All das Böse, das wir tun (eBook)
512 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0594-2 (ISBN)
Ein Kampf zwischen Korruption und Gerechtigkeit
Vor dreißig Jahren: Die Polizistin Itala Caruso hat den angeblichen 'Perser' verhaftet, mit der Anschuldigung er habe drei Mädchen ermordet. Der unschuldige Contini stirbt im Gefängnis, was ihr Gewissen mit einem brutalen Knall zum Leben erweckt.
Heute: Die Schülerin Amala, Nichte der Anwältin Francesca Cavalcante, die den verdächtigen Contini damals erfolglos verteidigte, wird entführt - und Cavalcante glaubt, dass der wahre 'Perser' am Werk ist. Bald erhält sie unverhofft Hilfe von Gerry, der ebenfalls nach der verschwundenen Amala sucht - und zwar mit allen Mitteln.
Sandrone Dazieri versteht es, Verbrechen, Opfer und Täter so genial zu verstricken, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse immer weiter verschwimmen.
Sandrone Dazieri, geboren 1964 in Cremona, ist einer der erfolgreichsten Krimi-Drehbuchautoren Italiens. Er arbeitete jahrelang als Programmmacher im größten Verlagshaus Italiens und gründete einen eigenen Verlag für Kriminalromane. Mit seiner in mehr als dreißig Ländern übersetzten Thriller-Trilogie rund um die Ermittler Dante Torre und Colomba Caselli eroberte er auch international die Bestsellerlisten und gilt als einer der größten zeitgenössischen Spannungsautoren Europas. All das Böse, das wir tun ist sein neuestes Buch.
6
Francesca begleitete Metalli zum Auto und nutzte die Gelegenheit, um ein privates Wort mit ihm zu wechseln. »Wenn ein Mädchen ihres Alters verschwindet, handelt es sich fast immer um ein Sexualdelikt«, sagte sie.
Er hakte sie unter. Obwohl Mitternacht schon hinter ihnen lag, war die Luft immer noch lau. »Es hat keinen Zweck, gleich ans Schlimmste zu denken. Und die Sexualdelikte, die du im Sinn hast, werden fast immer von Personen aus dem eigenen Umkreis begangen. Wir haben mit allen Lehrern und Freunden gesprochen. Falls jemand von ihnen involviert ist, werden wir es bald erfahren. Aber wo wir unter uns sind: Denkst du, dass Amala sich heimlich mit einem Erwachsenen getroffen hat?«
»Nie im Leben.«
»Wenn du so genau weißt, was in den Köpfen von Teenagern vorgeht, könntest du vielleicht mal mit meiner Tochter sprechen. Aus der werde ich nämlich nicht mehr schlau.«
»Ich weiß nicht, was in Amalas Kopf vorgeht, aber ich kenne sie. Wenn sie ein Problem mit einem Erwachsenen hätte, würde sie darüber reden.«
Claudio küsste sie auf die Wange. »Du wirst schon sehen, alles wird gut«, sagte er, als er ins Auto stieg. »Ruh dich ein wenig aus. Du hast es nötig.«
Francesca antwortete nicht. Als sie wieder hineinging, hatte sich Sunday auf dem Sofa im Salon ausgestreckt, einen Arm über die Augen gelegt. Tancredi saß im Sessel und starrte ins Leere. Francesca wollte einen Kräutertee zubereiten und schritt voller Unbehagen durch die Küche, die sie kaum kannte. Als sie mit dem Wasserkocher in den Salon trat, nutzte sie die Gelegenheit, ein wenig Müll einzusammeln. »Kommt das Dienstmädchen morgen?«
Sunday sprach mit geschlossenen Augen. »Ich habe ihr gesagt, dass sie zu Hause bleiben soll. Dem Gärtner auch.«
»Du denkst doch wohl nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben …«
»Nein. Sie sind schon zehn Jahre bei uns, und ich vertraue ihnen. Aber im Moment kann ich nicht noch mehr Fremde im Haus gebrauchen. Ich muss mich die ganze Zeit zwingen, freundlich zu sein, dabei würde ich am liebsten schreien.«
Sunday tat so, als würde sie einen Schluck von dem Kräutertee trinken, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück.
»Sie hat Schuldgefühle, weil sie Amala nicht an der Bushaltestelle abgeholt hat«, sagte Tancredi.
