Nachtzugtage (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
238 Seiten
Friedenauer Presse (Verlag)
978-3-7518-8020-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachtzugtage -  Millay Hyatt
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Millay Hyatt ist leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der »ungepolsterten Begegnung mit der Welt«, der sie noch jedes Flugzeug durch die Reise auf der Schiene tauschen lässt. Sie weiß: In der Fremde und unterwegs sieht man anders, das gilt besonders im Zug, in halber Geschwindigkeit: Das Zugfenster wird zur Verlockung, an ihm laufen bewegte Bilder, ganze Landschaftsfilme vorüber. Im Wagen selbst werden wir zu Voyeuren, die sich für die intimsten Angewohnheiten unserer Mitreisenden interessieren. Wir lauschen dem Streit fremder Paare, zeichnen Psychogramme unserer Sitznachbarn. Auf Schienen kommt ein Denken in Gang, das unsere Gewissheiten stört. Als Reisende gehen wir in eine Schule der Wahrnehmung, in der die eigene Perspektive ins Verhältnis zu anderen gesetzt wird. Die Zugreise verspricht das Glück des Aufbrechens und des Ankommens - und dazwischen die bittersüße Freude der Selbstbefragung. Anhand ungezählter eigener Reisen zeichnet Millay Hyatt eine literarische, anspielungsreiche Kartografie der Zugreise, in der die tausendfach beobachtete Dramaturgie des Abschiednehmens ebenso zu ihrem Recht kommt wie die Verwandlung der Heimkommenden - und zugleich die Einsicht, dass das Passieren von Grenzen nicht für alle eine lustvolle Erfahrung ist.

Millay Hyatt, 1973 in Dallas/Texas, USA, geboren, promovierte Philosophin, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Essays und Erzählungen wurden in diversen Medien publiziert, 2012 erschien ihr Buch Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt (Ch. Links). 2020 und 2021 erhielt sie Stipendien des Berliner Senats. Aktuell spielt sie in Lola Arias' Stück Mother Tongue am Gorki Theater in Berlin.

Millay Hyatt, 1973 in Dallas/Texas, USA, geboren, promovierte Philosophin, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Essays und Erzählungen sind in diversen Medien erschienen, 2012 erschien ihr Buch Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt bei Ch. Links. 2020 und 2021 erhielt sie Stipendien des Berliner Senats für die Arbeit am Erzählband Auswilderungen. Aktuell spielt sie in einem Theaterstück von Lola Arias, Mother Tongue, am Gorki Theater in Berlin.

Karte


Der Wirt fragte, wohin ich unterwegs sei. Ich antworte-
te: ›Konstantinopel.‹ Seine Brauen hoben sich.

Patrick Leigh Fermor

Eigentlich wollte ich nach Moskau fahren. Am Berliner Ostbahnhof ein- und, ohne den Zug zu wechseln, nach nur einer Nacht in der russischen Hauptstadt wieder aussteigen. Dann vielleicht mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter, nach Krasnojarsk oder Ulan-Ude oder, warum nicht, ganz bis nach Wladiwostok. Orte entlang der Strecke mit lyrischen Namen wie Zabytaya (Vergessen) oder Sima (Winter), meine Mutter, die einen Teil dieser Strecke mitgefahren ist, hat ein verschneites Gedicht über sie geschrieben. Russland ist schon lange ein Sehnsuchtsland für mich gewesen und die Transsibirische Eisenbahn ein Mythos, der zum Repertoire jeder seriösen Nachtzugreisenden gehört. Seit Anfang der Pandemie verkehren aber keine Nachtzüge mehr zwischen Europa und Russland, und seit dem Krieg stellt sich meine Russlandsehnsucht ohnehin anders dar.

In Nachtzugklassikern wie Agatha Christies Mord im Orient-Express steigen Passagiere ganz selbstverständlich in Aleppo ein und fahren nach Paris, Paul Theroux ist in den siebziger Jahren fast ausschließlich auf der Schiene von London über, unter anderem, Afghanistan, Pakistan, Burma und Vietnam nach Japan gefahren und dann über die Sowjetunion zurück. Von solchen Reisen kann man heute nur träumen und braucht dafür immer mehr Fantasie, während die Welt im Vergleich zu dieser Hochzeit der Eisenbahn immer unpassierbarer wird. Der Belgier Georges Nagelmackers hatte Ende des 19. Jahrhunderts ganz ohne geschichtliches Vorbild ebendiese Fantasie: Er gründete die Compagnie Internationale des Wagons-Lits, die unter anderem den Orient-Express betrieb, und baute die Schlaf- und Liegewageninfrastruktur auf dem europäischen Kontinent auf. Seine Vision war es, in Europa Grenzen zu überwinden, ohne Krieg zu führen, wie einer seiner Zeitgenossen in einer 2022 erschienenen neuen Biographie zitiert wird. Paris mit Konstantinopel in friedlicher Absicht verkehrstechnisch miteinander zu verbinden war eben nicht seit jeher selbstverständlich, es steckte ein politischer Wille dahinter, den es heute wieder dringend bräuchte. Ich streiche schweren Herzens meine Transsib-Pläne und entscheide mich für ein wesentlich komplizierteres Unterfangen: einen Freund in Tiflis, Georgien, zu besuchen. Wäre kein Krieg, wäre ich dafür nach Varna oder Burgas in Bulgarien gefahren oder nach Tschornomorsk in der Ukraine, südlich von Odessa, und hätte mit der Fähre über das Schwarze Meer nach Batumi übergesetzt. Es ist aber Krieg, auch am Schwarzen Meer, also plane ich die Landstrecke über die Türkei. Anstatt, wie ursprünglich geplant, in Berlin einzusteigen und in Moskau wieder aus, steige ich in Berlin ein, in Leipzig um, in Wien um, in Budapest um, in Arad um, in Bukarest um, in Istanbul um, in Ankara um, in Kars um, in Hopa um, in Sarpi um, in Batumi um, und, am Morgen des siebten Tages, in Tiflis aus.

Die Planung und Buchung mache ich auf eigene Faust – Jens winkt ab. Die Deutsche Bahn hat Anfang 2023 ihre Verträge mit den Reisebüros gekündigt, diese bekommen keine Provisionen mehr für verkaufte Bahnreisen. Viele altehrwürdige, auf Bahnreisen spezialisierte Reisebüros müssen ihre Arbeit einstellen, es rentiert sich nicht mehr, beziehungsweise es wird für die Kundinnen zu teuer. Auch die Verkaufsstellen in den Bahnhöfen werden immer weniger und immer schlechter besetzt, sodass man, falls man das Glück hat, in einer großen Stadt zu leben, wo es noch ein Reisezentrum am Bahnhof gibt, oft lange auf eine freie Mitarbeiterin warten muss. Ansonsten bleibt der Online-Verkauf, der – wie alle, die schon eine Auslandsreise auf dem bahn.de-Portal buchen wollten, wissen – gerne die Meldung Preisauskunft nicht möglich ausspuckt, wenn man die Landesgrenze überqueren will. Oder: Keine Verbindungen gefunden. Bitte passen Sie Ihre Suchparameter an. In solchen Fällen wird empfohlen, die Service-Nummer anzurufen. Dort lautet dann die Lösung, man solle in ein Reisezentrum kommen, um sich informieren zu lassen. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Deutsche Bahn die Menschen vom Bahnreisen abschrecken möchte. Anstatt dann die sinkende Nachfrage bei schlechten Rahmenbedingungen als Vorwand dafür zu nehmen, das Angebot herunterzufahren, könnte man auch in die entgegengesetzte Richtung fahren und das Angebot an öffentlichen Verkehrsverbindungen ausweiten, um die Nachfrage anzukurbeln. Ich würde ja gerne mit dem Nachtzug fahren, wenn es nicht so umständlich, teuer, unbequem, … wäre. Ich habe das oft genug gehört, um zu wissen, dass die Pyjamaanzüge und die Fernzüge und das Pfeifen der Träume (Mathias Traxler) die europäischen Sommernächte entlang Tausender Kilometer Schienen füllen könnten, wenn es ein besseres Angebot gäbe. Als schöner Nebeneffekt wäre dann noch der europäische Sommerhimmel weniger von Kondensstreifen gerastert.

