Slough House (eBook)
432 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61527-2 (ISBN)
Mick Herron, geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, studierte Englische Literatur in Oxford, wo er auch lebt. Seine in London spielende ?Slow Horses?-Serie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem CWA Gold Dagger for Best Crime Novel, dem Steel Dagger for Best Thriller und dem Ellery Queen Readers Award, und mit Starbesetzung von Apple TV+ verfilmt.
Zugegeben: Auf den ersten Blick ist es nicht die ansehnlichste Immobilie auf dem Markt.
Aber man bedenke das Potenzial!
Das dreistöckige Gebäude, das sich praktischerweise genau zwischen einem chinesischen Restaurant und einem Zeitungskiosk befindet, bietet eine der seltenen Gelegenheiten, in dieser aufstrebenden Gegend Fuß zu fassen. (Eine nette kleine Bemerkung in der Mail vor nicht allzu langer Zeit. Zwar nicht im Immobilienteil, aber immerhin.) Die Fassade ist nach Osten ausgerichtet, wird aber durch den imposanten Blick auf das Barbican Centre vor den blendenden Strahlen der Morgensonne geschützt. Weiteren Schutz für das Gebäude bietet die Aldersgate Street hier im Bezirk Finsbury, der für sein gemäßigtes Klima bekannt ist. Der Verkehr wird durch die nahe gelegenen Ampeln beruhigt, und es besteht eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Sowohl verschiedene Buslinien als auch die U-Bahn mit den beliebten Linien Hammersmith & City, Circle und Metropolitan sind in nur einer Minute fußläufig erreichbar.
Die Vordertür ist nicht in Gebrauch, aber das macht nichts. Wir gehen durch die Hintertür.
Zunächst durchqueren wir den hübschen, pflegeleichten Hof mit reichlich Platz für Mülltonnen und kaputte Möbel. Machen Sie sich nichts aus dem Geruch; zurzeit ist ein Rohr verstopft. Durch diese Hintertür, die heute ein bisschen klemmt – das tut sie normalerweise nicht –, aber ein bisschen Schultereinsatz, und schon sind wir drin. Dann die Treppe hoch, aber Vorsicht, lieber nicht am Geländer festhalten. Es ist mehr zur Zierde da. Ein originelles Detail, nicht wahr?
Und damit gelangen wir in den ersten Stock, wo sich zwei Büros befinden, mit Blick auf das bereits erwähnte städtische Monument gegenüber. Alles unverfälscht und authentisch. Beachten Sie die Einbauten und Armaturen, alles noch original aus den Siebzigerjahren, und die sind doch gerade wieder im Kommen, nicht wahr? Straßenkrawalle, Rezession, Rassismus – haha, kleiner Scherz! Aber mal im Ernst: Mit einem hübschen neuen Anstrich können Sie das alles ganz individuell gestalten, ein wenig Gelb hier, ein wenig Grau da … Es geht doch nichts über einen Hauch von Farbe, um die natürliche Wärme eines Raumes zu betonen.
Aber alles kommt mal in die Jahre, was? Es geht immer nur vorwärts, nie rückwärts.
Und jetzt bitte noch diese Treppe hinauf, etwas Bewegung, das ist gut für Herz und Kreislauf! Nein, das sind keine Feuchtigkeitsflecken im Putz, das ist nur die Patina der Jahrzehnte. Auf dieser Etage befinden sich zwei weitere Büros und eine praktische kleine Küche: Platz für Wasserkocher und Mikrowelle, für Geschirr und was man so braucht. Die Spülmaschine müsste mal überholt werden, aber das ist schnell geschehen. Hier entlang geht’s zur Toilette – oh, der vorherige Nutzer war umweltbewusst. Einfach einmal kurz abziehen.
Und weiter geht’s zu den letzten beiden Büros. Unserer Meinung nach die idealen Schlafzimmer. Die Dachschrägen verleihen den Räumlichkeiten Charakter, bieten aber genügend Platz, um sich ganz nach Belieben zu entfalten, wenn man mal von den Telefonbüchern, den überquellenden Aschenbechern und dem Schmutz auf dem Teppich absieht. Eine kleine Grundreinigung, und schon ist wieder alles tipptopp. Normalerweise wird ein Gebäude bei der Besichtigung besenrein präsentiert, aber der Zugang war ein Problem, wir bitten vielmals um Entschuldigung.
Ah, das Fenster scheint zu klemmen. Da muss man nur mal kurz mit dem Schraubendreher ran, schon funktioniert das wieder.
So, jetzt konnten Sie sich einen Überblick verschaffen. Ein bisschen exzentrisch, kein Haus von der Stange, und es blickt überdies auf eine bewegte Geschichte zurück. Eine Abteilung des Geheimdienstes war hier untergebracht, wenn auch keine besonders aktive. Mehr eine Art Verwaltungstrakt. Die jetzigen Nutzer sind hier schon seit einer gefühlten Ewigkeit untergebracht, obwohl es ihnen wahrscheinlich länger vorkommt. Man sollte meinen, Spione hätten Besseres zu tun, aber vielleicht gehörten sie nie zu den besten. Vielleicht waren sie überhaupt nur deswegen hier.
Aber wir sehen, dass Sie nicht überzeugt sind – es war die Toilette, nicht wahr? –, also sollten wir wohl besser weiter nach Westen ausweichen, wo die traditionelleren Gebäude liegen, drüben im Regent’s Park. Nein, machen Sie sich keine Sorgen wegen der Tür. Sicherheit war hier noch nie ein großes Thema, was schon etwas seltsam ist, wenn man es recht bedenkt.
