Schnall dich an, es geht los (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Kanon Verlag
978-3-98568-127-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schnall dich an, es geht los -  Domenico Müllensiefen
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»Endlich geht es mal um was. Nämlich die Scheißjahre. Drehspieß und Barbie, FCM und Dosenbier. Wenn Sitzenbleiben der einzige Ausweg ist. Mit dem Auto an die Mauer oder weiterleben, fast egal. Immer einsteigen, aber nie losfahren. Und am Ende tanzen. Endlich.« Grit Lemke Früher begann in Jeetzenbeck die Freiheit. Der Ort in der Altmark war die erste Station auf der Reise in die weite Welt: nach Amerika. Doch heute kommt niemand so leicht von hier weg. Die Zugverbindung nach Altenwedel soll eingestellt werden, und die Einfamilienhäuser am Ortsrand verfallen. Die guten Zeiten, wenn es sie denn jemals gab, sind vorbei. Wie die des 1. FC Magdeburg. Doch Marcel, der als Drehspießverkäufer am Bahnhof arbeitet, will nicht aufhören zu träumen. Von Steffi, seiner großen Liebe, von einer heilen Familie, von einem besseren Leben im Takt der Tanzmusik. Bekommen hat er stattdessen einen besten Freund, der säuft, einen Vater, der nie und nimmer in Amerika war, und eine Schwester, die gegen die Friedhofsmauer gerast ist. Doch warum ist Vanessa noch immer tot, und was hat Steffi damit zu tun, die eines Tages wieder vor Marcel steht: mit ihren roten Haaren, ihrer Traurigkeit und ihrem unergründlichen Lächeln. »Ein lebens- und erfahrungsgesättigtes Erzählen, leicht und atmosphärisch dicht zugleich. Ein völlig eigenständiges Werk über Freundschaft und Liebe, Leben und Sterben sowie die kleinen und die großen Tode.« Dirk Oschmann

Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 Studium und Master am Deutschen Literaturinstitut. Domenico Müllensiefen arbeitete viele Jahre als Bauleiter und ist seit kurzem freiberuflicher Schriftsteller. Er lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman »Aus unseren Feuern« wurde er 2023 für den Fontane-Literaturpreis nominiert und mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet.

Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 Studium und Master am Deutschen Literaturinstitut. Domenico Müllensiefen arbeitete viele Jahre als Bauleiter und ist seit kurzem freiberuflicher Schriftsteller. Er lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman »Aus unseren Feuern« wurde er 2023 für den Fontane-Literaturpreis nominiert und mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet.

Das heißt Drehspieß!


13. Februar 2023

Manchmal fragte ich mich, wie ich hier gelandet war. An irgendeiner Stelle musste ich falsch abgebogen sein oder mich vielleicht umgedreht oder meinetwegen auch gar nichts gemacht haben. Ich wusste es nicht. Im Fernsehen zeigten sie gerade eine Familie aus einem Kaff bei Magdeburg, das nicht viel anders als Jeetzenbeck aussah. Die Familie wurde einen Tag lang begleitet. Es ging um die Inflation, die Heiz- und Benzinkosten. Darum, wie man das alles stemmen konnte. Es gab einen Vater, eine Mutter, die beiden hatten zwei Kinder, ein Auto und ein kleines Haus am Rand von Magdeburg. Er hatte Arbeit im Stahlwerk. Dort, wo meine Ausbildung hätte sein können, wäre ich 2002 nicht in der Altenwedeler Werkstatt gestrandet, wo die ganze Scheiße dann losging. Der Mann im Fernsehen war so alt wie ich. Ich hätte es sein können, der dieses schöne Leben führt. Ein Haus, eine Frau. Kinder. Sorgen wegen des Rückstandes, den die Kinder in der Schule haben. Fast zwei Jahre nur schlechter Onlineunterricht. Deutsch- und Mathestunden, die ausgefallen sind und nun am Tisch mit den Eltern nachgeholt werden. Dann die Sorgen wegen der Heizkosten, Sorgen wegen der teuren Lebenshaltungskosten und dazwischen, zwischen den Sorgen um Schule und Geld, dieses große Glück, Sorgen zu haben. Steffi hätte vielleicht die Frau sein können. Wir hätten in Magdeburg leben können, und ein Fernsehteam vom MDR hätte uns gefilmt, wie wir uns um unsere Zukunft sorgten. Aber ich stand hier auf der anderen Seite vom Fernseher, stand hinter dem Tresen, und anstatt Bier auszuschenken und Leuten so ein wenig Ablenkung vom Alltag zu verkaufen, schnitt ich Fleischpampe vom Spieß und sorgte für Sodbrennen statt für einen ordentlichen Rausch. Und öfter noch, als Fleisch vom Spieß zu schneiden, fuhr ich mit dem Lappen, so wie jetzt auch, über den Tresen, in der Hoffnung, dass die Zeit so schneller verstreichen würde. Ich glotzte hoch zu dem Uralt-Fernseher. Der Mann wurde nun auf seinem Weg zur Arbeit begleitet. Dann Frontalaufnahme der Benzinpreise an der Tankstelle. 1,78 € für einen Liter Diesel, vor Kurzem war es sogar noch mehr gewesen. Vor langer Zeit hatte ich auch mal ein Auto gehabt. Kurz danach saß der Mann wieder in seiner Karre und quatschte was von den ganzen Problemen, mit denen man die Mittelschicht alleine lasse und für die sich niemand interessiere, obwohl er die ganze Zeit das Kamerateam um sich hatte. Ich dachte daran, dass zu mir tatsächlich niemand kam, um sich meine Probleme anzuhören. Sie waren auch nicht sonderlich interessant: Armer Dödel arbeitet in einer Drehfleischbude, in der andere arme Dödel herumhängen, und zusammen warten wir darauf, dass der heutige Tag vom nächsten abgelöst wird, und die von uns, die Glück hatten, sind entweder weg oder tot oder beides. So wie Steffi. Heute in einer Woche war ihr sechsunddreißigster Geburtstag. Aber das war egal, denn sie war weg. Tot war sie sicher nicht, aber das machte keinen Unterschied mehr, denn auftauchen würde sie so oder so nicht mehr. Nicht hier. Nicht in diesem Leben und schon gar nicht in dieser Bude.