»Das glaube ich gern.«
»Sie hat an einem ihrer bescheuerten Artikel gearbeitet.«
»Es ist nicht ihre Schuld. Du darfst nicht böse auf sie sein.«
Tancredi seufzte. »Ich habe entsetzliche Angst, Fran. Unentwegt muss ich darüber nachdenken, was ihr dieser Typ in diesem Moment antun mag.«
»Wir denken, dass er sich mit Lösegeldforderungen meldet.«
Er schüttelte den Kopf. »Lass uns in mein Atelier gehen und etwas Stärkeres zu uns nehmen.«
Francesca folgte ihm ins Atelier, einen sechseckigen Raum mit hellen Holzwänden. Auf langen Tischen lagen Großformatdrucke eines Entwurfs für ein Tagesbett in Form eines Seesterns. Vor den großen Fenstern sah man die Taschenlampen der Suchmannschaften, die wie Glühwürmchen durch die Felder streiften. Tancredi nahm eine Flasche Gin aus dem Barschrank, schenkte sich großzügig ein und setzte sich auf den ergonomischen Stuhl.
»Gibt es etwas, was ich nicht weiß?«, fragte Francesca.
Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass man uns erpressen will.«
»Warum nicht?«
»Weil ich kein Geld habe. Meine Kunden waren fast alle Russen, und seit dem Krieg in der Ukraine kann ich nicht mehr dort arbeiten. Einem dieser Oligarchen hat man sämtliche Konten eingefroren, bevor er mich bezahlen konnte. Kompletter Wahnsinn …«
»Entschuldige mal, Tan, du arbeitest doch schon ein ganzes Leben lang. Hast du denn nichts beiseitegelegt?«
»Dieses Haus ist ein schwarzes Loch, was Geld betrifft. Außerdem haben wir nicht besonders sparsam gelebt, als die Geschäfte noch liefen. Reisen, das ganze Gedöns, das Pferd. Erinnerst du dich? Vielleicht hat es wirklich jemand auf mich abgesehen, aber Geld ist sicher nicht das, was ihn interessiert. Oder er ist kein Profi und weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Vielleicht hegt er auch eher einen Groll auf dich.«
»Auf mich?«
»Du bist eine erfolgreiche Anwältin. Du hast keine Kinder und außer uns auch keine Verwandten. Vielleicht will sich jemand rächen, weil du im Auftrag irgendeines Emirs sein Unternehmen skaliert hast.«
»Ich arbeite für Geschäftsleute, nicht für die Mafia.«
»Ist das ein Unterschied?«
Francesca hatte keine Lust auf diese ewige Diskussion. Außerdem war sie todmüde. »Kann ich im Gästezimmer schlafen?«
»Klar. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass ich schlafen kann.«
Sie konnte es auch nicht, sondern starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke und wartete auf den Sonnenaufgang. Bei jedem Geräusch und jedem Lichtschein zuckte sie zusammen. Jeden Moment könnte ein Carabiniere kommen, die Mütze in der Hand, und ihnen mitteilen, dass man die Leiche ihrer Nichte in einem Graben gefunden habe. Oder in einem Kofferraum. Leider sind wir zu spät gekommen …
In der Morgendämmerung versuchte sie erst gar nicht mehr einzuschlafen. Sie duschte, verabschiedete sich von ihrem Bruder, den sie dort fand, wo sie ihn verlassen hatte, nur dass er nun deutlich betrunkener war, und fuhr nach Cremona in ihre Kanzlei.
Die lag in einem Altbau im historischen Zentrum, direkt hinter dem Baptisterium: fünfhundert restaurierte Quadratmeter aus dem 18. Jahrhundert, mit Fresken, Stuck, Reliefs, Bildern, Grotesken und ungefähr dreißig Kolleginnen und Kollegen. Der einzige Bereich, der nicht seit Ewigkeiten ihrer Familie gehörte, war das elegante kleine Restaurant in den ehemaligen Stallungen. Mittags füllte es sich mit Mandanten und Anwälten, die durch den begrünten Innenhof unter ihrem Fenster strömten. Ihr Büro befand sich im ehemaligen Herrenschlafzimmer mit dem gewaltigen Marmorkamin, den ihr Vater zu Weihnachten immer hatte anzünden lassen. Francesca hatte ihn zumauern lassen. Der Rest der Ausstattung hatte sich komplett verändert, und wo einst das Bild ihres Urgroßvaters in Jagdkluft geprangt hatte, hing nun ein de Chirico.