Nicht, dass uns das etwas anginge – wichtig ist nur, dass dieser Schuppen aus unseren Büchern verschwindet. Aber früher oder später werden wir einen Abnehmer finden. So ist das in unserer Branche, und in Ihrer ist es gewiss nicht anders. So geht es überall auf der Welt. Wenn etwas zum Verkauf steht, wird es früher oder später jemand kaufen.
Es ist wirklich nur eine Frage der Zeit.
Nur eine Frage der Zeit.
Auf der Suche nach Spendersamen?, lautete die Anzeige über ihrem Kopf.
Definitiv nicht, obwohl man als Frau in der Central Line zur Hauptverkehrszeit durchaus unfreiwillig dafür infrage kam.
Im Augenblick hoffte Louisa Guy jedoch, dass dieser Kelch an ihr vorüberging. Sie war in einer Ecke eingeklemmt, aber sie stand mit dem Rücken zu der drängenden Menge und konzentrierte sich auf die Tür, gegen die sie gedrückt wurde. In der Scheibe erschien alles verschwommen, wie ein 3D-Film ohne Brille, aber sie konnte menschliche Züge ausmachen: verschwommene Münder, die zu Klängen aus iPods die Lippen bewegten, verschlossene Gesichter. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Begegnung in der U-Bahn böse endete, gering war – laut Statistik ein Fall auf eine Million Passagiere –, wollte man nicht die Ausnahme von der Regel sein. Tief durchatmen. Sich nicht das Schlimmste ausmalen. Und dann kam Oxford Circus, wo sich die Menge wie zwitschernde Stare aufteilte und ihr Teil des Schwarms auf den Bahnsteig in Richtung der Ausgänge strömte.
Normalerweise fuhr sie nach der Arbeit nicht mehr in die Stadt. Die Tage, in denen sie in Bars herumgehangen hatte, waren vorbei, und sie bedauerte es nicht. Shoppen war etwas für die Wochenenden, und kulturelle Angebote – Theater, Museen, Konzerte – nahm sie ja doch nie wahr: Sie war eine Londonerin, keine Touristin. Aber sie brauchte neue Laufschuhe, nachdem sie letzte Woche fünfzehn Kilometer durch den Regen gejoggt war; eine blöde Idee, aber sie hatte einen schlechten Tag gehabt, weil die Gedanken an Emma Flyte ihr keine Ruhe ließen. Vor Erinnerungen konnte man zwar nicht davonlaufen, aber man konnte sich so weit auspowern, dass die Details verschwammen. Jedenfalls waren die Laufschuhe entweder geschrumpft oder hatten ihre Form so grundlegend verändert, dass sie an andere Füße gehörten, und jetzt war sie hier, auf dem Weg in die Stadt nach der Arbeit; die Abende waren heller, seitdem die Uhren vorgestellt worden waren, aber die Luft war noch immer winterlich kalt. Auf der Rolltreppe wurde sie durch Videowerbung dazu ermutigt, grundlegende Entscheidungen zu überdenken: Bank wechseln, Telefon wechseln, Job wechseln. In einer perfekten Welt hätte sie alle drei Dinge erledigt, bis sie auf Straßenniveau angekommen wäre.
Dort waren die Bürgersteige feucht vom Regen. Louisa umschiffte Fußgängeransammlungen, überquerte die Regent’s Street im Trab, während die LED-Anzeige 3-2-1 warnte, und schlüpfte in ein Sportgeschäft, dessen Neon-Logo im milchigen Licht nur einen blassen Schein warf und dessen gefliester Boden sich vor Dreck in eine Rutschbahn verwandelt hatte. Ein gelber Poller mahnte sie zur Vorsicht. Wäre sie vorsichtig gewesen, wäre Emma Flyte noch am Leben. Aber es war sinnlos, so zu denken; die Uhren liefen weiter und ließen sich nie besonders weit zurückdrehen. Laufschuhe gab es im Untergeschoss. Sie nahm den nächsten Aufzug; es schien, als würde sie ständig nach oben oder unten fahren. Immer hoch oder runter.
An der hinteren Wand waren Laufschuhe ausgestellt wie eine Reihe von Köpfen in Game of Thrones. Wie immer gab es einen Sale, da der Einzelhandel seit Du-weißt-schon-was am Boden war, aber selbst mit Rabatt waren die Schuhe sündhaft teuer. Die, die gut aussahen, jedenfalls. Und obwohl es bei Laufschuhen darauf ankam, dass sie gut saßen, und nicht, dass sie schick waren, mussten sie trotzdem gut aussehen. Also suchte Louisa sich das Paar aus, das an der Wand am meisten ins Auge fiel, was nichts bedeuten musste, aber ein plausibler Ausgangspunkt war, setzte sich hin und probierte sie an.
Sie fühlten sich ganz gut an. Wenn sie auf und ab ging, drückten sie ein bisschen, mehr als im Sitzen, aber es war schwer zu sagen, ob das nur daran lag, dass sie neu waren, oder ob sie nicht richtig passten. Solche Läden müssten ein Laufband haben. Louisa beugte probeweise ein Bein, um zu sehen, ob das half, und bemerkte, dass ein Mann dies bemerkte – er stand am anderen Ende des Ladens und inspizierte einen Nike –, daher tat sie es noch einmal, und er schaute wieder hin, wenn auch verstohlen. Sie ging in die Hocke und drückte auf die Kappen der Sportschuhe, um ihre Passform zu überprüfen. Er stellte den Nike wieder an die Wand und trat einen Schritt zurück, mit unbewegtem...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Reihe/Serie | Slow Horses |
Übersetzer | Stefanie Schäfer |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Agententhriller • Apple TV • Gary Oldman • jackson lamb • London • Looser • MI5 • Regents Park • safehouse • Serie • Spionage • Thriller |
ISBN-10 | 3-257-61527-2 / 3257615272 |
ISBN-13 | 978-3-257-61527-2 / 9783257615272 |
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