Dirk und Pascal waren da. Pascal war immer da. Der hatte seine festen Zeiten hier. Eigentlich hätte er auch bei uns arbeiten können, aber das wäre für Emilio nicht zu stemmen gewesen. Es reichte ja schon kaum, um mich zu bezahlen, und ich denke, dass er mich hier nur arbeiten ließ, weil das am Ende vielleicht billiger war, als die ganze Bude auszuräumen und leerstehen zu lassen. Und es gab sicher noch ein paar andere Gründe. Einer davon war seine positive Sicht auf alles und jeden, auch wenn er es schon lange hätte besser wissen müssen.

Dass Dirk hier war, war nun schon eher ungewöhnlich. Es war nicht so, dass Dirk nie hier war, aber ihn als Stammgast zu bezeichnen, wäre etwas zu viel des Guten gewesen. Aber eins hatte Dirk Pascal voraus, denn als der Bericht über die Familie aus dem Kaff bei Magdeburg zu Ende war, sah er von der Glotze weg, guckte mich an und wollte bezahlen. Und zwar mit Geld und nicht mit irgendwelchen Ausreden oder Zukunftsversprechen, wie sein Sohn es tat.

»Wie viel, Junge?«, fragte er.

Seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf dem Resopaltisch. Pascal saß ihm gegenüber und blätterte in der Wochenzeitung herum, in der auch nichts anderes stand, als im Fernsehen lief. Der einzige Unterschied war vielleicht, dass die Wochenzeitung den Fernsehbeiträgen sieben Tage hinterherhing, und selbst der Kram im TV war im Vergleich zu web.de oder den anderen Nachrichtenportalen steinalt.

»Geht aufs Haus«, antwortete ich und schaltete den Fernseher aus, der jetzt wieder irgendwas über den Krieg in der Ukraine brachte. Seit einem Jahr waren die Russen da nun drin, doch eigentlich interessierte uns das einen Dreck. Ich packte den Lappen auf das Abtropfgitter. Wäre mal wieder an der Zeit für einen neuen, dachte ich, war mir aber nicht sicher, ob wir noch welche hatten. War mir einmal passiert, dass ich den Lappen zu früh weggeworfen hatte, und dann war nur noch der übrig, mit dem wir ab und an mal das Klo putzten, und ich musste mich entscheiden, ob ich den Lappen aus der dreckigen Mülltonne wühle oder den vom Klo nehme.

»Wie viel?«, fragte Dirk wieder und schlug mit der rechten Faust leicht auf den Tisch.

»Fünf«, sagte ich, und Dirk stand schnaufend auf und gab mir einen Zehner.

