Der Morgen nach dem Regen (eBook)
431 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78134-9 (ISBN)
Johanna und ihre Tochter Elsa stehen sich schon lange nicht mehr nahe - Elsa hat nie überwunden, dass ihre Mutter früher beruflich viel unterwegs war und wenig Zeit für die Familie hatte. Viele Jahre später erbt Johanna das Haus ihrer Tante Toni am Rhein, wo sie und Elsa herrliche Sommer miteinander verbracht haben. Als Elsa sie dort besucht, stellen sie sich endlich der Vergangenheit - und Johanna offenbart ihrer Tochter ein
schwerwiegendes Geheimnis.
Ein bewegender Roman über die Zerrissenheit einer Frau zwischen der Leidenschaft für ihren Beruf und dem Bedürfnis, für ihre Familie da zu sein, über tief sitzenden Schmerz, Schuld und Versöhnung - vor großartigen internationalen Settings.
Die Deutschamerikanerin Melanie Levensohn wurde in Darmstadt geboren, studierte Politikwissenschaften und Literatur in Frankreich und Chile und erwarb ihr Diplom am Institut d'Études Politiques (Sciences Po) in Paris. Von 2001 bis 2006 war sie als Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation rund um die Welt im Einsatz, oft in Krisengebieten. Danach arbeitete sie viele Jahre als Pressereferentin bei der Weltbank in Washington, D.C. Seit 2021 lebt Melanie Levensohn mit ihrer Familie in der Schweiz. 2018 erschien ihr Debütroman<em> Zwischen uns ein ganzes Leben</em>, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
Johanna, Den Haag 2013
Den Mantel eng an mich gepresst, drückte ich mich auf einen freien Platz in der letzten Reihe. Hier hinten war gut. Hier blieb ich unbemerkt. Niemand würde meine Tränen sehen, falls sie kamen, und ich könnte während der Verhandlung kurz hinausgehen, ohne zu stören.
Der Raum war brechend voll, das versammelte Publikum mir von meinen früheren humanitären Einsätzen engstens vertraut. Journalisten vor aufgestellten Kameras, Diplomaten und Repräsentanten internationaler Organisationen in dunklen Anzügen, dazwischen Vertreter von NGOs in Jeans und Sweatshirt. Einen Augenblick lang dachte ich wehmütig an diese Zeit zurück. Als ich noch brannte für das, was ich tat. Als Julian noch da war und mein Leben voller Möglichkeiten.
Die Luft im Zuschauerraum war warm und von leisem Gemurmel erfüllt. Ich hörte Englisch, ein wenig Französisch und zwischendurch liberianisches Kreol. Jemand räusperte sich, irgendwo raschelte Papier.
Ich wusste nicht, was mich erwartete und wie ich darauf reagieren würde. Aber ich kannte mich. Das unruhige Klopfen zwischen meinen Rippen, die kalten Hände, das Ziehen im Bauch. Vorboten des Schmerzes, der tief in mir saß, wie ein Gefangener, jederzeit bereit auszubrechen.
Mein Blick wanderte zu der dicken Glaswand, die den Zuschauerbereich vom Verhandlungssaal trennte. Schusssicheres Panzerglas, hatte ich gelesen. Auch die dickste Wand würde mein Herz nicht schützen können.
Dahinter erstreckte sich der Gerichtssaal, ein riesiger, fensterloser Quader. Elsas Reich. Neonröhren erleuchteten das schlichte, sandfarbene Dekor. Alles wirkte weit weg, unwirklich. Die hohen Wände mit den Glasschlitzen, hinter denen sich die Dolmetscher auf einen langen Arbeitstag vorbereiteten; die erhöhte Tischreihe für die Richter; die beiden Fahnen mit dem Emblem des Gerichtshofes.
Nichts an der neutralbeigen Atmosphäre des Saals ließ die Brutalität der Worte vermuten, die hier in wenigen Minuten gesprochen werden würden. Fröstelnd presste ich die Arme fester an den weichen Stoff meines Mantels.
Einen solchen Fall habe es noch nie gegeben, hatte ich während der Taxifahrt hierher im Radio gehört. Es ging um die Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Liberia, aber das wusste ich natürlich. Zum ersten Mal stand ein ehemaliger Kindersoldat vor Gericht, zum ersten Mal umfasste ein Fall achtzig Anklagepunkte, und zum ersten Mal wurde jemand eines Verbrechens bezichtigt, das an ihm selbst begangen worden war: Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten.
Die Schlagzeilen über den Prozess waren wie wilde Hunde. Von überall her sprangen sie mich an. Aus den Kurznachrichten auf meinem iPhone, den Zeitungen im Frühstücksraum meines Hotels, dem Fernseher auf meinem Zimmer. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich ihnen nicht entkommen.
Ich wollte ihnen nicht entkommen. Nicht heute. Schließlich war ich wegen Elsa hier.
Elsas erster Prozess am Internationalen Strafgerichtshof, dachte ich bewegt, während ich meine kalten Finger aneinanderrieb. Jahrelang hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet. Und jahrelang hatte ich auf diesen Moment gewartet, auf die Chance, ihr wieder näherkommen zu dürfen.
