwort erfordert einen kurzen Blick zurück.
Wenige Jahre nach dem Mauerfall, im September 1993, gründet sich in Dessau die Kurt-Weill-Gesellschaft. Sie folgt dem Ziel, das Gedenken an den Komponisten »in seiner Geburtsstadt auf jede geeignete Weise zu erhalten«. Zur erfolgreichen Bilanz des Vereins gehört es, den Neubau einer Synagoge vorangetrieben zu haben, die im Oktober 2023 eröffnet wird – in der Nähe ihrer Vorgängerin, an der Weills Vater bis 1920 als Kantor gewirkt hat.
Ein weiteres Verdienst der Gesellschaft ist es, das alljährliche Kurt-Weill-Fest auf den Weg gebracht zu haben und es jedes Jahr neu zu erfinden. Als im Jahr 2009 der Kulturmanager Professor Michael Kaufmann die Intendanz des Festivals übernimmt, sorgt er für einen Modernisierungsschub. Die Programmhefte erhalten ein neues Gesicht. Auch entwickelt er ein ergänzendes Format, Entdeckungen genannt, Brückenkopfveranstaltungen, die auf die kommenden Konzerte, Filmvorführungen, Theaterabende und Lesungen vorbereiten sollen. Schließlich bittet er mich, das Schreiben der Programmhefttexte zu übernehmen – eine Aufgabe, der ich mich gemeinsam mit meiner Frau Carola und ausgesuchten Studierenden stelle. Zudem organisiere ich die Entdeckungen, die aus Kurzvorträgen und Konzerten bestehen.
Überhaupt tauschen Kaufmann und ich uns damals intensiv über die Möglichkeiten des Kurt-Weill-Festes aus. Im Spätsommer 2014 erhalte ich einen Anruf von ihm. Nicht ohne Stolz berichtet er, Cornelia Froboess für 2015 als Artist in Residence gewonnen zu haben. Ob ich ihr nicht für eines der vier angedachten Programme eine Art Drehbuch schreiben wolle.
Da ich dergleichen immer gern gemacht habe, etwa für Paul Kuhn oder Katharina Thalbach, sage ich spontan zu. Das »Drehbuch«, so Kaufmanns Wunsch, muss Texte von zwei Dessauer Künstlern umfassen: von Kurt Weill natürlich und von Wilhelm Müller, dem Dichter der Winterreise. Beiträge von Ernst Krenek sollen das Programm ergänzen – einerseits, weil der österreichische Komponist einen Liederzyklus geschrieben hat, das Reisebuch, in dem man ein Nachfolgemodell der Müller-Schubert’schen Winterreise sehen kann; andererseits, weil Kaufmann den Zeitgenossen Krenek und Weill das Dessauer Fest 2016 widmen will. Die ausgewählten Texte und die entsprechenden Moderationen sollen musikalisch durch den renommierten Jazzbassisten Dieter Ilg grundiert werden.
Mit einem derartigen Programm entspreche Cornelia Froboess nicht nur dem Generalthema des aktuellen Kurt-Weill-Festes Vom Lied zum Song, äußert sich Michael Kaufmann bei einer Pressekonferenz, vielmehr fungiere sie auch als ideale Botschafterin für den Komponisten: Wie Weill habe sie die Verbindung, das Neben- und Miteinander von U und E immer geliebt und gelebt.
Ende Februar 2015 ist es dann so weit. Cornelia Froboess und ich treffen uns zu Beginn des Kurt-Weill-Festes zum ersten Mal persönlich, wohnen im selben Hotel. Das »Drehbuch«, es heißt nun nach Wilhelm Müller Je weiter meine Stimme dringt, je heller sie mir wieder klingt, ist akzeptiert.
Rasch merken wir, dass die Chemie stimmt, und verabreden, die Tage mit einem gemeinsamen Frühstück zu beginnen. Mit von der Partie: meine Frau sowie unser vierjähriger Mischling Momo, mit dem wir bei der Hundenärrin Froboess natürlich Extrapunkte einfahren. Nach einer Weile stoßen auch einer ihrer Begleiter, der Gitarrist Sigi Schwab, und seine patente Gattin zu uns (beide sind inzwischen leider verstorben). Auch mit ihnen komme ich bestens ins Gespräch.
Gut gelaunt treffen wir uns an einem der folgenden Tage beim sogenannten Festivalcafé wieder, in dem Cornelia Froboess als Artist in Residence einem Redakteursduo des MDR Rede und Antwort steht. Es wird ein erstaunliches und für uns beide weichenstellendes Interview.
