Nur nachts ist es hell (eBook)
464 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07539-9 (ISBN)
Elisabeth ist das jüngste der vier Brugger-Kinder. Im Ersten Weltkrieg arbeitet sie als Lazarettschwester, nach dem Krieg studiert sie Medizin. Sie heiratet den Sohn einer alteingesessenen Wiener Ärztefamilie, der versehrt von der Südfront zurückgekehrt ist. Die beiden führen gemeinsam eine Praxis. Elisabeth kann die Augen nicht verschließen vor dem Elend der Frauen, die in ihrer Verzweiflung eine Engelmacherin aufsuchen. Sie muss sich die Frage stellen, wie weit sie bereit ist zu gehen ... Eine besonders enge Beziehung hat sie zu ihrem Bruder Eugen, sie ist die Einzige, die von seiner Affäre mit der Frau seines Zwillingsbruders Carl weiß. Als Eugen eine Familie vor der SS versteckt, wird er selbst zum Gesuchten. War es Carl, der ihn verraten hat?
Judith W. Taschler, geboren 1970 in Linz, wuchs mit sechs Geschwistern, vielen Tieren und Büchern in einem großen, gelben Haus im Mühlviertel auf. Sie lebt heute in Innsbruck. Für ihren Bestseller 'Die Deutschlehrerin' erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis. 2022 erschien bei Zsolnay der Roman 'Über Carl reden wir morgen'.
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An meine ersten zwölf, dreizehn Jahre habe ich nicht viele Erinnerungen. Das Heimatdorf in der Provinz, unscheinbar, du kennst es, auch du bist dort aufgewachsen. Kann man das überhaupt sagen von einem Dorf: unscheinbar? Es war damals noch kleiner, als es heute ist, nicht einmal tausend Leute waren ansässig. Die weite Talsenke, durch die ein Bach fließt, umgeben nur von Wiesen und Wäldern, idyllisch. Das geräumige helle Haus mit der Holzveranda, komfortabel und gemütlich. Mein Vater selbst hatte es geplant, er hatte als junger Mann die Welt gesehen und wollte eine Bauweise, die sich abhob von anderen in der Gegend, er verabscheute winzige finstere Kammern. Von außen wirkte es wie eine trutzige schiefe Burg, weil das neue Haus direkt an die alte — niedrigere — Mühle angebaut worden war. Mein Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, konnte seiner Familie vieles bieten, mehr als es damals in einem kleinen Dorf üblich war. Mir fehlte es an nichts und außerdem wurde ich geliebt. Mein Elternhaus in diesem Tal — die Hofmühle —, abgelegen vom Dorf, war wie ein Kokon voller Fürsorge und Behaglichkeit für mich. Meine Brüder füllten den Kokon mit Temperament und Späßen, meine Mutter mit Sinn für das Schöne und mein Vater mit Wissensdrang.
Heute wird die Zeit, in der ich geboren wurde, in den Büchern als Belle Époque verklärt. Einmal las ich folgende Zeilen, deren ungefährer Wortlaut lautete: »Die Jahrzehnte ab 1880 waren nicht nur sicher und politisch friedvoll, es gab zudem Aufschwung und Neuerungen in vielen Bereichen, technologisch, in der Medizin, wirtschaftlich, gesellschaftlich, in den Künsten. Alles pulsierte, überall war eine schöpferische Kraft spürbar.«
Diese schöpferische, pulsierende Kraft konnte ich förmlich spüren. Mein Vater hatte eine Unmenge Zeitungen und Wissenschaftsmagazine abonniert, die er sorgfältig studierte, außerdem kam er viel herum. Er war interessiert und ein guter Erzähler, er berichtete gern von Gesehenem und Gelesenem. Ich hing an seinen Lippen. Durch ihn bekam ich mit, wie rasant sich die Welt veränderte.
Natürlich gab es die andere Seite der Medaille, ich sah sie als Kind nicht. Die Fabrikarbeiter in den Elendsvierteln, die einen Hungerlohn bekamen und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten, hätten diese Zeit rückblickend wohl kaum als »Schöne Epoche« bezeichnet. Damit wurde ich erst später konfrontiert, in Wien.
Ich erinnere mich daran, dass ich zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr manchmal an Angstzuständen und Albträumen litt. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von mir würde fehlen, als hätte jemand mit Gewalt meine zweite Hälfte von mir getrennt. Das Gefühl war körperlich und durchdringend. Mit sechs, sieben war ich überzeugt davon, eine Zwillingsschwester gehabt zu haben. Meine Mutter verneinte das. Ich fühlte mich einsam und war weinerlich, obwohl ich tagtäglich von vielen Leuten umgeben war, nicht nur von meiner Familie. Für den Haushalt hatten wir Personal, und auch die Angestellten des Kaufhauses gingen bei uns ein und aus. Ich kannte sie alle mit Vornamen, einige aßen sogar mit uns zu Mittag. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, mein Vater mochte das, meine Mutter machte der Trubel wahnsinnig. In den Nächten war ich unruhig und wachte oft schreiend auf, in meinen wirren Albträumen war ich alleine, regelrecht ausgesetzt fühlte ich mich. Ich war auf der Suche nach jemand Bestimmtem, wusste aber nicht, wer die Person sein sollte, die ich so verzweifelt gesucht hatte. Meine Mutter schlief deshalb oft bei mir. Erst im siebten Lebensjahr begann ich, allein in meinem Zimmer zu schlafen, ich zwang mich dazu, meine Ängste zu überwinden. Ich wollte meinem Vater gefallen.
Später dann, in meinem neunten, zehnten Lebensjahr, war ich trotzig, schnell erregt. Ein Zorn, von dem ich das Gefühl hatte, er würde mich innerlich zerreißen, überkam mich schnell, ich zwang mich jedes Mal, ihn zu unterdrücken, was mir meistens nicht gelang. Es reichte, wenn Gustav ein hänselndes Wort sagte oder mein Vater mich beim Essen ignorierte, um mich für Stunden todunglücklich und wütend zu machen. Mein Vater war wesentlich älter als meine Mutter; als ich zur Welt kam, war er bereits siebenundvierzig. In meiner Kindheit nahm er mich kaum wahr. Er, den ich vergötterte, und die Brüder, die ich bewunderte, bildeten eine Einheit, diese war unerreichbar für mich, und das machte mich rasend. Meine Mutter war überglücklich über die Geburt einer Tochter gewesen, zumindest wurde mir das so gesagt, sie selbst stritt es immer ab, vor allem, wenn Gustav dabei war. Sie verwöhnte mich, ich liebte sie und hing an ihr, aber ihre Welt erschien mir eng, die des Vaters hingegen aufregend. Ich war sozusagen der Augapfel der Mutter, der ständig aus den Augenwinkeln die Brüder beobachtete und den Vater belauschte.
Ich tat alles, um von ihm gesehen zu werden, und wünschte mir nicht nur, dass er mir Aufmerksamkeit schenkte, sondern auch Gutes von mir dachte. In seinen Augen zählten Wissbegierde, Neugier der Welt gegenüber, Mitgefühl für Menschen, mit denen es das Leben schlechter gemeint hatte. Also gab ich mich klug und interessiert. Ich begann viel zu lesen, zu lernen, und es beruhigte mich, eine Klarheit breitete sich in meinem Kopf aus. Es war, als würde ich meinen Verstand entdecken und Gefallen an ihm finden, oder er an mir. Meine Entwicklung nahm mein Vater mit Wohlwollen zur Kenntnis, und er entschied, dass ich weiter zur Schule gehen sollte. Aus diesem Grund kam ich mit dreizehn nach Wien.
An wenige Erlebnisse in meiner Kindheit erinnere ich mich ganz konkret.
War ich sechs oder sieben? Ich bin mir nicht sicher, in welchem Sommer es passierte, ich weiß nur, es war heiß und drückend, mehrere Wochen hintereinander regnete es nicht. Mir machten die Temperaturen nichts aus — auch heute nicht —, aber die Erwachsenen konnten nicht aufhören zu jammern und zu stöhnen. Verwandte meiner Mutter waren aus Wien zu Besuch, um der Hitze in der Großstadt zu entkommen. Ich betrat das Wohnzimmer, Sonnenlicht schien durch die Fenster und machte Staubkörner sichtbar, Cousin Wilhelm, sechs Jahre älter als ich, fläzte sich auf dem Sofa. Als ich bei ihm vorbeiging, zog er mich auf seinen Schoß. Niemand störte sich daran, auch ich nicht, es war nichts Ungewöhnliches, wenn der Cousin die kleine Cousine herzte. Er fing an, mich zwischen meinen Beinen zu reiben, und ich legte meine Hände auf seine Knie. Ein seltsam warmes Gefühl stellte sich ein, es war gedämpfte Erregung und gleichzeitig die Empfindung des Verbotenen. Nach einer Weile rutschte ich von seinem Schoß und ging weg. Ich habe sie nie vergessen, diese verstohlene Berührung im Vorübergehen, sie war meine erste sexuelle Erfahrung. Es war nicht traumatisch, es war neu, und die Neugier hinterließ einen deutlichen Eindruck in meinem Gedächtnis. Später wurde mir bewusst: Wäre ich nicht gegangen, wäre ich nicht imstande gewesen, meinen eigenen Willen zu behalten, hätte die Sache vielleicht eine durchaus unschöne Erinnerung hinterlassen. Ich muss also im Umgang mit anderen willensstark gewesen sein. Wie war ich noch als Kind? Ich war sehr empfindsam, ich glaube, ihr würdet heute sensibel dazu sagen, ich konnte Stimmungen von anderen gut wahrnehmen. Alles ging mir nahe, ohne dass ich es zeigen wollte. Ich war hoffnungslos ernsthaft, ohne die Distanz der Ironie oder die Begabung, meine Gefühle zu verbergen. Das kam alles erst später.
Das Zweite, woran ich mich gut erinnern kann, ist der Abschied von meinem Bruder Eugen. Er war zwanzig Jahre alt, als er nach Amerika ging, ich war zu dem Zeitpunkt acht.
Eugen war mir der Liebste von den Brüdern. Während Gustav mich aus Eifersucht hänselte und Carl — der ernste, verantwortungsvolle Carl — mich vor lauter Pflichten nicht wahrnahm, war Eugen der Einzige, der sich mit mir abgab. Natürlich nicht viel, es war nicht so, dass er sich täglich lange mit mir beschäftigte. Ich wuchs in einer Zeit auf, in der Kinder die Aufgabe der Mutter oder einer Angestellten waren und sich im Hintergrund zu halten hatten. Aber Eugen wandte sich bei den Mahlzeiten auch an mich, um mit mir zu plaudern, er interessierte sich für meine Spiele, er nahm mich mit auf Spaziergänge. Ja, es kann sein, dass ich ihn verkläre.
Eines Tages teilte er uns überraschend mit, dass er nach Amerika gehen werde, und da er — heimlich — bereits alles Notwendige dafür veranlasst hatte,...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Abtreibung • Bestseller • Deutschlehrerin • Erster Weltkrieg • Familie • Frauen • Liebe • Medizin • Nationalsozialismus • Pille • Über Carl reden wir morgen • Vertrauen • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-552-07539-9 / 3552075399 |
ISBN-13 | 978-3-552-07539-9 / 9783552075399 |
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