Die Wildblütentochter (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3275-8 (ISBN)
Tessa Collins ist das Pseudonym der deutschen Autorin Silke Ziegler. Sie lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Wenn sie nicht auf Reisen ist, schreibt sie sich ihre Traumländer herbei oder verbringt Zeit in der Natur.
Tessa Collins ist das Pseudonym der deutschen Autorin Silke Ziegler. Sie lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Wenn sie nicht auf Reisen ist, schreibt sie sich ihre Traumländer herbei oder verbringt Zeit in der Natur.
Prolog
Island
1951
Sigrún ließ ihren Blick über die weite Landschaft schweifen. Moose und Flechten bedeckten den Boden rund um ihren Hof, der südlich der Kleinstadt Akureyri lag. Ursprünglich hatte er Ingvars Eltern gehört, doch sein Vater war vor drei Jahren ganz überraschend gestorben, als er mit den Nachbarn der Umgebung die Schafe zusammentreiben wollte.
Die Männer waren mit den Pferden im unwegsamen Gelände unterwegs gewesen, weil sie dort einen Teil der Tiere vermuteten. Innerhalb von wenigen Stunden war ein fürchterlicher Schneesturm aufgekommen, bei dem Ingvars Vater und ein weiterer Mann ums Leben gekommen waren. Sie wurden erst zwei Tage später gefunden, nachdem das Schneetreiben sich etwas beruhigt hatte. Ingvars Mutter Arna war zusammengebrochen, als die Männer ihr die traurige Nachricht überbracht hatten, und hatte sich kaum noch beruhigen lassen. Ingvar, der mitgeholfen hatte, seinen Vater zu suchen, war wie erstarrt gewesen, als ihn die traurige Gewissheit erreichte. Sigrúns und Ingvars Tochter Ylfa war damals noch nicht auf der Welt gewesen und hatte ihren Großvater daher nie kennengelernt. Die älteren Zwillinge Einar und Fannar hingegen hatten instinktiv gespürt, dass ihre Eltern und ihre Großmutter von einer lähmenden Traurigkeit übermannt worden waren. Sie hatten bitterlich zu weinen begonnen, als Sigrún ihnen versuchte zu erklären, was geschehen war. Ihr Schwiegervater war nicht das erste Opfer der unbändigen und wilden Natur Islands. Fast jede Familie, die Sigrún kannte, hatte Angehörige an das raue Meer verloren. Und wenn es nicht die See gewesen war, die die Männer für immer verschluckte, so forderten Vulkanausbrüche, Schneestürme, Erdrutsche oder andere Launen der Natur ihren Tribut. Der Tod gehörte zum Leben dazu, mit diesem Wissen war sie aufgewachsen.
In diesem Moment drang aus der Stube Ylfas Schreien herüber. Hastig wandte Sigrún ihren Blick vom Fenster ab, nahm den Topf vom Herd, in dem sie gerade Kartoffeln kochte, und verdrängte die traurigen Gedanken. Sie trocknete die Hände an ihrer Schürze ab und eilte in die Stube hinüber, wo das prasselnde Feuer des Holzofens den Raum erwärmte. Ylfa lag in ihrem Bettchen und reckte ihrer Mutter die dünnen Ärmchen entgegen. Sigrún beugte sich lächelnd über sie und strich zärtlich über Ylfas glatte und rosige Wangen. »Hast du schon wieder Hunger, mein Schatz?«
Ylfas Brüder tollten irgendwo draußen auf dem Hof herum. Ingvar hatte sie gebeten, in seiner Abwesenheit nach den Schafen zu sehen, die den langen Winter über im Stall einquartiert waren. Sigrún nahm Ylfa hoch und drückte das Kind eng an ihren Oberkörper. Augenblicklich verstummte das Weinen. Sigrún hauchte ihrer Tochter einen Kuss aufs blonde Haar und genoss für einen Moment die innige Nähe zwischen ihnen. Viel zu selten war neben der vielen Arbeit Zeit zum Innehalten.