Zunächst bekennt Cornelia Froboess, vor ihrer Einladung nach Dessau vom »amerikanischen« Weill nur wenig gewusst zu haben. Auch Wilhelm Müller hat sie bislang nur als Dichter der Winterreise wahrgenommen. Aber sie konnte sich Gott sei Dank die letzten Wochen ziemlich gut freischaufeln, um sich, so Froboess wörtlich, »wie eine Schülerin« auf das Fest vorzubereiten. »Die Beschäftigung mit diesen wunderbaren Komponisten und Dichtern gehörte für mich zu der reichsten Zeit der letzten Jahre.« Dann kommt das Gespräch auf ihre vier Programme. Cornelia Froboess erwähnt die Kunstfigur der Frau Wernicke, der ihr Schöpfer, der jüdische Emigrant Bruno Adler, satirische Beiträge in den Mund legte, um sie von der BBC »heim ins Reich« zu senden. Die Botschaften der »Volksjenossin« Wernicke seien im Berliner Dialekt geschrieben: »Und ich glaub, den kann ich.« Das Publikum lacht. (Ergänzen darf man, dass sie die Wernicke schon im Jahr 2000 in einem Film verkörpert hat.) Als Partnerin steht ihr hier die Jazzpianistin Julia Hülsmann zur Seite.
Dann bitten die Moderatoren Cornelia Froboess, einen oder mehrere Texte von Kurt Weill zu lesen. Sie entscheidet sich unter anderem für das spöttische Porträt seiner Frau Lotte Lenya. »Meine Frau, 1929. Sie ist eine miserable Hausfrau. Aber eine sehr gute Schauspielerin. Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. […] Sie kümmert sich nicht um meine Arbeit (das ist einer ihrer größten Vorzüge). Aber sie wäre sehr böse, wenn ich mich nicht für ihre Arbeit interessieren würde. […] Sie hat mich geheiratet, weil sie gern das Gruseln lernen wollte, und sie behauptet, dieser Wunsch sei ihr in ausreichendem Maße in Erfüllung gegangen.«
Und jetzt geht’s an den nächsten Einspieler: an die unvermeidbare Badehose, Cornelias Hit aus Kindertagen. Es kommt zu einer Überraschung. »Das ist nicht das Original«, ruft die Froboess. Sie habe das Lied ursprünglich mit den Schöneberger Sängerknaben aufgenommen, nicht mit Männerstimmen. Man habe hier die Version für die DDR eingespielt, mit dem veränderten Text. Aus dem westlichen Wannsee sei das neutrale Strandbad geworden.
In diesem Augenblick funkt es bei mir. Nie hätte ich gedacht, dass man an einem so harmlosen Lied Politisches festmachen, ja, anschaulich erzählen kann. In meinen Schädel nistet sich die fixe Idee ein, das Leben der Sängerin-Schauspielerin entlang der BRD-Geschichte aufzufächern.
Als ich ein paar Tage später das Programm Liederliches höre, das Cornelia und Sigi Schwab in der Dessauer Marienkirche geben, ist es um mich geschehen. Jetzt will ich den Gedanken einer Froboess-Biografie in die Tat umsetzen, so mein fester Entschluss. Besonders hat es mir und dem Publikum der Vortrag des Leonard-Cohen-Songs Dance Me to the End of Love angetan, den Cornelias Ehemann Hellmuth Matiasek ins Deutsche übertragen hat: »Tanzen wir die Liebe aus!« Ich gestehe, dass ich ihre intime Deutung gegenüber Cohens Originalversion, die mir wegen der Hintergrundchöre allzu schwülstig erscheint, eindeutig bevorzuge.
Liederliches, das Programm des Duos, ist keine Kleinkunst, wie man gern sagt, sondern die Auslotung der Möglichkeit, im Kleinen das Große zu erblicken, also die Glasscherbe von der Straße aufzuheben, sie gegen die Sonne zu halten und es funkeln zu sehen.
Es dauert ein paar Wochen, bis ich meine »biografischen Gedanken« zu Papier bringe und an die Schauspielerin schicke. Sie sagt nicht Ja und nicht Nein. Vielleicht ist sie noch nicht bereit, denke ich mir. Wir bleiben in Kontakt, wenn auch zunächst ohne Ergebnisse.
Als der Bayerische Rundfunk meine Hörfunksendung über die Musikmäzenin Emmy Rubensohn produzieren will, frage ich Cornelia Froboess, ob sie bereit sei, deren Briefe zu lesen. Sie sagt zu. Aber ihre Dreharbeiten und die freien Zeiten in den BR-Studios passen nicht zusammen. Ihre geschätzte Kollegin Sibylle Canonica springt dankenswerterweise ein. Als ich mit dem Dirigenten Martin Haselböck übereingekommen bin, Joseph Haydns Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze in einer neuen, von mir eingerichteten Textfassung zur Aufführung zu bringen,...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
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ISBN-10 | 3-426-28430-8 / 3426284308 |
ISBN-13 | 978-3-426-28430-8 / 9783426284308 |
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