Weit entfernte Väter (eBook)
224 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-28191-2 (ISBN)
Das kleine Mädchen Marina lügt gern und mit poetischer Hingabe. Ein Akt rebellischer Selbstbehauptung gegenüber einer Welt, in der es die strengen Regeln der Mutter gibt, um deren Liebe sie ringt, aber auch den glutäugigen Vater, der erst mittags aufsteht und sich an keinerlei Regeln zu halten scheint. Einer Welt, in der sie getauft und trotzdem jüdisch sein soll - wie ihr russischer Großvater, den die Mutter verachtet.
Marina Jarre erzählt von der Kindheit im multikulturellen Riga der 1930er Jahre. Vom jähen Bruch, als sie nach der Trennung der Eltern zu ihren Großeltern ins faschistische Italien kommt. Von der Aneignung einer neuen Sprache, in der sie zu ihrer Stimme und ihrer Wut findet, in der sie mit ihren Kindern spricht und sich von der Tochterrolle befreit, von der Wandlung der kleinen Lügnerin zur großen, wahrhaftigen Schriftstellerin.
Marina Jarre (1925-2016) wurde in Riga als Tochter eines lettisch-russisch-jüdischen Vaters und einer waldensisch-italienischen Mutter geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Lettland, bis sich ihre Eltern 1935 trennten und sie zu ihren Großeltern mütterlicherseits zog, die in einer französischsprachigen Waldenser-Gemeinde südwestlich von Turin lebten. Jarre gilt als eine der wichtigsten Stimmen der italienischen Literatur der Moderne. Mit Weit entfernte Väter kann diese außergewöhnliche Schriftstellerin endlich auch auf Deutsch entdeckt werden.
Der Lichtkreis
Meiner Schwester Sisi
Es gibt Tage, an denen ist der Himmel über Turin gewaltig. Tage sommerlicher Schwüle, wenn die Hitze von morgens an über dem Horizont liegt, auf der einen Seite über den Hügeln und auf der anderen über den Bergen. Im Morgengrauen rauschen die Bäume in weiten, laubigen Wogen, eine sachte und stete Bewegung, die über die ganze Stadt hingeht. Der Himmel ragt in mattem, gleichförmigem, wolkenlos gelblichem Grau und regt sich nicht. Unter diesem Himmel fliegen und zwitschern die Schwalben. Wenig später, gegen acht, schließen die immer sachter wogenden Bäume das Zwitschern in sich ein, bis ihre Bewegung verebbt, der Himmel sich blendend gelb färbt und das Geräusch der Autos die Straßen erfüllt.
Hin und wieder höre ich Gianni oder einen seiner Freunde über das Turin ihrer Kindheit und Jugend reden, als sie im »Italia« eislaufen gingen; hier führte die Fußgängerbrücke über die Gleise, dort lief man durch die Straße mit den Puffs oder durch die noch unbegradigte Via Roma entlang der alten Läden. Turin endete am Ospedale Mauriziano, dahinter lagen die Wiesen.
Beim Reden über dieses Turin klingen Gianni und seine Freunde kein bisschen betrübt, sie trauern nichts nach. Nur den Schienen der Tramlinie 8, die vor ein paar Jahren herausgerissen wurden, habe ich Gianni nachtrauern hören. »Die werden schon sehen«, sagte er grimmig, »wenn es kein Benzin mehr gibt!« Einmal, bei einem Spaziergang durch den Parco del Valentino, trauerte er auch der riesigen Araukarie im Botanischen Garten nach, deren gekappter Stamm als gigantischer, grauer Stumpf über die Mauer ragt.
Er redet von Menschen, und während er redet, zieht die Stadt sich zu einem engen Kreis zusammen, in dem jeder jeden kannte.
»Die hatte schon als Kind krumme Beine«, bemerkt er, als er eine Dame überholt.
»Kennst du sie?«
»Nein, aber wir sind zusammen zur Grundschule gegangen; sie war auch auf der Silvio Pellico.«
Er trauert dem Turin von früher nicht nach, überlege ich, weil er es nicht verloren hat. Er hat seine Kindheit nicht verloren.
Oft bin ich auf die Kindheit der anderen neidisch. Manchmal beneide ich ganz plötzlich sogar ein Kind im Kinderwagen oder eine junge Schwangere mit ihrem hübschen, anmutigen Babybauch. Der Neid wurzelt im altbekannten Unbehagen, dass ich nachfragen muss, dass ich ausgeschlossen bin, und in der Wehmut, die ich wiederum für das Turin von früher empfinde, aus dem, ganz nahtlos, das Kind im Kinderwagen und die anmutige junge Frau mit ihrem prächtigen Babybauch hervorgegangen sind.
Das Bedauern, das Gianni und seine Freunde offenbar nicht empfinden, speist sich eben aus dem, was ich nicht weiß, was ich nicht gesehen habe, aus Gerüchen, die ich nicht gerochen habe, aus der Existenz dieser Frau, die ich nicht gewesen bin.
Seit weit über dreißig Jahren lebe ich in Turin und kenne die neue Stadt, die sich ringförmig um den alten Kern ausgedehnt hat, in- und auswendig, sie ist mit mir erwachsen und alt geworden, die riesigen, von Mietskasernen lückenlos gesäumten Straßen im Süden und Westen; die neuen Einfamilienhäuser in den Wohnvierteln der Hügel, die nebligen, sich lichtenden Viertel an der Autobahn Richtung Mailand, wo es entlang der Straße nichts als Tankstellen zu geben scheint, und darüber nachtfunkelnde Leuchtreklamen.
Einmal verbrachte ich den Sommer in Turin mit einem Pflanzenbestimmungsbuch. Nachmittags um fünf verließ ich das Haus und wanderte an den Grünanlagen im Zentrum und im Viertel Crocetta entlang, besuchte die öffentlichen Parks und bestimmte anhand der Beschreibungen und Abbildungen im Buch die Bäume.
Der Sommerwind stob staubigen Papiermüll zur dichten Kuppel der Rosskastanien empor. Im Garten nebenan blühte ein Schnurbaum, auf den den kleinen Grünflächen in der Via Bertolotti verblühten die Seidenbäume. In den Giardini Lamarmora leuchteten die Blätter der Judasbäume, wenn sich die Abenddämmerung wegen der Gewitter, die jeden Sommer wie schwarze, sich mal im Norden, mal im Süden öffnende Schotten die Stadt umkreisen, bläulich färbte, dann also leuchteten die Blätter der Judasbäume in hellem, sattem, blau bestrahltem Grün.
Während ich mich umblickte — ist das wohl eine Flügelnuss oder ein Götterbaum? —, durchrieselten mich Schauder von Verbundenheit, die, obschon diffus und ungerichtet, denen galt, die, wie ich, des Sommers in Turins Straßen unterwegs waren.
Während ich die Orte Straße für Straße erwanderte, auf den von Staub, Papier, zerschmolzener Eiscreme, Kondomen, Spritzen und Hundekot verdreckten Gehsteigen, wurde die Straße selbst zu einem Ort, zum einzig möglichen, von den anderen Orten ununterscheidbaren Ort, und die Menschen auf dem Gehsteig und ich mit ihnen voneinander ununterscheidbar.
Neue Mietshäuser wuchsen an neuen schlammigen, endlos nackten Straßenzügen in die Höhe, verletzlich zunächst in ihrer versprengten Einsamkeit, dann eingehegt zwischen erdigen, mit mageren Bäumchen bepflanzten Inseln — Zürgelbäume? —, und plötzlich durchschnitten gerade Ahornreihen den großen Parkplatz zwischen dem Krankenhaus San Giovanni Vecchio und dem Palazzo della Borsa: willkürliche Veränderungen, anfällig für weitere abenteuerliche Wandlungen, durch unsichtbare Hand und über Nacht. Geschmackssache, die Telefonzellen, die genauso aussehen wie die Zeit-und-Raum-Transporter aus Science-Fiction-Filmen, dabei ganz klar als solche erkennbar, um ihrerseits die tägliche Notwendigkeit und Natürlichkeit solcher Teleportationen zu bezeugen.