Vor rund einem Monat rief sie mich aus heiterem Himmel an und bat mich, der Verhandlung beizuwohnen: »Niemand kennt die damaligen Zustände in Liberia so gut wie du, Mutter.«
Hinter ihrer Bitte steckte selbstverständlich ein anderer Grund. Sie wollte mir zeigen, was für eine gute Strafverteidigerin sie geworden war. Dass sie es geschafft hatte. Ich war stolz auf sie, dankbar für ihren Anruf. Nach einer langen Zeit, in der sie sich immer mehr von mir distanziert hatte, durfte ich endlich wieder an ihrem Leben teilhaben. In freudiger Erwartung, sie zu sehen, nahm ich mir ein paar Tage Urlaub und setzte mich ins Flugzeug nach Amsterdam. Wegen eines Termins in New York, der nicht zu verschieben war, konnte ich erst zum zweiten Verhandlungstag erscheinen. Aber das war nicht weiter schlimm, ich hatte die Eröffnung in den Medien mitverfolgt.
Die Begrüßung am Flughafen holte mich auf den Boden der Realität zurück. Kühl und förmlich trat Elsa mir entgegen, ihre Umarmung war steif, als begrüßte sie eine Fremde. Sie hatte abgenommen und sah müde aus. Ob sie genug aß? Ich versuchte, mir meine Sorge und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wollte ihr Zeit geben, sich wieder an mich zu gewöhnen.
Noch während wir auf den Ausgang zusteuerten, erklärte sie, dass sie ein Hotel für mich gebucht hatte. Ihre Wohnung sei zu klein, sie brauche ihren wenigen Platz, ihren Schlaf. Es störte mich nicht. Im Gegenteil, ich verstand ihre Ausflüchte, teilte ihre Angst vor der plötzlichen Nähe.
Ich wollte alles verstehen. Alles richtig machen. Und trotzdem konnte ich mich nicht mit ihrer Rolle als Strafverteidigerin abfinden. Schon während des Fluges hatte ich an nichts anderes gedacht. Meine Tochter verteidigte einen Menschen, der Mord, Sklaverei und Vergewaltigung zu verantworten hatte. Das war ihr Job als Strafverteidigerin, als Teil eines funktionierenden Rechtsstaats, und in jedem anderen Fall hätte ich das unbedingt befürwortet.
Aber es ging um Liberia. Mit diesem Land verband ich zutiefst Persönliches, das ich mit niemandem teilen konnte, vor allem nicht mit Elsa. Bilder, die mich verfolgten, und eine Schuld, so groß und unvorstellbar, dass ich fast daran zerbrochen wäre.
»Vergiss nicht, dass mein Mandant selbst als Kind entführt und versklavt worden ist«, betonte Elsa während der Zugfahrt von Amsterdam nach Den Haag, als ahnte sie, was in mir vorging.
Sie war davon überzeugt, dass der Angeklagte nicht bestraft werden durfte für Taten, deren Opfer er selbst gewesen war.
Ich sagte nichts dazu, versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es hinzunehmen.
Ich hatte nur meine Erinnerungen. Elsa hingegen hatte sich monatelang intensiv mit dem Fall beschäftigt und besaß Informationen, über die sie nicht sprechen durfte. »Er hat nur das getan, wozu man ihn gezwungen hat.«
So war sie eben – unvoreingenommen und empathisch. Jede Seite habe ein Recht, gehört zu werden, sagte sie immer. Sie dafür zu kritisieren, stand mir nicht zu. Es war ihr Leben. Ihre Karriere. Es war richtig. Und dennoch …
Die Frau neben mir fingerte an der Spracheinstellung ihres Kopfhörers herum. Plötzlich sprangen zwei junge Männer, die in der ersten Stuhlreihe gesessen hatten, auf und schlugen mit den Fäusten gegen das Panzerglas. »Massenmörder«, rief der Größere von ihnen, »Sklavenhalter«, der andere. Ihr Protest dauerte nur wenige Augenblicke, dann erschienen bewaffnete Sicherheitsmitarbeiter und geleiteten die Männer nach draußen.
Unter uns und für die Zuschauer nicht sichtbar saßen die Zeugen, wusste ich von Elsa. Eine Schutzmaßnahme, denn nur so konnte ihre Anonymität gewahrt werden.
Als die roten Leuchtziffern der digitalen Wanduhr auf 9:00 umsprangen, begann der Großbildschirm, der schräg neben der Panzerglaswand hing, zu flimmern. Im Gerichtssaal öffnete sich eine Seitentür, Kläger und Verteidiger schritten in den Raum, um ihre Plätze einzunehmen. Die Kläger links, das Verteidigungsteam mit Elsa auf der rechten Seite.
Ich hatte nur Augen für meine Tochter. Wie schön sie war, in ihrer schwarzen Amtstracht mit dem weißen Jabot. Selbstsicher und stolz, in ihrem Gesicht keine Spur von Nervosität. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
»All rise, veuillez vous lever«, rief der Saaldiener in sein Mikrofon. Elsa und die anderen erhoben sich. Aus den Lautsprechern im Zuschauerraum drang das scharrende Geräusch sich verschiebender Stühle.
Mit wehenden Roben betraten die Richter den Verhandlungssaal. Mein Blick sprang zwischen der Nahaufnahme auf dem Bildschirm und dem Gesamtbild, das sich hinter der Glaswand abspielte, hin und her. Ich musterte den Angeklagten, der leicht...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • BBC • Beruf und Familie • Bücher Neuererscheinung • Burnout • Den Haag • Deutsche Provinz • Familienporträt • geheime Liebe • Haager Tribunal • Internationaler Strafgerichtshof • Israel • Jerusalem • kind und karriere • Kriegsreporter • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Liberia • Mittelrhein • Mutterschaft • Mutter-Tocher-Geschichte • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • New York • Rhein • Rhein und Nebenflüsse • Sankt Goar • Vereinbarkeit • Work-Life-Balance • Zwischen uns ein ganzes Leben |
ISBN-10 | 3-458-78134-X / 345878134X |
ISBN-13 | 978-3-458-78134-9 / 9783458781349 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich