Die große Versuchung (eBook)
304 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78052-7 (ISBN)
Mario Vargas Llosa hat ein spätes Meisterwerk geschrieben, in dem er seine Lebensthemen virtuos zusammenführt. Von großen und noch größeren Versuchungen erzählt dieser sinnliche, kräftige, lebenspralle Roman, von der Verführungskraft der Musik, der grenzenlosen Leidenschaft für die Kunst und die Welt - und der Schwierigkeit, dabei Maß zu halten.
Toño Azpilcueta führt Familien- und Berufsleben mit sehr mäßiger Begeisterung. Seine Leidenschaft gilt der traditionellen Musik seines Landes, dem peruanischen Walzer, den er seit der Jugend akribisch erforscht. Eines Tages lernt er einen unbekannten, aber offensichtlich über alle Maßen talentierten Gitarristen namens Lalo Molfino kennen. Die Begegnung verändert Toños Leben - sehr zur Beunruhigung seiner Familie -, denn Molfino spielen zu hören, ist für ihn eine Offenbarung. Augenblicklich weiß Toño, was seine Mission ist: Er schreibt endlich das Buch, über Molfino, den peruanischen Walzer und vor allem die künstlerische Vision eines besseren Lebens. Es wird ein Erfolg und Toño berühmt. Was läge also näher, als das Buch zu erweitern, sein Land, dessen Geschichte, die ganze Welt darin unterzubringen? Immer mehr, geradezu manisch, schreibt Toño daran, taub gegen die lauter werdende Sorge seiner Familie ...
»Das ist mein letztes Buch.« Mario Vargas Llosa
<p>Mario Vargas Llosa, geboren 1936 in Arequipa/Peru, studierte Geistes- und Rechtswissenschaften in Lima und Madrid. Bereits während seines Studiums schrieb er für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen und veröffentlichte erste Erzählungen, ehe 1963 sein erster Roman <em>Die Stadt und die Hunde</em> erschien. Der peruanische Romanautor und Essayist ist stets als politischer Autor aufgetreten und ist damit auch weit über die Grenzen Perus hinaus sehr erfolgreich. Zu seinen wichtigsten Werken zählen <em>Das grüne Haus</em>, <em>Das Fest des Ziegenbocks</em>, <em>Tante Julia und der Schreibkünstler </em>und <em>Das böse Mädchen</em>.<br /> Vargas Llosa ist Ehrendoktor verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten und hielt Gastprofessuren unter anderem in Harvard, Princeton und Oxford. 1990 bewarb er sich als Kandidat der oppositionellen Frente Democrático (FREDEMO) bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen und unterlag in der Stichwahl. Daraufhin zog er sich aus der aktiven Politik zurück.<br /> Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 1996 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2010 den Nobelpreis für Literatur. 2021 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Heute lebt Mario Vargas Llosa in Madrid und Lima.</p>
I
Warum hatte José Durand Flores ihn wohl sprechen wollen, dieses Mitglied der intellektuellen Elite Perus? Man hatte es ihm in der Pulpería ausgerichtet, die sein Freund Collau betrieb, ein kleines Lokal und zugleich Kiosk für Zeitungen und Zeitschriften, und er rief zurück, aber niemand ging ran. Collau sagte, die Nachricht habe seine Tochter entgegengenommen, die kleine Mariquita, vielleicht habe sie die Nummer nicht richtig verstanden, bestimmt würden sie sich noch mal melden. Dann plagten Toño wieder diese schamlosen Viecher, die ihn, wie er sagte, seit frühester Kindheit verfolgten.
Warum wollte der Mann mit ihm sprechen? Er kannte ihn nicht persönlich, sehr wohl aber wusste Toño Azpilcueta, wer José Durand Flores war. Ein anerkannter Schriftsteller, jemand also, den Toño bewunderte und zugleich verabscheute, weil er es bis nach oben geschafft hatte und mit Attributen belegt wurde wie »Kundiger von Rang« und »gefeierter Kritiker«, das übliche Lob, das sich die Intellektuellen so leicht verdienten, Leute, die im Land zu dem gehörten, was Toño Azpilcueta »die Elite« nannte. Was hatte dieser Mensch bisher gemacht? Er hatte in Mexiko gelebt, klar, und kein Geringerer als Alfonso Reyes, Dichter, Essayist und Gelehrter, Diplomat und Leiter des Colegio de México, hatte ein Vorwort geschrieben zu seiner berühmten und ebendort herausgegebenen Anthologie Niedergang der Sirenen, Glanz der Seekühe. Es hieß, er sei Experte für den Inka Garcilaso de la Vega und es sei ihm gelungen, dessen Bibliothek bei sich zu Hause oder in einem Archiv der Universität zu rekonstruieren. Das konnte sich sehen lassen, war aber auch nicht viel, letztlich fast nichts. Er rief noch einmal an, und auch diesmal ging niemand ans Telefon. Jetzt waren sie wieder da, die Nagetiere, und krochen ihm über den ganzen Körper, so wie jedes Mal, wenn er aufgeregt war, nervös oder ungeduldig.
Toño Azpilcueta hatte in der Nationalbibliothek im Zentrum von Lima darum gebeten, die Bücher von José Durand Flores zu erwerben, und die junge Frau, die ihn bediente, sicherte es ihm zwar zu, aber dann passierte nichts, und so wusste Toño nur, dass er ein bedeutender Akademiker war, nicht aber, warum. Sein Name war ihm vertraut aufgrund eines Umstands, der seiner offensichtlichen Vorliebe für das Fremde zuwiderlief oder sie überspielte. Denn jeden Samstag brachte Durand Flores in der Zeitung La Prensa einen Artikel, worin er sich wohlwollend über die kreolische Musik äußerte, selbst über Sänger, Gitarristen und Cajónspieler wie Caitro Soto, Begleiter von Chabuca Granda, weshalb Toño eine gewisse Sympathie für ihn empfand. Dagegen empfand er für diese hochmütigen Intellektuellen, die die kreolischen Musiker verachteten und sie nicht einmal erwähnten, weder um sie zu loben noch um sie niederzumachen, eine tiefe Abneigung – zur Hölle mit ihnen.
Toño Azpilcueta war eine Kapazität auf dem Gebiet der kreolischen Musik, egal von woher, von der Küste, aus dem Hochland, vom Amazonas, ihr hatte er sein Leben gewidmet. Die einzige Anerkennung, die ihm zuteilgeworden war – Geld freilich nicht –, bestand darin, dass er, zumal nach dem Tod von Professor Morones, diesem großartigen Menschen aus Puno, als der beste Kenner der peruanischen Musik im Land galt. Seinen Lehrer hatte er kennengelernt, als er noch auf die La-Salle-Schule ging, kurz nachdem sein Vater, ein italienischer Einwanderer mit baskischem Nachnamen, ein kleines Haus in La Perla gemietet hatte, wo Toño aufgewachsen war. Nach dem Tod von Professor Morones wurde er zu dem »Intellektuellen«, der am meisten wusste (und schrieb) über die Musik und die Tänze, welche die Folklore des Landes prägten. Er hatte an der San Marcos studiert, und seinen Abschluss hatte er mit einer Arbeit über den Vals gemacht, den peruanischen Walzer, betreut von Hermógenes A. Morones persönlich – hinter dem A mit Punkt, hatte Toño herausgefunden, verbarg sich der Name Artajerjes –, und Toño war nicht nur sein Assistent und Lieblingsschüler gewesen, sondern in gewisser Weise auch derjenige, der seine Studien und Forschungen über die Musik und die Tänze in den verschiedenen Regionen fortführte.
Im dritten Jahr ließ Morones ihn den ein oder anderen Kurs abhalten, und alle an der San Marcos hofften, dass Toño Azpilcueta, wenn der Professor in den Ruhestand trat, seinen Lehrstuhl erben würde. Er selbst dachte das auch. Weshalb er nach Beendigung des fünfjährigen Studiums an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät weiterforschte, um eine Doktorarbeit zu schreiben mit dem Titel Die Pregones von Lima, die natürlich seinem Lehrmeister gewidmet wäre, Dr. Hermógenes A. Morones.
Bei der Lektüre der Chronisten aus der Zeit der Kolonie war Toño aufgefallen, dass die Ausrufer, die sogenannten pregoneros, die Nachrichten und städtischen Anordnungen gewöhnlich sangen und nicht verlasen, sodass sie die Bürger in Begleitung mündlicher Musik erreichten. Und dank Rosa Mercedes Ayarza, der großen Spezialistin für peruanische Musik, war er zu der Erkenntnis gelangt, dass die pregones die ältesten Geräusche der Stadt waren, denn so riefen auch die Straßenverkäufer ihre Ware aus, Backwaren wie die rosquetes, die bizcochos de Guatemala, die reyes frescos, Fisch wie den bonito, die cojinova und die pejerreyes. Es waren die ältesten Klänge in den Straßen von Lima. Ganz zu schweigen von denen der causera mit ihren Kartoffeltörtchen, dem frutero mit seinem Obst, der picaronera mit ihren Süßkartoffel-Kürbis-Ringen, der tamalera mit ihren Maispasteten oder der tisanera mit ihrem Kräutergetränk.
Daran musste er denken, und er war so ergriffen, dass ihm die Tränen kamen. Die tiefsten Schichten dessen, was Peru als Nation ausmachte, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zusammengehalten von ein und denselben Nachrichten und Verordnungen, sie waren durchdrungen von volkstümlicher Musik und volkstümlichen Gesängen. Das sollte der erhellende Grundton einer Dissertation sein, die in einer Vielzahl vollgeschriebener Karteikarten und Hefte vorangekommen war, alle akkurat aufbewahrt in einem kleinen Koffer; bis zu jenem Tag, als Professor Morones in den Ruhestand trat und ihm mit tiefbetrübter Miene mitteilte, dass die San Marcos entschieden habe, nicht ihn zu seinem Nachfolger zu berufen, sondern den Lehrstuhl für die peruanische Folklore zu schließen. Es war kein Pflichtfach, und aus unerklärlichen Gründen, wahrlich unerhört, schrieben sich jedes Jahr weniger Interessierte aus der Geisteswissenschaftlichen Fakultät ein. Der Mangel an Studenten bedeutete das traurige Aus.
Die Wut, die Toño Azpilcueta packte, als er erfuhr, dass er niemals Professor an der San Marcos würde, war so groß, dass er schon daran dachte, sämtliche in seinem Koffer verstauten Karteikarten und Hefte in tausend Stücke zu reißen. Zum Glück tat er es nicht, sehr wohl aber verabschiedete er sich von seinem Dissertationsvorhaben und seinem Traum von einer akademischen Karriere. Was ihm blieb, war allein der Trost, dass er zu einem echten Experten für Volksmusik und Volkstänze geworden war oder, wie er es nannte, zu einem »proletarischen Intellektuellen« der Folklore. Aber woher wusste Toño Azpilcueta so viel über peruanische Musik? Unter seinen Vorfahren war niemand, der Sänger oder Gitarrist gewesen wäre, und schon gar kein Tänzer. Sein Vater, ein Auswanderer aus einem kleinen italienischen Dorf, war Angestellter bei der Eisenbahn des zentralen Hochlands und sein Leben lang unterwegs gewesen, während seine Mutter in den Hospitälern ein und aus ging, um sich von allerlei Leiden zu kurieren. Sie starb eines unbestimmten Tages, als er noch ein Kind war, und seine Erinnerung beruhte mehr auf den Fotos, die sein Vater ihm gezeigt hatte, als auf eigenem Erleben. Nein, in der Familie gab es keine Vorgeschichte. Im Alter von fünfzehn Jahren begann er ganz allein, Artikel über die Folklore des Landes zu schreiben, denn er hatte begriffen, dass er die Gefühle, die die Akkorde eines Felipe Pinglo Alva und all die Sänger der kreolischen Musik in ihm weckten, in Worte fassen musste. Womit er im Übrigen recht erfolgreich war. Seinen ersten Artikel schickte er an eine der kurzlebigen Zeitschriften, die in den Fünfzigerjahren erschienen. Er versah ihn mit der Überschrift »Mein Peru«, schließlich ging es darin um das kleine Haus von Felipe Pinglo Alva in...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2024 |
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Übersetzer | Thomas Brovot |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • Biografie • Bücher Neuererscheinung • Carlos Fuentes Preis 2012 • Das böse Mädchen • Das grüne Haus • Die Stadt und die Hunde • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Gitarre • Gitarrist • Harte Jahre • Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis 2012 • Kreolische Musik • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Kultur • künstlerische Vision • Le dedico mi silencio deutsch • Leidenschaft • Lima • Magischer Realismus • Meisterwerk • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Nobelpreis für Literatur • Offenbarung • Paul-Celan-Preis 2018 • Peru • peruanischer Walzer • Popkultur • Schelmenroman • Schriftsteller • Spätwerk • Tabu • Tante Julia und der Schreibkünstler • Traditionelle Musik • Träume • Universität • Utopie |
ISBN-10 | 3-518-78052-2 / 3518780522 |
ISBN-13 | 978-3-518-78052-7 / 9783518780527 |
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