Die Maias (eBook)
944 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28086-1 (ISBN)
Lissabon um 1870. Carlos de Maia stammt aus einer der vornehmsten Familien des Landes und hat alles: Er sieht blendend aus, ist reich, intelligent und hat hochfliegende Pläne. Er und sein bester Freund João brillieren in der feinen Gesellschaft, über deren Rückständigkeit sie sich zugleich lustig machen. Carlos studiert im Ausland, wird Arzt und richtet sich eine luxuriöse Praxis ein, doch schon bald stürzt er sich in eine Affäre mit der rätselhaften Maria Eduarda, die das Zeug dazu hat, nicht nur ihn, sondern seine ganze Familie zu ruinieren. Der größte Klassiker der portugiesischen Literatur, ein Familien- und Gesellschaftsroman voll unvergleichlichem Witz und tiefer Menschenkenntnis.
José Maria Eça de Queirós wurde 1845 geboren und starb 1900 in Paris. Er war Jurist, Diplomat, und wurde mit Die Maias zum berühmtesten portugiesischen Schriftsteller seiner Zeit.
I
Das Haus in Lissabon, das die Maias im Herbst 1875 bezogen, war in der Gegend um die Rua de São Francisco de Paula und sogar im ganzen Viertel Janelas Verdes unter dem Namen Casa do Ramalhete, »das Haus mit dem Blumenstrauß«, bekannt oder einfach nur als Ramalhete. Trotz dieses frischen, nach Landhaus klingenden Namens machte das Ramalhete, ein großer, düsterer Klotz mit strengem Gemäuer, einer Reihe schmaler schmiedeeiserner Balkone im ersten Stock und schüchtern wirkenden Fensterchen unter dem schützenden Dach, den traurigen Eindruck einer kirchlichen Residenz, passend für ein Gebäude aus der Zeit der Königin Dona Maria I. Mit einem Glöckchen und einem Kreuz auf dem Dach hätte man es für ein Jesuiten-Kolleg halten können. Der Name ging offensichtlich zurück auf ein quadratisches Fliesenpaneel an der Stelle, wo eigentlich das Wappenschild hätte prangen sollen, das aber nie angebracht worden war — ein großer Strauß Sonnenblumen, zusammengehalten von einem Band, auf dem die Ziffern und Buchstaben eines Datums zu erkennen waren.
Viele Jahre lang war das Ramalhete unbewohnt gewesen, die Gitter der kleinen Fenster im Erdgeschoss mit Spinnweben überzogen, seine Farbe zunehmend die des Verfalls. 1858 hatte Monsignore Buccarini, Nuntius Seiner Heiligkeit, den die klerikale Strenge des Gebäudes und der schläfrige Frieden des Viertels betört hatten, es mit dem Gedanken besichtigt, dort die Apostolische Nuntiatur einzurichten. Die Innenräume sagten ihm gleichermaßen zu: die palastartige Ausstattung des Hauses mit getäfelten Decken und Wandfresken, auf denen die Rosen der Girlanden und die Wangen der Amoretten bereits verblassten. Doch der Monsignore mit seinen Gepflogenheiten des reichen römischen Prälaten wollte in seiner Residenz nicht auf die Bäume und das Wasser eines Lustgartens verzichten, und im Ramalhete gab es zu Füßen der roten Backsteinterrasse lediglich ein kleines, ungepflegtes, dem Unkraut überlassenes Gärtchen mit einer Zypresse und einer Zeder, einer ausgetrockneten Kaskade, einem Teich voller Unrat und einer vom feuchten Blattwerk geschwärzten Statue ganz hinten in der Ecke (in der Monsignore sogleich die Venus von Kythera erkannte). Hinzu kam, dass die Miete, die der alte Vilaça, Verwalter der Maias, verlangte, dem Monsignore so überhöht vorkam, dass er ihn lächelnd fragte, ob er denn glaube, dass die Kirche immer noch in der Zeit Leo X. lebe. Vilaça erwiderte, auch der Adel lebe nicht mehr in der Zeit Dom João V, und so blieb das Ramalhete weiterhin unbewohnt.
Diese unnütze Bruchbude (wie Vilaça Júnior das Haus nannte, der nach dem Tod seines Vaters Verwalter der Maias wurde) fand erst Ende 1870 eine Verwendung, als sie nämlich das Mobiliar und Tafelgeschirr aus dem Familienschlösschen von Benfica aufnahm, eines beinahe historischen Domizils, das, nachdem man es jahrelang feilgeboten hatte, schließlich von einem brasilianischen Komtur erworben worden war. Bei dieser Gelegenheit war auch eine weitere Besitzung der Maias verkauft worden, die Tojeira; und einige wenige Menschen in Lissabon, die sich noch an die Maias erinnerten und wussten, dass sie seit der Zeit der Regeneração zurückgezogen an den Ufern des Douro auf ihrem Landgut Santa Olávia lebten, hatten Vilaça gefragt, ob diese Leute etwa in Geldschwierigkeiten steckten.
