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Unser Ole (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31657-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
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Drei Frauen, die von ihren Müttern nicht geliebt wurden, ein kognitiv beeinträchtigter Junge, der sie verbindet, und ein unerwarteter Tod. Katja Lange-Müller gelingt mit diesem Kammerspiel ein literarisches Wunderwerk. Die einst bildschöne Ida ist alt und vom Leben, den Männern und sich selbst enttäuscht. Um nicht völlig zu verarmen, arbeitet sie gelegentlich als Model bei Seniorinnenmodenschauen. In einem Kaufhaus begegnet sie Elvira, die ihren Enkel Ole betreut, genauer: ihn abwechselnd schikaniert und verwöhnt. Als Ida ihre Wohnung verliert, lockt Elvira, die den Kontakt zu ihrer Tochter abgebrochen hat und doch nichts mehr fürchtet als die Einsamkeit, die Freundin in ihr Landhaus, denn sie braucht Hilfe mit dem unberechenbaren, spätpubertierenden Hünen Ole. Eines Morgens kommt es zu einem tragischen Ereignis, das Oles Mutter Manuela auf den Plan ruft. Sie hat ihren Sohn seit dessen erstem Lebensjahr nicht mehr gesehen. Während die Frauen einander misstrauisch umkreisen, entblättern sich ihre Familiengeschichten, ihre Biografien, ihre seelischen Verletzungen. Katja Lange-Müller ist einzigartig in der literarischen Kraft und Präzision, mit der sie Figuren vom Rande der Gesellschaft unterschiedliche Stimmen gibt. Dieser Roman schärft aufs Feinste unser Denken und Empfinden. Er erzählt von ablehnenden Müttern, von den Widersprüchen, aus denen sich eine Persönlichkeit zusammensetzt, von der heimlichen Sehnsucht nach Zuneigung und all den Lebenslügen, die so gelogen manchmal gar nicht sind.

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Ostberlin, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und im Aargau. 1986 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1995 den Alfred-Döblin-Preis für ihre zweiteilige Erzählung »Verfrühte Tierliebe«, 2002 den Preis des ZDF, des Senders 3sat und der Stadt Mainz, 2005 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2008 den Preis der LiteraTour Nord, den Gerty-Spies-Preis und den Wilhelm-Raabe-Preis. In den Jahren 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya Istanbul. 2017 erhielt sie den Günter-Grass-Preis, 2023 den Turmschreiberpreis der Stadt Deidesheim.

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Ostberlin, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und im Aargau. 1986 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1995 den Alfred-Döblin-Preis für ihre zweiteilige Erzählung »Verfrühte Tierliebe«, 2002 den Preis des ZDF, des Senders 3sat und der Stadt Mainz, 2005 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2008 den Preis der LiteraTour Nord, den Gerty-Spies-Preis und den Wilhelm-Raabe-Preis. In den Jahren 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya Istanbul. 2017 erhielt sie den Günter-Grass-Preis, 2023 den Turmschreiberpreis der Stadt Deidesheim.

III


Damit die Tür, die sich den verregneten Sommer und Herbst über verzogen hat, nicht ganz so laut knarren möge, legt Ida ihre zarten Hände um deren Klinke und hebt sie an; doch die Tür zu Elviras Nikolaushaus, wie sie ihr wohl letztes Domizil auch nach zwei Jahren noch bei sich nennt, knarrt trotzdem.

Ida, die sich ohne ihre Kontaktlinsen oder wenigstens ihre doofe Brille unsicherer fühlt, als sie es je zugeben würde, gähnt, reibt sich die Lider, blinzelt, bis die Konturen vor ihren kurzsichtigen Augen schärfer werden und sie zumindest den vorderen Bereich des verwilderten Gartens einigermaßen überblicken kann.

In ihrem lindgrünen Morgengewand und den lila Samtpantoffeln, die Elvira »schrecklich kitschig« findet, betritt sie die Schwelle.

Diese Pantöffelchen, denkt Ida auf ihre Füße schauend, waren vielleicht mal kitschig, aber teuer auch, und Ole hat die beiden Plüschbommeln, die ich so mochte, schon am Tag meiner Ankunft unter dem nunmehr gemeinsamen Dach von ihnen abgerissen und sich in die Ohren gesteckt.

Ida streckt und dehnt sich und hält ihren blondierten Lockenkopf hinaus ins Freie.

Ins Freie, warum sagt man so zum Draußen?, denkt sie und dann: Gott sei Dank muss ich diese grausam schwere Eichenholztür nicht gleich wieder schließen, denn heute ist ein herrlicher Tag, sonnig wie lange nicht und erstaunlich warm für die Jahreszeit. Aber Elvira wird darauf bestehen, dass ich ihn nutze, um endlich mal das abgefallene Laub zusammenzuharken und die Dahlien runterzuschneiden, wegen ihrer schwarz verfärbten Blütenköpfe, die schon im August nicht mehr weiß, gelb oder rosa waren, sondern braun und matschig herabhingen, als schämten sie sich.