Ich zog die Kasse auf, die immer offen stand, bei der ich nicht sicher war, ob man sie überhaupt schließen konnte, was ich nicht probierte, da ich dann nicht gewusst hätte, wie man sie wieder aufbekäme, wenn sie zu gewesen wäre, was sie ja nie war und weshalb ich sie halt offen ließ, und zählte Münzen ab.

»Passt so«, sagte Dirk.

»Oho, der Alte hat die Spendierhosen an«, sagte Pascal.

Dirk drehte sich zu seinem Sohn um: »Nee, das ist für dich.«

»Ich hatte gar nichts.«

»Ist auch nicht für heute.«

»Also für morgen. Hast du gehört, Marcel? Morgen bekomme ich meinen Döner gratis.«

»Drehspieß«, antwortete ich, und Dirk sagte: »Du frisst hier jeden Tag. Und nie bezahlst du. Ich schlage vor, dass du mal in dich gehst und aufhörst, Marcels Großmütigkeit auszunutzen.«

»Passt schon, Dirk«, sagte ich und steckte die Münzen ein.

Dirk wollte zur Belehrung ansetzen, da öffnete sich die Tür, und der kleine Bengel kam rein, und anstatt Pascal weiter zusammenzuscheißen, setzte Dirk sich wieder auf seinen Stuhl, der laut quietschte, als er seinen Körper auf ihn fallen ließ.

»Hey, Luca, alles klar?«, fragte ich, und weiter: »Schule wieder begonnen?«

Der Kleine warf seinen Ranzen auf den Boden und setzte sich an den anderen Tisch. Er öffnete seine Jacke und sagte: »Der Zug ist heute mitten auf der Strecke stehengeblieben. Kurz vor Altenwedel hielt er einfach an, und wir konnten nicht weiter.«

»Und dann kam der Zugführer und hat eine Klappe zwischen den Sitzreihen geöffnet, hat die Beine über den Schienen baumeln lassen, und der Zug fuhr wieder an?«, fragte ich.

»Marcel, woher weißt du das? Warst du auch im Zug? Ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Nee«, sagte ich und winkte ab: »Das ist heute nicht zum ersten Mal passiert. Ist die Schaffnerin dann vorne rein und hat den Zug gesteuert, während der Lokführer da am Motor gedreht hat?«

»Ja. Das war ganz schön kalt. Die ganze kalte Luft kam durch das Bodenloch in den Zug rein«, plapperte der Kleine mit großen Augen.

Ich bückte mich und zog einen Beutel Pommes aus dem Gefrierfach und warf eine Portion in den Frittierkorb, der noch neben dem Lappen auf dem Abtropfgestell lag.

»Kamt ihr rechtzeitig in der Schule an?«, wollte Dirk wissen.

»Leider ja.«

»Dass die immer noch mit dieser ollen Bahn fahren müssen, die Kinder. Das ist doch alles ein Witz. Weißt du, Luca, wenn ich mal wieder mit dem Motorrad nach Altenwedel fahre, nehme ich dich mit. Klar?«, sagte Dirk und grinste den kleinen Scheißer an.

»Mich nimmst du nie mit!«, meckerte Pascal, der hinter seiner Zeitung hervorlugte.

»Du musst auch nicht mehr zur Schule. Du musst nirgends mehr hin.«

»Zum Glück habe ich die Scheiße hinter mir.«

»Fluche nicht vor dem Kind, du Spast!«, schimpfte Dirk.

»In der Schule fluchen wir auch immer. Ist nicht schlimm«, sagte Luca und fragte mich anschließend: »Hast du Pommes da?«

»Geht schon los«, sagte ich und wollte wissen, was heute in der Schule dran gewesen war.

»Biologie bei Frau B.!«

»Haben sie euch schon Titten gezeigt?«, fragte Pascal und bekam von Dirk direkt eine mit der flachen Hand durch die Zeitung hindurch gescheuert. Keine Ahnung, wie Dirk das machte....

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 35 jahre mauerfall • Altmark • Aus unseren Feuern • Bretterknaller • Charlotte Gneuß • Dirk Oschmann • Fc Magdeburg • Freundschaft • Klopstock-Förderpreis • Landtagswahlen Sachsen • Leben in der DDR • Sehnsucht • Trainspotting • Uwe-Johnson-Förderpreis
ISBN-10 3-98568-127-9 / 3985681279
ISBN-13 978-3-98568-127-3 / 9783985681273
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