Im Büro drängten sich allmählich Anzüge in nüchternen Farben, und Beileidsfloskeln wurden ausgesprochen. Die Nachricht von Amalas Verschwinden hatte sich schnell verbreitet, und Francesca nahm die Solidaritätsbekundungen von Angestellten und Anwälten entgegen. Sie tat so, als wäre sie dankbar dafür, aber der Einzige, den sie sehen wollte, war Samuele, ein Referendar, den sie schon eine Weile im Blick hatte. »Ich habe gehört, dass …«
»Danke«, unterbrach sie ihn. »Wenigstens du könntest mir das ersparen.«
»Ah, klar, natürlich. Alle verlangen Sie am Telefon, vor allem Journalisten.«
»Du weißt, wo du sie hinschicken kannst?«
»Zweifellos, Avvocata. Aber wir müssen eine Pressemitteilung aufsetzen.« Samuele war dicklich, trug eine runde Brille und wirkte nachdenklich, was ihm gewiss half, nach anderthalb Jahren Referendariat noch bei Verstand zu sein.
Francesca schnaubte. »Mach du das. Ich überarbeite sie dann. Außerdem habe ich dir schon oft gesagt, dass ich dieses Avvocata widerlich finde. Das ist jetzt politically correct, ich weiß, aber ich bin vom alten Schlag.«
»Entschuldigung. Aber von den anderen werde ich erwürgt, wenn ich es nicht beachte, Avvocato. Ich geh dann mal die Pressemitteilung aufsetzen.«
»Warte. Ich brauche dich noch für etwas anderes, eine Archivrecherche.«
Samuele nahm die Brille ab und polierte sie mit einem amarantroten Tuch. Francesca war aufgefallen, dass er das immer tat, wenn er nervös war.
»Schießen Sie los.«
»Es ist höchst unwahrscheinlich, aber es könnte sein, dass Amala jemandem zum Opfer gefallen ist, der Groll auf unsere Familie hegt. Ich brauche eine Liste der Prozesse, an denen Papa beteiligt war und die etwas mit Entführung, Gewalt und Vergewaltigung zu tun haben. Mich interessieren nur die Fälle, in denen Mandanten oder Angeklagte noch leben und auf freiem Fuß sind.«
»Das steht aber nicht in den Akten.«
»Du hast doch den Kanzleikalender, zieh ihn zurate. Wenn du fertig bist, leg einen Ordner an und schick ihn an die Mailadresse von Dottor Metalli, dem Staatsanwalt. Die findest du auch im Kalender.«
»Ja, Avvocato.«
»Und lass mir einen Tee bringen. Aber keinen aus dem Beutel.«
Der Tee kam nach fünf Minuten, die ersten Ergebnisse nach einer Stunde. Der Ordner, der auch für Francesca freigegeben war, füllte sich allmählich mit Prozessen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, und Personen, die sie nicht kannte. Sie überflog sie und verscheuchte die aufgeregten Kollegen und Kolleginnen, die sie an vergessene Aufgaben erinnern wollten, aber ihr sprang nichts ins Auge, nichts, was wirklich verdächtig ausgesehen hätte. Streitigkeiten um Ländereien und haushohe Niederlagen im Gerichtssaal, klar, aber niemand, der in der Lage schien, ein Mädchen zu entführen. Traurig registrierte sie, dass ihr Vater in den beiden Jahren vor seinem Tod zunehmend Prozesse verloren hatte. Damals war es ihm bereits schlecht gegangen.
Als Samuele wiederkehrte, war sein Pullover mit Staub bedeckt. »Die Groupon sind leider nicht im digitalen Archiv.«
»Was sind denn die Groupon?«
»Die unentgeltlichen Verfahrenshilfen und Pflichtverteidigungen. Wir nennen sie hier so. Ich dachte, Sie wüssten...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2024 |
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Übersetzer | Claudia Franz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Il male che gli uomini fanno |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Buch • drei Jahrzehnte • entführtes Kind • Entführung • Italien • italienischer • Korruption • Krimi • Literarischer • Literarisches • Lombardei • Neuer • Neuerscheinung • Polizistin • Roman • Serienkiller • Spannung • Suspense • Thriller • Zwei Handlungsstränge |
ISBN-10 | 3-7499-0594-0 / 3749905940 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0594-2 / 9783749905942 |
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