Mord in der Charing Cross Road (eBook)
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12359-3 (ISBN)
Dorothee Merkel lebt als freie Übersetzerin in Köln. Zu ihren Übertragungen aus dem Englischen zählen Werke von Edgar Allan Poe, John Banville, John Lanchester und Nickolas Butler.
Dorothee Merkel lebt als freie Übersetzerin in Köln. Zu ihren Übertragungen aus dem Englischen zählen Werke von Edgar Allan Poe, John Banville, John Lanchester und Nickolas Butler.
Erstes Kapitel
Die schwere Mahagoni-Uhr auf dem Kaminsims schlug fünf. Sally stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und schloss die Türe ab, damit keine weiteren Kunden den Laden betreten konnten. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und setzte ihre Arbeit fort. Sie war gerade mit der Wunschliste von Hiram P. Goldberger aus Washington, D. C., beschäftigt – einem alten und sehr geschätzten Kunden –, die einen ganzen Papierbogen in Quartformat füllte. Es war nicht unbedingt nötig, dass sie den Auftrag noch heute Abend erledigte, aber die Bücher sollten in Heldar’s wöchentlicher Bestellliste stehen, die sie noch tippen und morgen an die Antiquarische Bücherwelt schicken musste, und sie zog es vor, die Titel erst zu katalogisieren. Sie nahm sich eine weitere Karteikarte und schob sie in die Schreibmaschine. Johnson (Samuel) Rasselas 1759 2 Bde., Versandgeschäft.
Bis zu dieser Stelle war sie gekommen, als sie hörte, wie die drei Kolleginnen aus dem oberen Stockwerk herunterkamen. Sie eilten die Treppe hinunter, unterhielten sich dabei leise und betraten schließlich nahezu gleichzeitig den Laden: Miss Bates, die Buchhalterin, sowie Mrs Weldon und Betty, die beiden Schreibkräfte. Sie wünschten Sally hastig eine gute Nacht, wobei Miss Bates noch hinzufügte: »Machen Sie doch auch bald Schluss, Sally.« Sie versuchte, fröhlich zu klingen, doch das gelang ihr nicht ganz. Dann eilten die Frauen hinaus in die von den Straßenlaternen nur dürftig erhellte Dunkelheit der Charing Cross Road.
Sally seufzte. Kein Zweifel, die drei waren verängstigt, aber sie waren alle ohnehin eher nervös veranlagt. Im Gegensatz zu ihnen war Sally nicht davon überzeugt, dass der Geist aus der Nummer zweihundert wieder sein Unwesen trieb. Dennoch – das ging alles ein bisschen über einen Scherz hinaus, womit sie und die ›Kleine Liza‹ versucht hatten, die Geschichte herunterzuspielen. Seit jenem Abend letzte Woche, als Betty glaubte, den Geist gesehen zu haben, waren die drei Damen immer gemeinsam um kurz nach fünf Uhr aus dem Haus gegangen. Die Schreibkräfte waren nur sehr selten gezwungen, Überstunden zu machen, doch Sally fragte sich allmählich, was passieren würde, wenn das nächste Mal eine von ihnen länger bleiben musste.
Sie vervollständigte die Karteikarte mit Hiram P. Goldbergers Namen und Adresse sowie dem Datum und nahm sich eine weitere Karte vor. In diesem Moment schloss jemand hinten im Flur schwungvoll eine Bürotür, und Sally hörte Vater Williams forsche Schritte. Vater William war bereits achtzig Jahre alt, aber er leistete an einem Arbeitstag immer noch so viel wie sein wesentlich jüngerer Neffe oder sein Enkel oder Großneffe. Als er den Laden betrat, war er bereits in seinen schwarzen Mantel gekleidet und hielt den schwarzen Hut und den ordentlich zusammengerollten Regenschirm in den behandschuhten Händen. Sein stattlicher, weißbehaarter Kopf war noch unbedeckt.