»Einen Kanten Brot haben sie schon noch«, erwiderte Vilaça grinsend, »und auch die Butter zum Draufschmieren.«
Die Maias waren eine alteingesessene Adelsfamilie aus der Beira, die nie wirklich zahlreich gewesen war; ohne Seitenlinien, ohne große Verwandtschaft und inzwischen nur noch ganze zwei Männer zählend, nämlich den bereits betagten Hausherrn Afonso da Maia, fast schon ein Ahnherr, älter als das Jahrhundert, und seinen Enkel Carlos, der in Coimbra Medizin studierte. Als Afonso sich damals endgültig nach Santa Olávia zurückzog, brachte das Gut bereits mehr als fünfzigtausend Cruzados ein; und seitdem hatten sich Ersparnisse aus zwanzig Jahren Dorfleben angesammelt, zu denen noch die Erbschaft eines letzten Verwandten, Sebastião da Maia, hinzugekommen war, der seit 1830 allein in Neapel gelebt und sich dort nur mit der Numismatik beschäftigt hatte: Der Verwalter konnte also getrost selbstbewusst grinsen, wenn er von den Maias und ihrem Kanten Brot sprach.
Zu dem Verkauf der Tojeira hatte in der Tat Vilaça geraten, doch niemals hatte er befürwortet, dass Afonso sich von Benfica trennte, nur weil diese Mauern so viel häusliches Leid miterlebt hatten. Das sei doch das Schicksal aller Mauern, sagte Vilaça. Die Folge war, dass die Maias nun, da man im Ramalhete nicht wohnen konnte, in Lissabon über keine Bleibe mehr verfügten; und Afonso mochte in seinem Alter ja die Ruhe von Santa Olávia lieben, sein Enkel hingegen, ein junger Mann mit Sinn für Geschmack und Luxus, der seine Ferien in Paris und in London verbrachte, würde sich nach seinem Studium bestimmt nicht zwischen den Felsen des Douro vergraben. Und tatsächlich überraschte Afonso seinen Verwalter etliche Monate, bevor der Enkel Coimbra verlassen sollte, mit der Ankündigung, er wolle fortan im Ramalhete wohnen! Vilaça verfasste sogleich einen Bericht, in dem er die Nachteile des Hauses aufzählte. Dies waren in erster Linie die erforderlichen Bauarbeiten und deren hohe Kosten; ferner der fehlende Garten, was sicher schmerzlich wäre für jemanden, der aus der waldreichen Gegend von Santa Olávia kam; und schließlich führte er sogar noch eine Legende an, der zufolge die Wände des Ramalhete den Maias stets Unheil gebracht hätten, »wenngleich es mir peinlich ist«, fügte er mit wohlgesetzten Worten hinzu, »in diesem Jahrhundert eines Voltaire, eines Guizot oder anderer liberaler Philosophen solche Albernheiten anzubringen …«
Afonso lachte herzlich über diesen Satz und antwortete, das seien zwar einleuchtende Gründe, doch er wolle unter einem Dach leben, das traditionell das seine sei; und wenn Bauarbeiten nötig seien, so solle man sie durchführen, auch im großen Stil; und was die Legenden und schlechten Omen angehe, so genüge es, die Fenster aufzureißen und die Sonne hereinzulassen.
Seine Exzellenz hatte das Sagen, und da der Winter trocken war, wurde sofort mit den Arbeiten begonnen, unter der Leitung eines gewissen Esteves — Architekt, Politiker und Freund Vilaças. Diese Künstlernatur hatte den Verwalter mit seinen Plänen für eine prächtige, von zwei Statuen flankierte Treppe begeistert, die die Eroberungen Guineas und Indiens symbolisieren sollte. Und er entwarf auch bereits einen Keramikbrunnen für den Speisesaal, als — gänzlich unerwartet — Carlos mit einem Innenarchitekten aus London in Lissabon aufkreuzte, dem er, nachdem er auf die Schnelle einige Dekors und Farbmuster für die Polster mit ihm ausgesucht hatte, die vier Wände des Ramalhete überließ, damit er dort nach seinem Gusto ein komfortables Interieur von klugem und dezentem Luxus entwarf.
Vilaça war zutiefst gekränkt über diese Missachtung des heimischen Künstlers; Esteves brüllte in seinem Parteilokal herum, dass diesem Land nicht zu helfen sei. Auch Afonso bedauerte Esteves’ Entlassung und verlangte sogar, ihn mit dem Bau des Kutschenhauses zu beauftragen. Der Künstler wollte gerade zusagen — da wurde er zum Zivilgouverneur ernannt.
Nach einem Jahr, in dem Carlos häufig nach Lissabon gekommen war, um bei den Arbeiten mitzuwirken und »dem Ganzen ästhetisch den letzten Schliff zu geben«, war von dem früheren Ramalhete nur noch die triste Fassade übrig, die Afonso nicht verändert haben wollte, da sie dem Haus sein Gesicht verlieh. Und Vilaça scheute sich nicht zu erklären, Jones Bule (wie er den Engländer nannte) habe ohne übermäßige Kosten zu verursachen und sogar unter Einbeziehung der alten Möbel aus Benfica »ein Museum« aus dem Ramalhete gemacht.
Zuallererst stach der Patio ins Auge, vormals so nackt und düster mit dem groben Steinboden — nunmehr strahlendhell, mit quadratischen weiß-roten Marmorfliesen, dekorativen Zierpflanzen, Quimper-Vasen und zwei großen noblen, von Carlos aus Spanien mitgebrachten Bänken, die mit ihren Schnitzereien die Würde...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2024 |
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Nachwort | Carlos Reis |
Übersetzer | Marianne Gareis |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | OS MAIAS. EPISODIOS DA VIDA ROMANTICA |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Carlos de Maia • Familienroman • Gesellschaftsroman • José Maria Eça de Queiroz • Lissabon • maria eduarda • Portugal • Portugiesischer Klassiker |
ISBN-10 | 3-446-28086-3 / 3446280863 |
ISBN-13 | 978-3-446-28086-1 / 9783446280861 |
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