Das elfte Manuskript (eBook)
480 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-209-5 (ISBN)
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
III
Die Neue
Ebba Braut hatte noch nie so einen faszinierenden Kriminalroman gelesen.
Nachdem sie am Vortag den Ausdruck überflogen hatte, hatte sie die halbe Nacht dagesessen und alles noch einmal gelesen. Gründlich.
So vertieft war sie gewesen, und so müde war sie jetzt, dass sie die dramatische Pressekonferenz der Regierung am Vortag total vergessen hatte. Lockdown. Pandemie. Obwohl die Stadt ungewöhnlich still gewirkt hatte, als sie die wenigen Hundert Meter von ihrer kleinen Wohnung in Sankthanshaugen zu Fuß zum Verlag gegangen war, fiel ihr die Sache mit dem Homeoffice erst wieder ein, als sie neben der alten Deichmanske Bibliotek stand und an der prachtvollen Eingangspartie hochschaute.
Das Verlagshaus Storkhøj, zweifelsohne Norwegens größter Verlag, hatte das vernachlässigte Gebäude 2015 gekauft, als die Zentralbibliothek nach Bjørvika verlegt worden war. Die Instandsetzungsarbeiten sollten anderthalb Jahre in Anspruch nehmen und zweihundert Millionen Kronen kosten. Am Ende kostete es so viel, dass die Eigentümer den Betrag nicht nennen wollten, und die Arbeiten hatten das vierte Jahr erreicht, als die über vierhundert Angestellten endlich das Haus in Beschlag nehmen konnten. Und wenn sich Kauf und Renovierung einer heruntergekommenen Zentralbibliothek in den nächsten hundert Jahren vielleicht nicht amortisieren würden, so waren jedenfalls die Räumlichkeiten von Storkhøj zu Europas schönstem Verlagsgebäude gekürt worden, als endlich alles und alle ihren Platz gefunden hatten.
Ebba Braut liebte das Gebäude, aber mehr noch die Vorstellung, dass das hier wirklich ihr Arbeitsplatz war.
Sie hielt inne und betrachtete die polierten Stahlbuchstaben an der Querwand des nach Südosten gelegenen Nebengebäudes. Die Buchstaben wurden von hinten angeleuchtet. Es war früh am Morgen, und vielleicht hatte sie deshalb nicht auf die Stille in den Straßen geachtet und wurde überrumpelt von der Mitteilung, die ihr zuteilwurde, als sie am Eingang auf einen Wachmann in Signalweste stieß.
»Homeoffice«, sagte er schroff, als sie die Treppe ansteuerte.
»Huch?«
Ebba Braut zuckte zusammen und legte den Kopf schief.
»Das hatte ich total vergessen.«
Sie hatte den Mann noch nie gesehen. Er musterte sie skeptisch.
»Man kann ja wohl kaum vergessen, dass Norwegen geschlossen ist.«
»Doch«, sagte sie. »Ich kann, wirklich. Ich habe die ganze Nacht ein Manuskript gelesen. Kann ich kurz reingehen und ein paar Sachen holen, die ich brauche? Computer und so was? Ich habe nur eine winzige Wohnung und kein …«
»Und was ist das da?«, unterbrach er sie und zeigte auf ihre Umhängetasche, aus der ein Laptop herauslugte. In ihrer Eile hatte sie ihn nicht ordentlich verstaut, ehe sie von zu Hause aufgebrochen war.
»Das ist mein privater. Und wenn ich von zu Hause aus arbeiten soll, brauche ich einen, der mit dem Server hier verbunden ist.«
Ebba Braut zeigte mit der ganzen Hand auf das Nebengebäude, als ob sich dort Storkhøjs Computerzentrale befände.
Der Mann warf einen Blick auf seinen blauen Klemmblock.
»Wie heißen Sie?«
Ebba antwortete.
Ein faszinierend schmaler Zeigefinger huschte über die Listen. Jedes Mal, wenn er umblättern musste, leckte er den Finger an. Diese Angewohnheit wird er während der Pandemie wohl ablegen müssen, dachte Ebba, sagte jedoch nichts. Stattdessen lächelte sie strahlend und freundlich.
Das half. Jedenfalls ließ er sie durch, unter der Bedingung, dass sie nicht länger als eine halbe Stunde brauchte. Ebba versprach, es schneller zu schaffen, und betrat das Gebäude.
In dem großen Verlagshaus war es noch nie so still gewesen. Sogar das Directional Sound System gleich neben dem Eingang war ausgeschaltet. Die Stimmen, die sonst die Gäste vom Deckengewölbe her mit Zitaten willkommen hießen, wurden jede Woche ausgetauscht. An den letzten vier Tagen hatte der erfolgreichste Lyriker des Verlags Gedichte vorgetragen für alle, die das Haus betraten. Die meisten konnten der lebensmüden, klagenden Stimme nicht widerstehen und lauschten eine Weile, ehe sie weitergingen. Bisweilen war es schwierig gewesen, hereinzukommen, weil zu viele Menschen zuhören wollten.
Damit war jetzt ebenfalls Schluss.
Überhaupt hatte sich die Welt gewaltig verändert. Ebba Braut bog nach links ab und ging in den ersten Stock hoch. Die Abteilung für norwegische Belletristik verfügte in diesem Gang über neun Büroräume. Ihrer war der kleinste, was befremdlich erscheinen mochte, da sie ihn von der angesehensten und erfahrensten Lektorin des Verlags geerbt hatte. Aber das spielte keine Rolle. Ebba kam sehr gut zurecht damit, solange genügend Platz für ein Bücherregal, einen Schreibtisch und einen einigermaßen bequemen Sessel war. Und für alle Pflanzen und kleinen Dinge, mit denen sie ihr Büro wohnlich gestaltet hatte.
Ein bisschen überfüllt vielleicht, aber es war immerhin ihr Büro.
Ein eigenes Büro ganz für sich allein und mit abschließbarer Tür, das hatte sie noch nie gehabt.
Der Raum ganz hinten, das Eckzimmer mit Blick auf den vom Abriss bedrohten Y-Block, gehörte Marion Kovig. Sie war die Programmleiterin der Belletristik und wurde selten anders genannt als die »Chefin«. Ob das liebevoll gemeint war oder ob damit auf subtile Weise angedeutet werden sollte, sie sei autoritär, wusste Ebba Braut noch nicht. Die Chefin hatte jedenfalls die Sache mit dem Homeoffice offenbar ebenfalls vergessen, denn sie stand vor ihrer eigenen Bürotür, die Hand auf der Klinke, und starrte die Wand an, als ob sie versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern. Als Ebba ihr Büro betreten wollte, schaute die andere Frau nach links, und ihre Blicke trafen sich.
»Du hier? Jetzt?«
Die Stimme der Chefin war freundlich, aber Ebba spürte, wie ihr Pulsschlag beschleunigte. Bisher hatte sie erst zwei Mal mit Marion Kovig gesprochen. Das erste Mal vor drei Monaten, bei ihrem Bewerbungsgespräch. Damals musste Ebba Braut einen guten Eindruck gemacht haben, denn sie wurde eingestellt, obwohl es noch hundertzweiundfünfzig weitere Bewerbungen gegeben hatte. Trotz ihres jungen Alters und ihrer ungewöhnlichen Ausbildung.
Zum zweiten Mal waren sie einander am vergangenen Montag begegnet. Das war Ebbas erster Arbeitstag im Verlag gewesen, und Marion Kovig hatte sehr viel weniger entgegenkommend gewirkt. Sie hatte etwas Abwesendes gehabt, als sie gegen Mittag in dem winzigen Büroraum aufgetaucht war, um die neue Mitarbeiterin willkommen zu heißen. Ihr Blick hinter der Brille mit den getönten Gläsern war unstet gewesen. Ebba hatte die Frage gegoogelt, warum jemand sich dafür entscheiden könnte, die Welt in gelbem Licht zu sehen, war aber nicht viel klüger geworden; immerhin hatte sie erfahren, dass auch Jo Nesbø und Bono auf diesen wenig beschriebenen Effekt schworen.
Es wirkte fast, als bereue Marion Kovig, Ebba angestellt zu haben, und müsse sich nun aufgrund der unbeugsamen norwegischen Arbeitnehmerrechte damit abfinden.
»Ich hatte den Lockdown total vergessen«, sagte Ebba verlegen. »Aber ich brauche noch … ein paar Sachen von hier. Den Rechner und so weiter. Und meine Manuskripte.«
Die Chefin fuhr sich mit der Hand durch die halblangen kupferroten Haare und drückte die Klinke herunter. Mit einem kurzen Nicken wollte sie in ihr Büro verschwinden, als Ebba sich ein Herz fasste:
»Das unterste Manuskript ist wirklich vielversprechend«, sagte sie laut und schluckte.
»Das unterste?«
Sogar hier auf dem halbdunklen Gang konnte Ebba sehen, dass sich die Augenbrauen der Chefin hinter den großen gelben Brillengläsern ein wenig hoben. Ob das aus Interesse war oder aus Verärgerung, war unmöglich zu erkennen.
»Ja. Im Stapel, meine ich. In dem Berg von unverlangt eingereichten Manuskripten. Der Rest ist eigentlich nicht der Rede wert, aber das hier …«
Eifrig begann sie, in ihrer umfangreichen Schultertasche zu wühlen. Sie bekam einen dicken Papierstoß zu fassen und zog ihn heraus.
»Ein Kriminalroman«, sagte sie zaghaft. »Etwas ganz Besonderes. Frisch und unverbraucht, aber auf altmodische Weise, könnte man sagen. Fast ein wenig …« Sie suchte nach einem passenden Wort. Die Chefin stand noch immer mit einem Fuß auf der Türschwelle.
»… britisch«, beendete Ebba ihren Satz. »Ein bisschen wie die großen Britinnen. Wie P.D. James zum Beispiel. Es ist sogar ein Polizeiroman. Eine ziemlich langsame, breit angelegte Erzählung, mit einer komplexen Handlung. Spannende Hauptpersonen, kaum Schilderungen von Gewalt. Eine in vieler Hinsicht ziemlich …«
Abermals wägte sie ihre Wortwahl ab.
»… graue Geschichte. Alltäglich, aber brutal. Roh, aber leise. Für einen Erstling wirkt das Manuskript erstaunlich reif.«
»Hm.«
Marion Kovig ließ ihre Bürotür los und kam mit ausgestreckter rechter Hand auf Ebba zu.
»Gute Krimis interessieren uns immer«, sagte sie. »Autorin oder Autor?«
»Es ist eine Frau. Aus dem Begleitschreiben geht hervor, dass sie früher selbst bei der Polizei war und …«
»Früher? Wie alt ist sie denn?«
Eine vage Skepsis war in der Stimme der Chefin aufgetaucht. Sie hielt inne und ließ ihre Hand sinken, als wäre ihr plötzlich eingefallen, dass man Abstand...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Reihe/Serie | Hanne-Wilhelmsen-Reihe |
Übersetzer | Gabriele Haefs |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestsellerautorin • Bestsellerserie • Frau ohne Gesicht • Gebirge • Hanne Wilhelmsen • Rollstuhl • Scandicrime • Skandinavien • Verlagswelt • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-03792-209-5 / 3037922095 |
ISBN-13 | 978-3-03792-209-5 / 9783037922095 |
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