»Sie machen wieder Überstunden, Miss Merton?«, fragte er. Seine Stimme mochte die eines alten Mannes sein, doch sie klang immer noch sehr lebendig. »Ich denke nicht, dass ich all diese Überstunden gutheißen kann. Wie lange wollen Sie denn noch hierbleiben?«
Sally hatte sich erneut von ihrem Stuhl erhoben. Sie sah in seine klugen blauen Augen. »Für gewöhnlich bleibe ich nicht sehr viel länger als bis halb sechs, Mr William.«
»Also, ich finde, Sie sollten das auf höchstens zweimal pro Woche beschränken. Sie sehen müde aus. Und vergessen Sie nicht, Ihre Überstunden anzugeben! Gute Nacht, Miss Merton.«
»Gute Nacht, Mr William. Danke.«
Vater William trat auf die Straße hinaus. Wenig später öffnete und schloss sich die Tür seines Büros erneut. Das konnte doch unmöglich Miss Mundle sein, dachte Sally, die jetzt schon nach Hause ging! Doch dann fiel ihr ein, dass heute Dienstag war und Miss Mundle ihre Abendschule besuchen würde, wie sie das während der letzten dreißig Jahre immer gemacht hatte, wenn auch in der Winterzeit nur einmal die Woche. Miss Mundle hatte schon für Mr Henry als Schreibkraft gearbeitet – Vater Williams Bruder und Mr Charles’ Vater, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war –, und seit Mr Henrys Tod war sie Vater Williams Sekretärin, und als solche absolut unentbehrlich. Sie hatte auch dessen beide Söhne gekannt, Mr John, der Vater von Johnny Heldar, und Mr Dicky, die beide im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Sie hatte sogar den bedeutenden alten Mann selbst gekannt, Vater Williams Vater, den Gründer der Firma und ersten Mr John. Miss Mundle war ebenso sehr ein Teil von Heldar’s, wie es die Seniorpartner waren.
Die Tür des Flurschranks, in dem Miss Mundle und Sally ihre Mäntel aufbewahrten, schloss sich leise, und wenig später betrat Miss Mundle den Laden. Ihre Augen strahlten Sally hinter ihrer Nickelbrille an. »Sie machen wieder Überstunden?«, fragte sie. »Das machen Sie viel zu oft.«
Sally entgegnete: »Wer im Glaskasten sitzt …« Miss Mundle lachte. »Oh, ich weiß«, sagte sie. »Aber ich bin alt und zäh.« Sie sah tatsächlich sehr robust aus, wie sie dort stand, mit ihrer vierschrötigen Gestalt, ihrem hässlichen Mantel, ihrem zweckmäßigen Filzhut und ihren klobigen praktischen Schuhen. »Sie sehen müde aus, meine Liebe.«
»Ich bin ebenfalls zäh.«
»Nun, das hoffe ich, Sally. Aber bleiben Sie nicht zu lange. Gute Nacht, meine Liebe.«
Sie eilte davon, und Sally wandte sich wieder Hiram P. Goldberger zu.
Bald darauf hörte sie, wie Mr Charles langsam nach unten kam. Mr Charles war dreißig Jahre jünger als Vater William, aber in mancher Hinsicht wirkte er älter. Seine grauen Haare waren dünn und spärlich, und seine Schultern immer ein wenig gebeugt. Er sah Sally freundlich an.
»Sie sehen müde aus, Sally«, sagte er. »Sie sollten nicht so oft Überstunden machen.«
Wäre es irgendjemand anderes als Mr Charles gewesen, hätte sie vielleicht gereizt darauf reagiert, dass man ihr nun innerhalb von fünf Minuten zum dritten Mal mitteilte, sie sehe müde aus. Aber man konnte Mr Charles unmöglich böse sein. Sie lächelte ihn an und sagte, es ginge ihr gut.