Dies ist der namenlose Ort, anderen Orten gleich, und meine Zeit, der Zeit der anderen gleich. Ich werde nicht mehr fliehen.
Als ich mir als Kind vorstellte, von zu Hause fortzulaufen, war Italien das Land meiner Zuflucht. Italien, die Heimat meiner Mutter, wo es immer warm war und man lange Stunden im Garten verbrachte. Was machte da schon der Durchfall, der meine Sommerferien wegen des zu vielen, noch grün von den Bäumen gepflückten Obstes begleitete.
Meine Schwester und ich sind in Riga geboren.
Ein Foto von mir mit fünf Jahren: Das Haar zu zwei dicken Zöpfchen links und rechts neben dem kleinen Gesicht geflochten, gekleidet in das feine Kordsamtkleidchen, das, wie alle anderen, meine Mutter ausgesucht hat, und darüber die dünne Hausschürze, stehe ich neben dem Puppenhaus und halte mit einer Hand meine Babypuppe Willi fest, die auf dem flachen Dach neben dem Käfig des Kanarienvogels Pippo sitzt. Ich deute ein kleines, stures Lächeln an und blicke seitlich in die Ferne.
Mit dem gleichen verkappten Lächeln über dem störrischen kleinen Kinn und abermals mit abgewandtem Blick sitze ich auf einer anderen Fotografie neben meiner Mutter und meiner Schwester, die mit neugierig strahlenden Augen geradeaus schaut. Auf dem mir zugewandten Profil meiner Mutter liegt ein stolzes und gerührtes Lächeln. Im Augenwinkel hat sie zwei winzige Falten.
Mein Selbstbild ist mit den Ängsten verbunden, die ich hatte; meine Wahrnehmung der anderen mit dem Auftauchen meiner Schwester in meinem Leben.
Wir gehen in den Kaisergarten, ich habe die Hände auf die Stangen des Kinderwagens gelegt, in dem meine Schwester liegt. Ich glaube, ich schiebe ihn, und erinnere mich noch genau an das Funkeln der Stangen vor dem Gesicht. Hinter mir geht das Kindermädchen, und natürlich schiebt sie den Wagen. Aber ich denke: »Jetzt werden alle mich sehen und sagen, was für ein liebes Mädchen, das sein Schwesterchen spazieren fährt.« Wir treffen jemanden und bleiben stehen. Und dieser Jemand über mir sagt auf Deutsch: »Was für Augen die Kleine hat, wie zwei schwarze Pflaumen.« Sofort ist mir klar, dass es die Augen meiner Schwester sind, die wie zwei schwarze Pflaumen aussehen. Das Wort Pflaume hat einen unendlich sanften Klang. Und meine Mutter wiederholt diesen Klang, als das Kindermädchen ihr später davon erzählt.
In der Nacht träume ich, wie ich auf demselben Gehsteig über die Ahornblätter laufe; neben mir geht ein winzig kleines, weißliches, weiches Wesen. Ich zerquetsche es, und es zu zerquetschen, gibt mir ein gewaltiges Gefühl von Macht. Ich weiß, dass es »lebt« und dass ich es töten kann. Dass ich über es verfüge. Ein anderes Mal finde ich gleich mehrere davon auf einem Mäuerchen und...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2024 |
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Übersetzer | Verena von Koskull |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | I padri lontani |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Annie Ernaux • autofiktional • Coming-of-age • Elena Ferrante • Europa • Familie • Gastland Frankfurter Buchmesse • Italien • Italienische Literatur • Lettland • Mutter-Tochter-Beziehung • Natalia Ginzburg • Riga • Tove Ditlevsen • Wiederentdeckung |
ISBN-10 | 3-446-28191-6 / 3446281916 |
ISBN-13 | 978-3-446-28191-2 / 9783446281912 |
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