Ingvar war mit einigen Nachbarn in der Stadt unterwegs. Da es bereits seit Stunden schneite, begann Sigrún, sich Sorgen zu machen. Seit Kurzem hatte der Nachbar ein neues Auto, mit dem er Ingvar nach Akureyri mitgenommen hatte. Und auch wenn ihr Mann ihr immer wieder versicherte, dass die Fahrt mit dem Wagen wesentlich sicherer sei, als mit den Pferden in die Stadt zu reiten, hatte er ihre Zweifel an dem neumodischen Fortbewegungsmittel nicht restlos zerstreuen können. Nur wenige Bewohner im Norden der Insel besaßen eigene Fahrzeuge. Sigrún und ihr Mann hatten nicht das Geld, um sich eins kaufen zu können. Sie waren froh, wenn sie mit den Kindern über die Runden kamen. Die beiden Jungen wuchsen schneller, als es Sigrún lieb war, und ständig waren die Hosen und Pullover zu klein. Trotz der schier endlos langen Nächte, in denen sie keinen anderen Tätigkeiten nachgehen konnte, kam Sigrún kaum mit dem Stricken hinterher. Gerade gestern hatte sie einen weiteren wärmenden Pullover für Fannar fertiggestellt. Als Nächstes war eine Strickjacke für Einar an der Reihe.
Ylfa fielen langsam die Augen zu, doch Sigrún wagte nicht, ihre Tochter zurück ins Bettchen zu legen. Stattdessen trat sie mit ihr ans Stubenfenster und sah in die Dämmerung hinaus. Vor dem Schafstall entdeckte sie Einar, der vorsichtig um die Ecke linste. Wahrscheinlich spielte er mit seinem Bruder Verstecken.
Plötzlich überkam Sigrún eine tiefe Trauer. Sie trat einen Schritt zurück und schloss kurz die Augen. Auf keinen Fall durfte sie sich dieser immer wieder aufwallenden Verzweiflung hingeben. Sie setzte sich mit Ylfa in den Sessel, in dem ihr Schwiegervater Jahrzehnte seines Lebens verbracht hatte. Der hellbraune Stoff war abgeschabt und fleckig, doch das gemütliche Möbelstück verströmte einen Hauch von Beständigkeit. Es hatte schon immer an dieser Stelle neben dem Fenster gestanden, und es würde auch zukünftig dort stehen. Sigrún schob den Sessel etwas näher an den Ofen. Dann betrachtete sie ihre Tochter, die die kleinen Finger zu Fäusten geballt hatte und im Schlaf zufrieden vor sich hin schmatzte.
Sigrún fragte sich, ob sie undankbar war. In ihrer Jugend hatte sie doch immer davon geträumt, einen eigenen Hof zu besitzen, eine Familie zu gründen, Mutter zu sein. All ihre Wünsche hatten sich in den letzten Jahren erfüllt. Ihre Schwiegermutter war nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes zu ihrem jüngeren Sohn in den Osten der Insel gezogen. Sigrún und Ingvar hatten ihr mehrfach angeboten, bei ihnen zu bleiben, wenn Ingvar als ältester Sohn das Erbe seines Vaters übernahm, doch Arna hatte darauf beharrt, dass sie nicht hier wohnen bleiben könne, wo jeder Winkel und jeder Stein sie an ihren verstorbenen Mann denken ließ.
Weder Ingvar noch seine Mutter hatten geahnt, wie gut Sigrún das nachempfinden konnte. Denn auch ihre eigenen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten hingen wie dichter Nebel über den Weiten dieser Landschaft. Wenn sie nach Akureyri kam, gelang es Sigrún nicht, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Und auf dem Hof ihrer Eltern spürte sie die Trauer, die förmlich in den Wänden hing. Überall lauerten die Erinnerungen darauf, Sigrúns Gefühle erneut durcheinanderzuwirbeln.
Sie legte den Kopf zurück und versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie hatte drei gesunde Kinder, einen wunderbaren Mann, den sie liebte und achtete. Sigrún kannte Ingvar schon seit ihrer Kindheit, und er war schon immer sehr schweigsam gewesen. Sie war ein Stück entfernt auf dem Hof ihrer Eltern aufgewachsen, zusammen mit zwei Schwestern, die mittlerweile ebenfalls verheiratet waren. Vilborg, die Jüngste von ihnen, lebte mit ihrem Mann, einem Fischer, in den Westfjorden, während Steinunn, die Mittlere der drei Schwestern, einen Lehrer kennengelernt hatte und mit ihm in die Hauptstadt gezogen war, wo sie nun in einem Krankenhaus arbeitete. Sigrúns Eltern litten sehr unter der Aussicht, dass keine ihrer Töchter den elterlichen Hof übernehmen würde. Doch wegen der Entfernung zwischen den beiden großen Anwesen konnten sich Sigrún und Ingvar unmöglich um beide Höfe kümmern. Wenn Sigrúns Eltern nicht mehr lebten, würden die Gebäude höchstwahrscheinlich sich selbst und der Natur überlassen werden und mit der Zeit unweigerlich verfallen.
Das war nichts Ungewöhnliches. Überall auf Island standen Bauernhöfe leer, denn die jungen Leute zog es nach Reykjavík. Viele aus Sigrúns Generation wollten nicht auf dem Land versauern, wo es kaum etwas anderes gab als Schafzucht oder Fischfang. Sigrún hingegen mochte schon als Kind das einfache Leben auf dem Hof. In ihrer Jugend dann hatte sie große Träume gehabt und für eine kurze Zeit tatsächlich gedacht, die ganze Welt stünde ihr offen. Doch in den letzten Jahren war ihr bewusst geworden, dass sie nicht für Größeres gemacht war. Ihre Eltern waren Bauern, ebenso wie ihre Großeltern und deren Eltern. Ihr Platz war in Island, mit Ingvar und ihren Kindern.
Sigrún seufzte. Nachdenklich sah sie sich in der Stube um, betrachtete das alte verblichene Sofa, das sie von Freunden geschenkt bekommen hatten, musterte den dunklen Eichenschrank neben der Küchentür. Über dem kleinen Esstisch hing eine Fotografie von ihrer Hochzeit, auf der Sigrún eine isländische Tracht und Ingvar einen schwarzen Anzug trug. Dieser Tag lag schon so lang zurück. Seit ihrer Heirat redete Ingvar noch weniger mit ihr als früher. Darüber war Sigrún nicht immer unglücklich, denn manchmal war Schweigen besser für alle.
In den langen dunklen Winternächten saß Sigrún am Ofen und strickte. Während ihre Finger Masche an Masche reihten, lief in ihrem Kopf wieder und wieder der gleiche Film ab. Niemand außer ihr selbst wusste von ihrer Vergangenheit. Oder zumindest kannte niemand die ganze Geschichte. Nach all den Jahren konnte Sigrún endlich mit Dankbarkeit an die lang zurückliegenden Ereignisse zurückdenken. Keiner konnte ihr die süßen Erinnerungen nehmen.
Sie legte eine Hand aufs Herz. Während Ylfa leise atmete, erlaubte Sigrún sich einen kurzen Moment des Innehaltens. Draußen riefen ihre Söhne irgendetwas, doch sie wollte sich diesen Augenblick nicht nehmen lassen. Zu intensiv...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2024 |
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Reihe/Serie | Die Blumentöchter |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • 2 Zeitebenen • 5 Bände • 5 kontinente • 7 Schwestern • Atlas • Bestseller 2024 • Bestsellerreihe • Cornwall • Cousinen • dramatisch • Erbe • exotisch • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familienroman • Frauenunterhaltung • Geheimnis • Großmutter Enkelin • Island • Lucinda Riley • pa salt • Saga • Soraya Lane • spiegel bestseller • Töchter • Vergangenheit • Verlorene Tochter |
ISBN-10 | 3-8437-3275-2 / 3843732752 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3275-8 / 9783843732758 |
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