»Vielleicht ernähren Sie sich ja nicht ordentlich?«, meinte er, halb entschuldigend. »Junge Frauen, die für sich selbst sorgen müssen, vernachlässigen das häufig. Die glauben immer, es reicht, wenn man irgendein Zeug aus der Dose auf einen Gasbrenner stellt. Das meint jedenfalls meine Frau, und die hat für gewöhnlich recht.«
Mrs Charles hatte absolut recht, dachte Sally, aber sie antwortete nur mit ein paar vagen, freundlichen Worten. Mr Charles schüttelte den Kopf und sagte: »Wie auch immer, ich gehe jetzt besser nach Hause. Wir haben ein paar Gäste zum Abendessen eingeladen. Tim hat mich gerade daran erinnert, sonst hätte ich das vollkommen vergessen.« Er war immer auf entwaffnende Weise ehrlich, was seine Vergesslichkeit anbelangte. Er seufzte. »Tim selbst hat sich davor gedrückt, weil er eine junge Dame ausführt. Ich wünschte, ich könnte dasselbe tun. Also mich vor der Party drücken, meine ich«, fügte er hastig hinzu.
Sie lachten beide, und dann wünschte er ihr eine gute Nacht und verließ den Laden. Als Nächstes hörte sie Butchers aggressive Schritte auf der Treppe und war plötzlich eingehend mit der Tastatur ihrer Schreibmaschine beschäftigt.
»Hallo, Sally«, sagte Butcher, während er in den Laden geschlendert kam. »Schon wieder Überstunden? Das ist nicht gut für Sie, wissen Sie? Sie werden davon ganz bleich und dünn. Nun kommen Sie schon, gehen Sie was mit mir trinken! Die Pubs öffnen in einer Viertelstunde.«
»Nein, danke«, sagte Sally. »Ich habe hier noch Arbeit zu erledigen.«
Und schon stand er unmittelbar neben ihr und starrte auf ihre Liste herunter. Er roch nach billiger Haarpomade. »Der alte Hiram P.?« Er benutzte ein Schimpfwort, das in der Gesellschaft einer Dame nicht unbedingt passend war. »Heben Sie sich den doch für morgen auf.«
»Ich würde lieber heute Abend damit fertig werden.«
»Ach, jetzt kommen Sie schon«, sagte Butcher. »Sie sind ein viel zu hübsches Mädel, um hier den ganzen Abend herumzusitzen und zu arbeiten. Wollen Sie denn nicht mal ein bisschen Spaß haben?« Seine dicken Finger schlossen sich um ihre Schulter.
»Nein danke«, sagte sie kalt und entzog sich ihm.
Doch weil ihr Schreibtisch in einer Ecke stand, kam sie nicht weit.
Keiner von beiden hatte mitbekommen, wie sich die Tür zum Keller geöffnet und wieder geschlossen hatte. Doch jetzt hörte Sally ein leises Geräusch, drehte sich um und sah Fred Malling im Türrahmen stehen. Fred war sehr groß und dünn, fast schon ausgezehrt. Sein grauer Kittel schlotterte ihm so lose um den Körper, als umhüllte er ein Skelett. Die hellen Lampen über den Bücherregalen warfen dunkle Schatten auf seine hohlen Wangen und seine leuchtenden, eingesunkenen Augen. Sally fand plötzlich, dass er so aussah, als sei er einem El-Greco-Gemälde entstiegen. Und ebenso plötzlich dachte sie, dass diese neue Wendung der Ereignisse mit das Schlimmste war, was hätte passieren können.
Bevor sie etwas sagen konnte, rief Fred mit scharfer Stimme: »Sie dreckiges Schwein! Nehmen Sie gefälligst Ihre widerlichen Hände von Miss Merton!«
Sally stand auf und versuchte, etwas zu sagen, aber Butcher kam ihr zuvor.
»Also meine Hände sind widerlich, ja?«, sagte er. »Woher wollen Sie denn wissen, dass Sally sie widerlich findet? Sie armer Wicht! Sie haben’s grad nötig! Sie müssen sich Ihr Geld damit verdienen, dass Sie da unten im Keller Pakete schnüren.«
Freds bleiches Gesicht wurde rot. »Sie ist ein anständiges...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2024 |
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Übersetzer | Dorothee Merkel |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-608-12359-8 / 3608123598 |
ISBN-13 | 978-3-608-12359-3 / 9783608123593 |
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