Ich aber warte nicht darauf, sondern klaube mir in Handarbeit diese Reise zusammen, stütze mich dabei stark auf die vor hilfreichen und aktuellen Hinweisen strotzende Website www.seat61.com, die von einem britischen Zugfan mit liebevoller Hingabe betrieben wird. Für die türkischen Strecken rufe ich sämtliche türkischen Reisebüros in Berlin an – The Man in Seat Sixty-One empfıehlt für diese Strecken die Unterstützung von Profıs –, aber diese verkaufen nur Flugtickets und Pauschalreisen. Also freunde ich mich mit der Website der Türkiye Cumhuriyeti Devlet Demiryolları an, der staatlichen türkischen Eisenbahngesellschaft, die es auch auf Englisch gibt. Auch mit der Căile Ferate Române (der rumänischen) wie auch der საქართველოს რკინიგზა (der georgischen). Und ich gehe ins Reisezentrum, das es noch im Berliner Ostbahnhof gibt, allerdings seit kurzem gut versteckt im hintersten Winkel des Bahnhofs und ohne ausreichend Sitzplätze für die vielen geduldig Wartenden. Als ich mein Anliegen schildere (Ich möchte nach Kars in der Türkei – meine Recherchen haben schon ergeben, dass es ab dort bis zur georgischen Schwarzmeerstadt Batumi nur mit dem Bus weitergeht), sagt mir die DB-Angestellte: Ein Kollege, der hobbymäßig überall rumfährt, wo Züge fahren, auch so ein Freak, der macht das über ein Reisebüro. Hier kriegen wir das nicht gebucht. Ich als Freak weiß aber schon, dass das Reisebüro, das sie mir nennt, zu denen gehört, die keine Individualzugreisen mehr verkaufen können. Die Dame bucht für mich bis nach Bukarest und bedankt sich dann bei mir für die spannende Aufgabe. (Unterwegs werde ich von einer deutschen Mitreisenden erfahren, dass sie für ihre Fahrkarte von Budapest nach Bukarest zwanzig Euro weniger bezahlt hat als ich, weil sie direkt bei Magyar Államvasutak, der ungarischen Eisenbahngesellschaft, gebucht hat.)

Am Abend auf Reisen zu gehen hat etwas unabweisbar Beglückendes, man kann es sich eigentlich nicht recht erklären, aber da es anhält, vertraut man irgendwann darauf, schreibt Steffen Kopetzky in seinem Nachtzugbegleiter-Roman Grand Tour, und so geht es mir, als ich diese Reise antrete, der ganze Buchungsstress wird vergessen. Es ist ein warmer Juliabend, ich fahre zum Berliner Hauptbahnhof und es kommt mir fast wie ein guter Witz vor, dass ich mit dem Endziel Tiflis in einen IC nach Leipzig steige. Zwischen dort und Wien schlafe ich dann wie ein Fötus mit angezogenen Beinen auf zwei rutschigen Sitzen mehr schlecht als recht: Der Zug fährt durch die Nacht, ist aber kein Nachtzug. Es sollte ein Gesetz geben, laut dem Verbindungen mit planmäßigen Abfahrten zwischen 23 und 5 Uhr Liege- und Schlafmöglichkeiten bereitstellen müssen, und zwar für alle. (Der ÖBB-Nachtzug von Berlin nach Wien passte nicht zu meinem Zeitplan.) Morgens wache ich in Wels auf und fange sofort an zu schreiben. Es ist eine Art Automatismus: Setze ich mich in einen Zug, muss ich sofort etwas notieren. Zum Anblick aus dem Fenster, auch wenn es nichts zu sehen gibt: konturlose Nacht, schwarze Leere, Rausch. Zu meiner Lektüre: Die Freude über diesen Satz bei Annemarie Schwarzenbach: Genug Licht zum Schreiben, Feuer, eine Schaffelldecke, Raki – nicht mehr braucht man und nicht weniger. Zu meinen Mitreisenden: In dieser Nacht sind lauter traurige Menschen unterwegs. Die schwer tätowierte Frau gegenüber mit den London-Heathrow-Gepäckaufklebern an ihrem großen Koffer schaut so betrübt auf ihr Smartphone, dass ich sie umarmen möchte, oder das amerikanische Paar, bei dem ich mich frage, welche Tragödie sie heimgesucht hat, so unfassbar schwermütig sehen sie aus, immer wieder schaut er sie oder sie ihn suchend an, ohne eine Antwort zu bekommen. Vielleicht trennen sie sich oder müssen sich für eine lange Zeit verabschieden? Doch dann fangen sie an, sich zu unterhalten und es scheint kein bedeutungsschweres Gespräch zu sein. Vielleicht ist Traurigkeit einfach ihr Modus. Im Zug nach Wien keift eine Frau ihr Kind an, weil der Junge müde ist und schlafen will, er darf sich aber nicht hinlegen, weil der Sitzplatz neben ihm eventuell reserviert sein könnte. Der Kleine quengelt nicht, legt sich immer wieder hin, um sich gleich wieder ergeben aufzurichten, sobald seine Mutter ihn anfaucht. Sie hat eine Klammer im Haar, die aussieht wie eine böse Kralle oder ein Gebiss, das ihr in den Kopf beißt, als Strafe dafür, dass sie so gehässig zu ihrem Kind ist. Zu mir selbst: Wo andere ein kleines, in die Hosentasche...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Bahnreisen • England • Europa • Georgien • Gesellschaft • Großbritannien • Kommunikation • Nachtzug • Nachtzüge • Portugal • Schienen • Sommer • Transport • Türkei • Urlaub • Vehikel
ISBN-10 3-7518-8020-8 / 3751880208
ISBN-13 978-3-7518-8020-6 / 9783751880206
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