Schattenblume (eBook)
480 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0782-3 (ISBN)
Heartsdale, Georgia: Bei einem Überfall der Polizeiwache erschießen zwei schwer bewaffnete Männer einen Polizisten und verletzen Polizeichef Jeffrey Tolliver schwer. Alle restlichen Anwesenden werden als Geiseln genommen - unter anderem die Kinderärztin und Gerichtsmedizinerin Dr. Sara Linton, Tollivers Ex-Frau, sowie eine Gruppe von Schulkindern. Das FBI umstellt das Gebäude, doch zur großen Überraschung der Einsatzkräfte stellen die Geiselnehmer keinerlei Forderungen. Wie tief müssen Sara und Chief Tolliver in die Vergangenheit eintauchen, um herauszufinden, was die Männer erreichen wollen? Ein atemloser Wettlauf mit der Zeit beginnt ...
<p>Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 <em>New York Times</em>-Bestseller-Romanen. Dazu zählen »Cop Town«, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller »Die gute Tochter« und »Pretty Girls«. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller »Ein Teil von ihr« ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix eingestiegen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent läuft derzeit erfolgreich auf Disney+, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta. Mehr Informationen zur Autorin gibt es unter www.karinslaughter.com</p>
Eins
8.55 Uhr
»Wen haben wir denn da!«, rief Marla Simms und sah Sara über den Rand ihrer Brille prüfend an. Die Sekretärin der Polizeiwache hielt eine Zeitschrift in den arthritischen Händen, die sie jetzt sinken ließ, um Sara wissen zu lassen, dass sie reichlich Zeit für einen Plausch hatte.
Sara versuchte fröhlich zu klingen, obwohl sie ihren Besuch extra auf Marlas Pause gelegt hatte. »Morgen, Marla.«
Marla sah sie durchdringend an und zog die Mundwinkel noch weiter runter als sonst. Sara versuchte, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Marla Simms hatte die Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet, seit die Baptistenkirche ihre Pforten geöffnet hatte, und sie schaffte es immer noch, jedem Kind der Stadt, das nach 1952 geboren war, mit einem einzigen Blick Gottesfurcht einzuflößen.
Sie musterte Sara unerbittlich. »Dich habe ich ja lange nicht mehr hier gesehen.«
»Hm.« Sara versuchte, über Marlas Kopf hinweg in Jeffreys Büro zu spähen. Die Tür stand offen, doch er saß nicht an seinem Schreibtisch. Der Mannschaftsraum war leer, wahrscheinlich war Jeffrey hinten. Im Grunde konnte sie einfach am Anmeldungstresen vorbeimarschieren und selbst nach ihm suchen – wie sie es schon Hunderte Male zuvor getan hatte –, doch irgendetwas hielt Sara davon ab, die unsichtbare Grenze zu passieren, ohne den Wegezoll zu entrichten.
Marla verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Schöner Tag heute«, sagte sie.
Sara blickte hinaus auf die Main Street, wo der Asphalt in der Hitze flimmerte. Die Luft war so feucht, dass ihr der Schweiß aus allen Poren drang. »Ja, wirklich schön.«
»Du hast dich aber hübsch gemacht«, fuhr Marla mit einem Blick auf das Leinenkleid fort, das Sara ausgesucht hatte, nachdem sie all ihre Kleider aus dem Schrank gerissen hatte. »Gibt es einen Anlass?«
»Ach, nichts Besonderes«, log Sara. Unwillkürlich nestelte sie an ihrer Tasche herum und wippte auf den Füßen, als wäre sie vier und nicht fast vierzig.
Die ältere Frau sah sie triumphierend an. Sie ließ Sara noch ein bisschen zappeln, bevor sie fragte: »Wie geht’s deiner Mutter?«
»Gut«, antwortete Sara und versuchte, leutselig zu klingen. Sie war nicht so naiv zu glauben, ihr Privatleben ginge niemanden etwas an – in einem Nest wie Heartsdale konnte man kaum niesen, ohne dass ein Nachbar anrief und freundlich »Gesundheit« wünschte. Doch Sara würde Marla auch nicht alles auf die Nase binden.
