Armenische Reise (eBook)

Die Reise des großen russischen Schriftstellers an die Ränder des Imperiums
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3242-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Armenische Reise -  Wassili Grossman
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Es ist das Jahr 1961, Wassili Grossman rattert im Zug nach Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt. Tief getroffen von der Beschlagnahmung seines Jahrhundertromans Leben und Schicksal reist er durch Armenien. Auf der Suche nach neuem Atem in der Ferne findet er unter den Trümmern der Geschichte des 20. Jahrhunderts Menschlichkeit, Wärme und alles verändernde Eindrücke. Er beginnt zu schreiben. Die Armenische Reise zeichnet ein Bild der Person Grossman hinter dem Verfasser der großen Erinnerungsromane über die Schlacht von Stalingrad, die Shoah und die Hungersnot in der Ukraine. In seinen feinsinnigen Reisenotizen zeigt sich der große Nachfolger Tolstois als ein hartnäckiger, kraftvoller Denker mit Sinn für Witz und wohltuender Bescheidenheit. In diesen Streifzügen eines wahrhaften Humanisten wechseln Bekenntnisse, Essays und Anekdoten einander spielerisch ab. Jede Begegnung bringt eine Geschichte mit sich und so setzt sich die Historie dieses Landes, die Repressionen der 1930er Jahre, der Stalinkult, der Zweite Weltkrieg, die Massaker an den Armeniern in der Türkei, die nationalsozialistischen Verbrechen, wie ein Spiegelbild der Erinnerung zusammen. Die Armenische Reise ist nicht nur eine sehr persönliche Begegnung mit dem Schriftsteller Grossman, es ist das spontane Zeugnis eines brillanten Beobachters - voller Rätsel und einer zärtlichen Hingabe an ein Land.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.

II


Auf einem Berg hoch über Jerewan steht ein Stalin-Denkmal.1 Der gigantische Bronzemarschall ist von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen. Käme ein Kosmonaut von einem fernen Planeten und erblickte den Bronzegiganten, der über Armeniens Hauptstadt emporragt, er würde sofort begreifen, dass dies das Denkmal eines großen und schrecklichen Herrschers ist.

Stalin trägt einen langen Bronzemantel, auf dem Kopf hat er eine militärische Schirmmütze, seine Bronzehand ist unter die Knopfleiste des Mantels geschoben. Er schreitet vorwärts, sein Schritt ist bedächtig, schwer, gemessen – der Schritt eines Herrn, des Herrschers der Welt, jemand wie er hat keine Eile. In ihm vereinigt sich auf seltsame, quälende Art zweierlei – er verkörpert eine Kraft, über die nur ein Gott verfügen kann, so groß ist sie, und er verkörpert eine irdische Macht, eine grobe, militärische, bürokratische.

Diese imposante Gottheit ist die großartige Arbeit von Merkurow.2 Womöglich seine beste. Vielleicht ist es sogar das beste Denkmal unserer Zeit. Es ist das Denkmal einer Epoche, der Epoche Stalins. Man könnte glauben, die Wolken berührten Stalins Kopf. Die Figur ist siebzehn Meter hoch, zusammen mit dem Postament achtundsiebzig3 Meter. Als das Denkmal errichtet wurde und die Teile des riesenhaften Bronzekörpers auf der Erde lagen, konnten die Arbeiter aufrecht durch Stalins hohles Bein gehen.

Stalin erhebt sich über Jerewan, über Armenien, er erhebt sich über Russland, über der Ukraine, über dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, über dem Nordpolarmeer, über der ostsibirischen Taiga, über Kasachstans Wüsten. Stalin verkörpert den Staat.

Das Denkmal war 1951 errichtet worden. Wissenschaftler, Dichter, angesehene Hirten, Bestarbeiter, Studenten, Schüler, alte Bolschewiki versammelten sich am Fuße des Bronzegiganten. Natürlich sprachen die Redner vom Größten der Großen, vom Genialsten der Genialen, vom Weisesten der Weisen, vom gütigen, geliebten Vater und Lehrer. Alle Häupter neigten sich vor dem Herrn, dem Führer, dem Errichter des Sowjetstaates. Stalins Staat war ein Ausdruck von Stalins Charakter. In Stalins Charakter drückte sich der Charakter des von ihm errichten Staates aus.

Ich traf in den Tagen des 22. Parteitags in Jerewan ein, zu der Zeit, als der Stalin-Prospekt – die schönste Straße der Stadt, von Platanen gesäumt, breit und gerade, nachts von Laternen erleuchtet, die in den Asphalt der Fahrbahn eingelassen waren – in Lenin-Prospekt umbenannt wurde.

Meine armenischen Gesprächspartner, einer von ihnen hatte seinerzeit zu den angesehenen Personen gehört, denen man die Enthüllung des Stalin-Denkmals anvertraut hatte, reagierten nervös, wann immer ich das gigantische Monument rühmte.

Einige sagten gewandt: »Möge das Metall, das für dieses Denkmal genutzt wurde, seiner ursprünglichen edlen Bestimmung zugeführt werden.«

Doch die anderen fielen über Stalin her – sie verfluchten ihn nicht einmal wegen der entsetzlichen Verbrechen und Morde von 1937, sondern wegen seiner Erbärmlichkeit – ein Hinterwäldler sei er gewesen, ein Hochstapler, ein Emporkömmling.

Alle meine Versuche, wegen seiner Rolle bei der Gründung des Sowjetstaates ein Wort für Stalin einzulegen, blieben erfolglos. Meine Gesprächspartner wollten ihm nicht ein Quäntchen Verdienst zubilligen, weder bei der Entwicklung von Schwer- und Schwerstindustrie noch bei der Kriegsführung noch beim Aufbau des Staates. Alles hätte sich ihm zuwider vollzogen, ihm zum Trotz. Ihre fehlende Objektivität war so sehr mit Händen zu greifen, dass sie in mir unwillkürlich den Wunsch weckte, Stalin zu verteidigen. Diese vollkommen fehlende Objektivität konnte nur mit jener verglichen werden, die dieselben Leute vermutlich zu Stalins Lebzeiten an den Tag gelegt hatten, als sie seinen Verstand, seinen Willen, seine Voraussicht, sein Genie verabsolutierten und in den Himmel hoben. Meiner Meinung nach haben die hysterische Vergötterung und die komplette und vorbehaltslose Schmähung Stalins ganz genau denselben Ursprung.

Wenn ich meinen Jerewaner Gesprächspartnern zuhörte, erkannte ich die Eigenschaften vieler meiner russischen Gesprächspartner wieder. Offensichtlich gehören zu den universellen menschlichen Charakterzügen, die allen Völkern gleichermaßen eigen sind, nicht nur Güte, Vernunft oder Hochherzigkeit. Opportunistische Rückgratlosigkeit ist auch eine menschliche Eigenschaft, man trifft sie im Norden und im Süden, bei Blonden und Brünetten, bei allen Völkern, Rassen und Stämmen.

Am Abend des 7. November 1961 bestieg ich mit zwei Jerewaner Bekannten den Berg des Stalin-Denkmals. Die Sonne ging unter. Wir saßen in einem Restaurant, betrachteten den rosigen Schneegipfel des Ararat. Das Gespräch drehte sich um Stalin. Wir bekamen schlechten, versalzenen Fisch serviert, vielleicht waren meine Gesprächspartner deshalb besonders gehässig.

Als es dunkel war, begann das Feuerwerk zum 44. Jahrestag der Oktoberrevolution. Meine Gesprächspartner setzten ihre Unterhaltung fort – zwei georgische Wörter kamen darin immer wieder vor, Soso und mama dsaghli,4 »Hurensohn« …

Ich ging in der Dunkelheit zum Stalin-Denkmal. Mir bot sich ein wahrhaft überwältigendes Bild. Am Fuße des Monuments standen in einem Halbkreis Dutzende von Artilleriegeschützen. Bei jeder Salve beleuchteten die Feuerstöße der Kanonen die umliegenden Berge, und die gigantische Figur Stalins trat jäh aus der Finsternis. Zu den Bronzefüßen des Herrschers ballte sich schimmernder, glühender Rauch. Es wirkte, als kommandierte der Generalissimus zum letzten Mal seine Artillerie – die Finsternis zerbarst krachend in Flammen, Hunderte Soldaten hantierten an den Geschützen, und von Neuem Stille und Finsternis, und wieder Kommandoworte, und jäh trat aus dem Gebirgsdunkel der grimmige Bronzegott im langen Mantel. Nein, was ihm gehört, das kann man ihm nicht mehr nehmen – er, der zahlreiche unmenschliche Gräueltaten verübt hat, war der unbarmherzige Erbauer und Lenker eines großen und schrecklichen Staates.