»Igitt, nun sind sie vollends vergammelt«, hat Elvira ihr gestern zugerufen. »Machst du sie bitte weg, Ida?! Du weißt doch, ich kann mich nicht bücken. Mit Dahlien, das solltest du dir merken, ist es, wenn Sommer und Herbst derart verregnet waren, wie mit toten Fischen, die stinken auch zuerst am Kopf. Und vergrab die Strünke nicht in der Erde! Alles, was schimmelt, gehört auf den Komposthaufen.«

Das gesteppte lindgrüne Seidennegligé, ein Stück aus besseren Zeiten, unter dem Ida nackt ist, umfließt ihre schlanke Gestalt und glänzt in dem hellen Licht, so verführerisch, dass sie sich selbst umarmt, wie früher, als sie manchmal die ganze Welt umarmen wollte, nein, nicht die ganze, nur ihre.

Ida ist tatsächlich noch sehr gut beieinander; ihr Busen, aus dem nie ein Baby trank, wölbt sich straff über den Silikon-Implantaten, die, da sie nicht allzu mächtig sind, nach wie vor halten, was der Chirurg versprochen hatte; und ihren faltigen Hals kann sie gerade nicht sehen, ebenso wenig wie ihr Gesicht, das sie, sobald ihre in jüngster Zeit allerdings ziemlich spärlich fließenden Modeleinkünfte es erlauben, von Carla, der Dorfkosmetikerin, behandeln lässt. Elvira weiß nichts davon; die, befürchtet Ida, würde sie maßregeln, nach dem Motto: Wenn du dir solchen Luxus leistest, darfst du dich gerne auch an den Ausgaben für unseren Lebensunterhalt beteiligen.

Erst vorigen Montag wieder hat Carla Idas Gesicht »unglaublich frisch für das einer fast Achtzigjährigen« genannt, und als die daraufhin ihre Botox-glatte Stirn zu runzeln versuchte und doch nur weit aufgerissene Augen zustande brachte, fügte Carla, die gelegentlich betont, dass sie, bevor die Mauer fiel, Germanistik studiert habe, lächelnd hinzu, die Schönheit einer Frau mit solch prächtigen Genen sei eben unvergänglich.

Ida, die nicht »fast achtzig«, sondern gerade mal sechsundsiebzig ist, pflegt dieses Gesicht wie ein eigenständiges, kostbares Wesen, dessen Zustand ihr nie gleichgültig war. Aber mittlerweile, etwa wenn sie es morgens und abends im Spiegel betrachtet, sorgsam reinigt, eincremt und massiert, kommt es ihr fremd vor, beinahe ebenso fremdkörperartig wie ihre Brüste mit den beiden gefühlstauben, stark pigmentierten Mamillen, die während der Operation, die nun über dreißig Jahre zurückliegt, unter Vollnarkose abgetrennt und weiter oben wieder angenäht wurden und seitdem auf nichts mehr reagieren, sich nicht einmal mehr zusammenziehen, auch nicht bei Eiseskälte. Diese Nippel, das Wort Brustwarzen ist Ida von jeher zuwider, ähneln in ihren Augen – und andere als ihre schauen da eh nicht mehr hin – braunen Fingerhüten oder gebratenen Wurstzipfeln oder den Seepocken auf dem Buckel des gestrandeten Pottwals, den sie in einem Dokumentarfilm gesehen und der ihr wegen seiner hässlichen Parasiten sogar ein kleines bisschen leidgetan hat.

»Kapselfibrose, glücklicherweise nicht stark ausgeprägt«, meinte der Arzt, dem sie ihren Busen vor einiger Zeit präsentierte, weil er ihr manchmal Schmerzen bereitet.

»Bis auf die dunklen Nippel«, sagte sie, »gefällt er mir ja noch, er ist nur so fest geworden, und dann dieses Ziehen, wenn ich im Schlaf die Seite wechsle.«

»Stimmt, Ihre Brüste sind etwas unbeweglich, doch solange sich da nichts verformt, sollten Sie es lassen, wie es ist«, riet der Arzt, »auch wenn Sie diese vorsintflutlichen Silikonkissen schon eine halbe Ewigkeit mit sich herumtragen. Ansonsten gibt es nur zwei Optionen: rausnehmen oder austauschen. Das wäre eigentlich spätestens nach zwanzig Jahren fällig gewesen. Aber Sie sind nicht das einzige wandelnde Museum und neue, vielleicht kleinere Implantate und besonders die Entfernung des Narbengewebes, das sich wahrscheinlich gebildet hat, kosten heutzutage richtig viel Geld, und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht wieder zu Verhärtungen käme.«

 