»Und deiner Schwester?«
Bevor Sara antworten konnte, kam ihr Brad Stephens zu Hilfe, der über die Schwelle der Eingangstür stolperte. Der junge Streifenpolizist konnte gerade noch verhindern, dass er der Länge nach zu Boden fiel, doch der Schwung riss ihm die Mütze vom Kopf. Sie segelte Sara vor die Füße. Brads Holster und Gummiknüppel baumelten rechts und links an seiner Hüfte wie ein Paar zusätzliche Gliedmaßen. Hinter ihm prustete eine Schar vorpubertärer Kinder beim Anblick seines uneleganten Auftritts.
»Hoppla«, sagte Brad und blickte von Sara zu den Kindern und wieder zurück. Dann hob er seine Mütze auf und klopfte sie mit übertriebener Sorgfalt ab. Sara fragte sich, vor wem er sich mehr schämte: vor der Handvoll Zehnjähriger, die über seine Tollpatschigkeit lachten, oder vor seiner ehemaligen Kinderärztin, die offensichtlich ihr Grinsen unterdrücken musste.
Anscheinend war das Letztere schlimmer. Er wandte sich wieder an seine Gruppe und versuchte, sich mit sonorer Stimme Respekt zu verschaffen. »Wir befinden uns hier auf der Polizeiwache, wo wir unsere Arbeit machen. Also, die Polizeiarbeit. Und, äh, das hier ist die Eingangshalle.« Er sah Sara an. Den Vorraum, in dem sie sich befanden, als Eingangshalle zu bezeichnen, war ein wenig übertrieben. Er war keine zehn Quadratmeter groß mit einer Betonwand direkt gegenüber der gläsernen Eingangstür. An der Wand rechts von Sara hingen die Fotos aller Einheiten der Grant County Police. Den Ehrenplatz nahm ein großes Porträt von Mac Anders ein, dem einzigen Polizeibeamten, der je im Einsatz getötet worden war.
Gegenüber der Fotogalerie wachte Marla hinter einem hohen hellbraunen Resopaltresen, der den Besucherbereich vom Mannschaftsraum trennte. Sie war keine kleine Frau, doch mit dem Alter hatte sich ihr Körper zu einem Fragezeichen gekrümmt. Die Brille hing ihr auf der Nasenspitze, sodass es Sara, die selbst eine Lesebrille brauchte, immer reizte, sie ihr wieder nach oben zu schieben. Nicht dass Sara den Mut dazu gehabt hätte. Denn so gut wie Marla über alle und alles Bescheid wusste, so wenig ließ sie die Leute an sich heran. Sie war verwitwet und hatte keine Kinder. Ihr Mann war im Zweiten Weltkrieg gefallen. Sie wohnte auf der Hemlock, zwei Straßen von Saras Elternhaus entfernt. Sie strickte, unterrichtete in der Sonntagsschule und arbeitete Vollzeit auf dem Revier, wo sie sich ums Telefon und den Papierkram kümmerte. All das sagte allerdings nicht viel über Marla Simms aus. Und doch hatte Sara das Gefühl, dass es noch mehr gab im Leben dieser Frau von achtzig Jahren, auch wenn Marla die meiste Zeit davon in dem Haus verbracht hatte, in dem sie zur Welt gekommen war.
Brad setzte seine Führung durch die Wache fort und zeigte auf den großen offenen Raum hinter Marla. »Dahinten erledigen die Kriminalbeamten und die Streifenpolizisten ihre Arbeit … Telefonanrufe und so weiter. Zeugen befragen, Berichte schreiben, Sachen in den Computer eingeben und, äh …« Er brach ab, als er merkte, dass ihm keiner zuhörte. Die meisten Kinder konnten kaum über den Tresen sehen. Und selbst wenn – dreißig leere Schreibtische in Fünferreihen, dazwischen verschieden große Aktenschränke, waren nicht unbedingt ein fesselnder Anblick. Sara schätzte, die Kinder bereuten bereits, dass sie nicht in der Schule geblieben waren.
Doch Brad versuchte es weiter. »Ich zeige euch gleich die Gefängniszellen, wo wir die Verbrecher festnehmen … ich meine, nicht wo wir sie festnehmen«, er blickte nervös zu Sara. »Also, hier stecken wir sie rein, nachdem wir sie festgenommen haben. Also, nicht hier, sondern ins Gefängnis.«
Schlagartig wurde es still, dann begann plötzlich jemand hinten in der Gruppe zu kichern. Sara, die die meisten der Kinder aus der Kinderklinik kannte, schaffte es, ein paar von ihnen mit einem strengen Blick zum Schweigen zu bringen. Um die restlichen kümmerte sich Marla. Ihr Drehstuhl ächzte erleichtert, als sie sich aufrichtete und sich über den Tresen beugte. Wie auf Knopfdruck brach das Kichern ab.