Nein, der Rang eines mama dsaghli ist ihm nicht gemäß. Ebenso wenig, wie der Titel des Vaters und Freundes aller Völker der Erde jemals zu ihm passte.

Mitarbeiter des Jerewaner Stadtkomitees der Partei haben erzählt, auf einer Kolchosversammlung in einem Dorf im Ararat-Tal sei vorgeschlagen worden, das Stalin-Denkmal zu demontieren. Die Bauern erklärten: Der Staat hat von uns hunderttausend Rubel bekommen, um das Denkmal aufzustellen. Jetzt will der Staat es zerstören. Bitte sehr, zerstört es, aber gebt uns unsere Hunderttausend wieder. Ein alter Mann aber schlug vor, das Denkmal herunterzunehmen und zu beerdigen, ohne es zu zerstören. »Es wird vielleicht noch mal gebraucht, wenn es eine neue Regierung gibt, und dann müssen wir unser Geld nicht schon wieder hergeben.«

Fürchterlich – das Eintreten für Stalins Staat kommt als Protest der Staatsführer gegen Stalin daher. Und der Geist der Revolte will sich durch das Eintreten für Stalin zeigen, einen der unmenschlichsten Übeltäter der Geschichte.

Im stillen Gebirgsort Zaghkadsor, sechzig Kilometer von Jerewan entfernt, trifft man um sieben Uhr abends keine Menschenseele auf der Straße. In Zaghkadsor gibt es einen stadtbekannten Irren, den fünfundsiebzigjährigen Andreas. Es heißt, er habe seinen Verstand während des türkischen Massenmords an den Armeniern verloren – seine Angehörigen wurden vor seinen Augen umgebracht. Es heißt weiter, Andreas habe als junger Mann in der russischen Armee gedient, unter dem Partisanen und russischen General Andranik Pascha,5 den die armenischen Bauern vergötterten und der später in den Vereinigten Staaten von Amerika gestorben ist. Vor einem Jahr verstarb Andreas’ Frau, eine Märtyrerin, die mit diesem Wahnsinnigen ihr ganzes Leben verbracht hatte. Zu ihren Lebzeiten schlug er sie, doch als die alte Frau gestorben war, ließ er nicht zu, dass man sie begrub – er umarmte sie, küsste sie, versuchte immer wieder, seine tote Freundin an den Tisch zu setzen, ihr zu essen zu geben. Niemand wagte es, sich dem wahnsinnigen Alten zu nähern, der den Tod seiner Frau nicht fassen konnte.

Heute lebt Andreas allein in dem kleinen Steinhaus; er besitzt zwei Schafe, sie sind von vertrauensvoller Liebe zu ihm erfüllt – sein Irrsinn, sein nächtlicher Gesang, seine Anfälle von Wut oder Verzweiflung, seine Tränen und sein Schweigen machen den Schafen nichts aus.

Wenn in Andreas’ Gegenwart der Name Andranik Pascha fällt, weint er. Vermutlich hat es seit Shakespeares Zeiten kein besseres Modell für den wahnsinnigen König Lear gegeben als Andreas. Mittelgroß, breitschultrig, etwas schwergewichtig (bestimmt hat er Ödeme), mit einer dicken abgerissenen Bauernjoppe, Schaffellmütze und einem langen Knotenstock, so wandert er mit seinem hoheitsvollen, aber auch traurigen aschgrauen Gang durch die steilen Gassen von Zaghkadsor. Auf dem großen Kopf wuchern...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2024
Übersetzer Christiane Körner
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Armenien • Autobiografie • Epos • Frieden • Genozid • Geschichte • Judentum • Krieg • Lew Tolstoi • Maxim Gorki • Michail Bulgakow • Nationalsozialismus • Sowjetunion • Stalingrad • Steppe • Tagebuch • Ukraine • Zensur
ISBN-10 3-8437-3242-6 / 3843732426
ISBN-13 978-3-8437-3242-0 / 9783843732420
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