Gesicht und Busen, denkt Ida, waren mein ganzes Kapital, und dann: Das stimmt ja gar nicht, oder höchstens für mein Gesicht. Den Busen verdanke ich einem verschwindend geringen Teil des Kapitals von Rudolf, der am letzten Abend unseres letzten gemeinsamen Urlaubs am Lago Maggiore zu mir sagte: »Ach, Ida, wenn ich dich umstülpen könnte wie einen deiner kalbsledernen Handschuhe und so dein Inneres nach außen kehren, glaubst du, dass noch irgendjemand auch nur einen Blick an dich verschwenden würde?!«

Ein folgenschwerer Satz, der Ida, sobald ihr Rudolf in den Sinn kommt, jedes Mal zuerst einfällt – und wortwörtlich; als er sie traf wie ein Fausthieb, hatte sie den Zenit ihrer Schönheit noch nicht überschritten und ein paar ehrliche Tränen vergossen, die Rudolf, ihren zweiten Langzeit-Sugardaddy, allerdings kein bisschen gerührt, nur bewirkt hatten, dass er seiner »Süßen« eines der gestärkten und gebügelten schneeweißen Damast-Taschentücher zuwarf, die er, wie er zu sagen pflegte, »stets am Mann« trug.

»Der Mensch, das sozialste der hochentwickelten Säugetiere«, heißt es im »Buch der 100 Weisheiten«, das Ida von ihrer Mutter geerbt hat, »erfährt sich grundsätzlich durch die Reaktionen seiner Artgenossen, und wie denen ein Mitmensch gefällt, bestimmt nicht allein dessen Erscheinungsbild.«

Aber meine Artgenossen, denkt sie, können ja nicht in mich hineinschauen, so wenig, wie ich in sie, so wenig, wie Rudolf mich umstülpen konnte. Und überhaupt: »Wie es drinnen aussieht, geht niemanden was an.«

Auch diesen Satz kennt Ida von ihrer die Ordnung und nur die Ordnung liebenden Mutter, die zu ihrem vier Jahre vor Kriegsende geborenen einzigen Kind eine durch nichts überbrückbare Distanz gewahrt hatte.

Vielleicht war sie einfach bloß neidisch. Ich wuchs, nachdem die harte Zeit des Niedergangs und der Bombenangriffe überstanden war, im Wirtschaftswunderland heran, nicht sonderlich behütet, doch immerhin friedlich, und wurde schon als kleines Mädchen viel mehr bewundert als jemals sie selbst. – Eine bessere Erklärung für das abweisende Verhalten ihrer Mutter ist Ida nie eingefallen.

Und ja, es lässt sich nicht bestreiten, Ida war einst bemerkenswert schön. Vor allem darum hatte sie, bis weit über das Klimakterium hinaus, nur auf die Blicke der Männer Wert gelegt, bewundernde, gierige, geile Blicke, die der Frauen, vergleichend prüfende, manchmal empörte, waren an ihr abgeperlt wie Wasser an einem eingeölten Bodybuilder. Und zu der Einsicht, dass es neben den schlichten, einigermaßen harmlosen Männern auch solche gab und gibt, deren Begehren in Zerstörungslust oder gar Zerstörungswut umschlägt, sobald das Objekt oder eben Subjekt ihres Verlangens erobert ist, kam sie erst, als ihr keiner von denen mehr Beachtung schenkte.

Und wenn ich es früher begriffen hätte?, denkt sie. Das hätte mir auch nicht aus der Klemme geholfen. Denn obwohl ich mich optisch nahezu perfekt fand, habe ich Fehler – ein Pickelchen etwa oder einen abgebrochenen Fingernagel oder eine misslungene Hochsteckfrisur – oder kleine Charakterschwächen, von denen ja niemand gänzlich frei ist, immer nur bei mir gesucht. Seltsam, ich war auf Fehler fixiert, auf jeden Fehler, nichts anderes als Fehler. – Ach, meine kleinen weiblichen Schwächen, mein Egoismus, meine Eitelkeiten und mein einziger Makel, die erst zu flachen, dann vielleicht zu üppigen Brüste, die hatten Schuld, die ließen Rudolf derart erkalten! – Oder doch nicht? Vielleicht waren es gar nicht meine Schwächen und Fehler und dieser eine Makel, der Busen, den ich mir womöglich nicht früh genug vergrößern ließ, sondern eher das, was Rudi, bis zum Tag X, an mir begeistert hatte, die »Rehaugen«, die »sinnlichen Lippen«, die »grandiosen Beine«. War er dieser »Reize«, wie er es nannte, überdrüssig geworden, als er plötzlich völlig verrücktspielte? Verrückter denn je, nur leider nicht mehr nach mir. Er begann, mich zu...

Erscheint lt. Verlag 5.9.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bindungsstörung • Böse Schafe • die Unbeugsamen • Familiäre Konflikte • Familiendrama • Frauentragödie • Mütterliche Ablehnung • Mutterrolle • Mutter-Tochter-Beziehung • Oma-Enkel-Beziehung • Seelische Verletzungen • Selbstlüge • soziale Isolation • Verlorenes Zuhause
ISBN-10 3-462-31657-5 / 3462316575
ISBN-13 978-3-462-31657-5 / 9783462316575
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