Dunkles Wasser (eBook)
576 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-24244-2 (ISBN)
Eine stürmische Nacht an der Westküste Schottlands. Zwei Familien, die in einer Bucht zelten, werden im Schlaf von mehreren vermummten Männern überfallen. Die Gewalt eskaliert, am Ende überlebt nur Iris, die älteste Tochter einer der Familien, weil es ihr gelingt sich zu verstecken. Die Kilbride-Morde, wie sie von da an genannt werden, können nicht aufgeklärt werden. Viele Jahre später wird Iris plötzlich von einem unheimlichen Stalker verfolgt. Kurz darauf verschwindet ihre Freundin auf einer gemeinsamen Ferienreise spurlos. Opfer eines Verbrechens, das eigentlich Iris galt? Zufällig trifft Iris auf Ex-Inspector Caleb Hale. Zusammen mit Kate Linville beginnt er zu ermitteln und gerät, auch persönlich, immer tiefer in einen Albtraum ...
Weitere dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle warten auf Kate Linville und Caleb Hale - lesen Sie auch »Die Suche«, »Ohne Schuld«, »Einsame Nacht« und »Dunkles Wasser«! Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Ohne Schuld« und zuletzt »Einsame Nacht« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 33,3 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
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Samstag, 23. August 2008
1
Aline wachte von einem Geräusch auf, das sich von den anderen Lauten dieser Nacht unterschied. Von dem Rauschen der heranflutenden Brandung, von dem Seufzen, mit dem sich das Wasser über den Sand wieder zurückzog. Von den vereinzelten Möwenschreien. Von dem starken Wind, der am späteren Nachmittag so heftig und kalt aufgefrischt hatte, dass sie schon gehofft hatte, Edmond werde sich überreden lassen, das Zelt in der Bucht abzubauen und ein kuscheliges, kleines Hotel aufzusuchen. Aber natürlich hatte er den Wind – sie hatte ihn als Sturm bezeichnet und er hatte milde und etwas herablassend gelächelt – als besondere Herausforderung gesehen, der er sich unbedingt stellen wolle. Für ihn war das Campen am Meer in Schottland ein echtes Abenteuer. Er kam sich wie ein Wikinger vor oder wie ein erster Siedler oder ein Entdeckungsreisender. Sie fand das Ganze weniger abenteuerlich. Es war einfach nur ungemütlich. In vielen Teilen Europas herrschte jetzt im August herrliches Sommerwetter, nicht aber an der Westküste Schottlands. Die letzten Tage hatte es ununterbrochen geregnet, sodass der Sand auch hier ganz oben in der Bucht, wohin das Meer nicht reichte, nass und schwer war. Und kalt. Die Kälte drang durch den dünnen Zeltboden, da half selbst die Isomatte nicht viel. Zum Glück waren die Schlafsäcke sehr warm. Aber auch sie fühlten sich irgendwie klamm an. So wie alles, was sie im Zelt untergebracht hatten.
Sie war so froh gewesen, dass sie trotzdem hatte einschlafen können, aber nun richtete sie sich auf und lauschte hinaus in die Nacht. Was war das eben gewesen? Sie konnte das Meer hören und den Wind. Wahrscheinlich hatte sie nur geträumt.
Sie wollte sich gerade wieder hinlegen, sich so tief wie möglich in ihrem Schlafsack vergraben, da vernahm sie es wieder. Das Geräusch, das sie mutmaßlich geweckt hatte.
Ein Schrei.
Und zwar nicht der einer Möwe oder irgendeines anderen Vogels oder überhaupt eines Tieres. Es war der Schrei eines Menschen. Einer Frau. Er gellte durch die Nacht. Es war kein Schrei der Überraschung oder des Erschreckens, oder der Schrei einer lautstarken Auseinandersetzung.
Es war Todesangst. Sie war sich ganz sicher.
»Edmond!« Sie griff zu dem Schlafsack, der neben ihr lag. Sie konnte fast nichts sehen in der Dunkelheit, aber das Zelt war so winzig, dass sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihren Mann wach rütteln zu können. »Edmond, wach auf. Bitte!«
Edmond gab einen knurrenden Laut von sich. Wenn er schlief, dann schlief er. Dann konnte die Welt untergehen. Er war kaum wach zu kriegen.
Sie rüttelte an seinen Schultern. »Bitte! Wach doch auf!«
Erst als sie ihre Fingernägel zu Hilfe nahm, fuhr er hoch.
»Was ist denn?«, fragte er verwirrt und setzte gleich darauf hinzu: »Warum weckst du mich mitten in der Nacht?«
Sie konnte nur seine Umrisse erahnen, aber sie wusste genau, wie er aussah. Wie seine lockigen blonden Haare in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden. Wie er die Augen schlaftrunken zusammenkniff. Sie wusste, wie viel Wärme er ausstrahlte. Edmond wurde im Schlaf zu einem Backofen.
»Ich habe einen Schrei gehört«, sagte sie.
»Einen Schrei?«
»Ja. Er kam, glaube ich, aus der anderen Bucht. Von einer Frau.«
Sie hörte ihn gähnen. »Von einer Frau?« Er sagte das in einem Tonfall, der eigentlich ausdrückte: Aber sonst geht es dir noch gut?
»Ich bin ganz sicher. Zweimal habe ich es gehört. Es waren Angstschreie.«
»Aha. Das kannst du erkennen?«
»Ja.«
»Oh Gott, Aline. Hier schreien Möwen. Leg dich hin und schlaf wieder.«
»Edmond, ich …«
In diesem Moment ertönte der Schrei erneut.
Sie konnte spüren, dass Edmond erstarrte. Das beunruhigte sie noch mehr. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte ihr überzeugend klargemacht, dass sie sich tatsächlich etwas einbildete.
»Edmond,« wisperte sie.
Er schwieg. Sie wusste, dass er nach einer harmlosen Erklärung suchte. Es war kein gutes Zeichen, dass er so lange nichts sagte.
»Das ist die Bucht neben uns«, meinte er schließlich.
»Da ist doch diese Familie«, flüsterte Aline.
Sie hatten sie am späten Mittag des Vortages aus der Ferne ankommen sehen. Vater, Mutter, zwei Töchter. Sie hatten ihr Auto oben geparkt und waren mit Zelten und Rucksäcken beladen hinunter in die Bucht gestiegen. Die ältere Tochter, ein Teenager, hatte mürrisch dreingeblickt. Wahrscheinlich fand sie Ferien mit ihren Eltern das Allerletzte, und Camping war noch mal schlimmer. Aline hatte an ihren vierzehnjährigen Sohn Yanis gedacht, der sich rundweg geweigert hatte mitzukommen und jetzt vermutlich die zwei Wochen ohne Eltern nutzte, um ausschließlich vor seinem PC zu hocken.
»Da sucht man die Einsamkeit, und dann wimmelt es von Menschen«, hatte Edmond den Einzug der Familie mürrisch kommentiert, aber Aline hatte gelacht. Hier war weit und breit niemand. Nur sie selbst und nun diese anderen. Von wimmeln konnte gar keine Rede sein. Trotzdem hatte Edmond, nachdem sie am frühen Abend noch einmal nach West Kilbride gefahren waren und eingekauft hatten, ihr Auto bei der Rückkehr nicht auf dem Parkplatz, sondern ein kleines Stück entfernt in einem Feldweg abgestellt. Damit die fremde Familie die Nachbarn am besten gar nicht wahrnahm. Er war froh, dass zumindest eine Landzunge die beiden Buchten voneinander trennte.
Erneut erklang der Schrei. Laut und schrill. Er übertönte den Wind und die Wellen. Diese Frau schrie mit aller Kraft.
»Wir müssten mal nachsehen«, sagte Edmond. Sein leichter französischer Akzent, mit dem er Englisch sprach, hatte sich verstärkt. Edmond war Frankokanadier, was man ihm deutlich anhörte, wenn er in Stress geriet oder müde war. Jetzt, in diesem Moment, konnte Aline erkennen, dass es Angst war, die ihren Mann ergriffen hatte.
»Vielleicht kommen wir gar nicht hinüber«, flüsterte Aline. Bei Flut ragte die Landzunge so weit ins Meer, dass man nicht an ihr vorbei in die andere Bucht gelangen konnte. Dann konnte man nur den steilen Klippenpfad hinauf zur Hochebene klettern, dort oben entlanglaufen und ein ganzes Stück entfernt einen anderen Pfad wieder hinunternehmen. Bei Dunkelheit kein leichtes Unterfangen, zumal die Felsen auch noch nass waren vom Dauerregen.
»Ich laufe zur Landzunge und sehe mal nach«, sagte Edmond entschlossen. Seine Taschenlampe leuchtete auf. Aline sah, dass er sehr blass war.
»Soll ich mitkommen?«
»Warte lieber hier. Vielleicht kann ich sowieso nichts sehen. Es kommt darauf an, wie weit die Flut ist.«
»Sei vorsichtig.«
Edmond trug zum Schlafen einen Jogginganzug und Socken. Er kramte einen dicken Fleecepullover aus seinem Rucksack und streifte ihn über den Kopf. Dann griff er seine Turnschuhe und kroch aus dem Zelt.
Aline schaute auf ihre Armbanduhr. Achtzehn Minuten nach zwei Uhr in der Nacht. Sie suchte nach ihrem Handy, fand es irgendwo zwischen den Decken, die sie um ihren Schlafsack geschichtet hatte. Sie probierte aus, ob sie inzwischen Empfang hatten. Gestern war das nicht der Fall gewesen. Immer noch nichts! Weshalb hätte es sich auch geändert haben sollen? Verdammt, sie saßen in einer stürmischen Nacht in einem Zelt in einer gottverlassenen Bucht am Meer, nicht weit entfernt schrie eine Frau, als gehe es um ihr Leben, und sie konnten keinerlei Hilfe rufen. Weder die Polizei verständigen noch irgendjemanden sonst.
Vielleicht war es völlig falsch, dass Edmond nun versuchte, herauszufinden, was dort drüben gerade geschah. Vielleicht hätten sie sich schleunigst auf den Anstieg machen, sich in ihr Auto setzen, in eine belebtere Gegend fahren und die Polizei anrufen sollen. Sie kam sich zunehmend vor wie ein Tier in der Falle. Wenn dort drüben wirklich etwas Schlimmes geschah, dann waren auch sie selbst in Gefahr. Der Pfad nach oben war schon bei Tageslicht ein einziger Balanceakt, bei dem man es tunlichst vermeiden sollte, allzu oft nach unten zu blicken. Inmitten der schwarzen Nacht mochte Aline ihn sich kaum vorstellen. Noch weniger allerdings wollte sie hier in diesem Zelt warten bis … ja, bis was? Sie hatte ja keine Ahnung, was eigentlich vor sich ging. Am Ende war alles ganz harmlos.
Irgendwie glaubte sie das nicht.
Sie lauschte nach draußen. Der Wind war zu hören, die Brandung. Sonst nichts. Kein Schrei. Hatte sie sich getäuscht? Aber Edmond hatte es auch gehört. Und ernst genommen. Sonst wäre er nicht losgegangen.
Wo blieb er nur? Sie hatte das Gefühl, Stunden seien vergangen, seitdem er das Zelt verlassen hatte. Sie schaute erneut auf die Uhr. Sieben Minuten. Es waren erst sieben Minuten.
Die Nacht schien jetzt friedlich. Aline war dennoch entschlossen, am Morgen sofort von hier aufzubrechen. Keine einzige Nacht würde sie hier mehr verbringen, egal ob etwas passiert war oder nicht, egal ob Edmond stocksauer wäre. Sie wollte hier weg und irgendwohin, wo sie nicht völlig hilflos und allein waren.
Fast eine Viertelstunde war verstrichen, und sie fing an, sich ernsthaft Sorgen um ihren Mann zu machen und zu überlegen, ihm nachzugehen, da wurde der Reißverschluss am Zelteingang geöffnet. Edmonds Gesicht tauchte auf, beschienen vom Licht seiner Taschenlampe. Er war kreideweiß, und trotz des frischen Windes draußen glänzte Schweiß auf seiner Stirn.
Er sank mit den Knien auf seinen Schlafsack und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Wir müssen weg«, flüsterte er.
Sie starrte ihn an. »Jetzt? Sofort?«
Er nickte....
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Reihe/Serie | Die Kate-Linville-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Brückenphobie • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Caleb Hale • Cold Case • Deutsche Autoren • Die Betrogene • Die Suche • eBooks • england krimi deutsch • Frankreich • Kate Linville • kate linville reihe • Krimi • Krimiautorin • krimi empfehlung • Kriminalromane • Krimis • krimis neuerscheinungen 2024 • Neue Bestseller • Neuerscheinung • neuerscheinung 2024 • Neuerscheinungen 2024 • North Yorkshire • Nr.-1-Bestsellerautorin • Ohne Schuld • platz 1 autorin • Scarborough • Schottland • Scotland Yard • Spiegel-Bestsellerautorin • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Thriller • top autoren 2024 • Ungelöste Morde |
ISBN-10 | 3-641-24244-4 / 3641242444 |
ISBN-13 | 978-3-641-24244-2 / 9783641242442 |
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