Maggie Burgess, ein Mädchen, das von seinen Eltern ernster genommen wurde, als ihm guttat, meldete sich mit Piepsstimme zu Wort: »Hallo, Frau Dr. Linton.«
Sara nickte ihr zu. »Hallo, Maggie.«
»Ähm«, begann Brad wieder. Sein sonst milchweißes Gesicht war tiefrot angelaufen. Sara entging nicht, dass sein Blick ein wenig zu lang an ihren nackten Beinen klebte. »Ihr … äh … ihr kennt ja alle Dr. Linton.«
Maggie verdrehte die Augen. »Natüüürlich«, sagte sie, und ihr respektloser Ton brachte wieder ein paar Kinder zum Lachen.
Doch Brad fuhr unbeirrt fort. »Dr. Linton ist auch die Gerichtsmedizinerin bei uns in der Stadt, neben ihrer Arbeit als Kinderärztin.« Er schlug einen pädagogischen Ton an, obwohl mit Sicherheit alle Kinder von Saras zweitem Standbein wussten. Das Thema wurde an den Wänden der Schultoiletten ausführlich abgehandelt. »Ich nehme an, Sie sind dienstlich hier, Dr. Linton?«
»Ja«, antwortete Sara. Sie versuchte, wie eine Kollegin zu klingen, nicht wie die Ärztin, die sich noch gut daran erinnerte, wie Brad früher in Tränen ausgebrochen war, wenn er nur das Wort Spritze gehört hatte. »Ich bin hier, um mit dem Polizeichef über einen Fall zu sprechen, an dem wir arbeiten.«
Maggie sperrte wieder den Mund auf, wahrscheinlich um zu wiederholen, was ihre Mutter über Saras und Jeffreys Beziehung gesagt hatte, doch Marla quietschte mit dem Stuhl, und das Mädchen blieb still. Sara schwor sich, am nächsten Sonntag in die Kirche zu gehen und für Marla eine Kerze anzuzünden.
Doch Marla klang kaum respektvoller als Maggie, als sie zu Sara sagte: »Ich werde mal nachsehen, ob Chief Tolliver Zeit hat.«
»Danke«, antwortete Sara und strich den Plan mit der Kirche.
»Schön, dann …«, begann Brad und wischte noch einmal über seine Mütze. »Dann lasst uns mal nach hinten gehen.« Er hielt die Schwingtür auf, um die Kinder durchzulassen, und sagte zu Sara: »Ma’am«, und nickte höflich, bevor er seinen Schützlingen folgte.
Sara ging hinüber zu den Fotos an der Wand und betrachtete die vertrauten Gesichter. Bis auf die Zeit am College und am Grady Hospital in Atlanta hatte Sara immer in Grant County gelebt. Die meisten Männer hier an der Wand hatten das ein oder andere Mal mit ihrem Vater gepokert. Von den restlichen war einer Diakon in der Kirche gewesen, als Sara klein war, ein anderer hatte immer bei den Footballspielen aufgepasst, als sie ein Teenager war und hoffnungslos verliebt in Steve Mann, den Leiter des Schachklubs. Bevor Sara nach Atlanta zog, hatte Mac Anders Sara und Steve auf dem Parkplatz hinter dem Hotdog-Laden beim Knutschen erwischt. Ein paar Wochen später hatte sich sein Streifenwagen bei einer Verfolgungsjagd sechsmal überschlagen und Mac Anders war tot.
Sara fröstelte, eine...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Grant-County-Serie |
Übersetzer | Sophie Zeitz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Indelible |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Autorin • Blutige Fesseln • Buch • Georgia • Georgia / Atlanta • Gerichtsmedizin • Grant County • Grant-County-Serie • Kinderärztin • Kriminalthriller • Pathologin • psychologische Spannung • Sara Linton • spannend • Spiegel-Bestellerautorin • Taschenbuch • Will Trent • will trent sara linton |
ISBN-10 | 3-7499-0782-X / 374990782X |
ISBN-13 | 978-3-7499-0782-3 / 9783749907823 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich