Verlorene Sterne (eBook)
304 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-28199-8 (ISBN)
1864 kämpft Jude Star, ein Vorfahre Orvils, als Kind gegen die brutale Austreibung seiner indigenen Sprache und Kultur. Am Ende ist es der Alkohol, der ihn kurzzeitig in seiner Trauer auffängt und schließlich niederstreckt.
Meisterhaft verknüpft Tommy Orange die Schicksale zweier Jungen, zwischen denen 150 Jahre Kolonialgeschichte liegen, und zeigt uns Amerika in neuem Licht: als ein Kontinuum von Vertreibung und Gewalt, das nur hin und wieder von lichten Momenten des Widerstands unterbrochen wird.
Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Sein erstes Buch, Dort, dort, war für den Pulitzerpreis 2019 nominiert und erhielt den American Book Award 2019. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien.
DER Roman zum US-Wahljahr 2024: Ein spektakuläres Familienepos und eine vernichtende Anklage gegen Amerika von Tommy Orange
Der zweite Roman des Pulitzerpreis-Finalisten und Bestsellerautors zementiert seinen Status als einen der ganz Großen der amerikanischen Literatur.
Ein spektakuläres Familienepos und eine vernichtende Anklage gegen Amerikas Krieg gegen das eigene Volk.
»Verlorene Sterne ist die Art von Buch, die Leben rettet.« Kaveh Akbar
Prolog
In der Zivilisierung der Indianer bin ich ein Täufer, denn ich halte es für geboten, die Indianer in unsere Zivilisation einzutauchen und sie nicht mehr hinauszu-lassen, bis sie ganz und gar durchtränkt sind.
Richard Henry Pratt
Es gab in dieser Welt Kinder und es gab die Brut der Indianer, denn die grausamen Wilden dieser amerikanischen Lande brachten eigentlich keine Kinder hervor, sondern Nissen, und aus Nissen werden Läuse, so sagte zumindest der Mann, der das Massaker am Sand Creek wie eine Insektenvernichtung darstellen wollte, bei dem im Morgengrauen siebenhundert Besoffene mit Geschützen kamen, so wie auch beinahe auf den Tag genau vier Jahre später am Washita River, wo man hinterher siebenhundert Pferde der Indianer zusammentrieb und einem nach dem anderen in den Kopf schoss.
Solche Ereignisse nannte man Schlachten, dann später — manchmal — auch Massaker in Amerikas längstem Krieg. Dieser Krieg, der länger angehalten hat, als es die USA heute gibt. Dreihundertunddreizehn Jahre. Und nach all dem Töten und Vertreiben und Versprengen und Wieder-Zusammentreiben von Indianern, um sie in Reservate zu sperren, und nachdem die Bisonpopulation von rund dreißig Millionen auf ein paar Hundert Wildtiere zusammengeschossen war, schließlich bedeute »jeder tote Bison einen Indianer weniger«, kam ein neuer politischer Slogan für das Indianerproblem auf: »Den Indianer töten, um den Menschen zu retten.«
Als die Indianerkriege langsam abkühlten, als Landraub und Selbstverwaltung der Stämme zu bloßer Bürokratie wurden, steckte man die Indianerkinder in Internate, wo sie, wenn sie nicht an vermeintlicher Schwindsucht starben, während man sie häufig hungern ließ; wenn man sie nicht unter den Verpflichtungen ihrer Ausbildung für die landwirtschaftliche oder industrielle Arbeit oder die Vertragsknechtschaft verschüttete; wenn man sie nicht auf Kinderfriedhöfen begrub oder anonym verscharrte, wenn man sie nicht verlor, irgendwo zwischen der Schule und dem Zuhause, fortgelaufen, unbegraben, ungefunden, unüberliefert, verloren zwischen Exil und Zuflucht, zwischen Schulen, Stammesheimat, Reservat und Stadt; wenn sie die regelmäßigen Schläge und Vergewaltigungen überstanden, wenn sie überlebten, eine Familie gründeten und sich ein Zuhause aufbauten, dann nur aus diesem einen Grund: Diese Indianerkinder trugen unerträgliche Lasten.
Doch noch vor den Internaten, nämlich 1875, wurden einundsiebzig indianische Männer und eine indianische Frau in Oklahoma als Kriegsgefangene genommen und in einen Zug nach St. Augustine, Florida, gesteckt, wo man sie in eine sternförmige Gefängnisfestung steckte, eine Sternschanze. Es war das älteste gemauerte Fort des Landes in der ältesten europäischen Siedlung Nordamerikas, Ende des siebzehnten Jahrhunderts auf Befehl der Spanier aus Coquina — einem Kalkgestein aus fossilen Muschelfragmenten — von indianischen Zwangsarbeitern erbaut. Das Fort, das die Atlantik-Handelsroute schützen sollte, wurde von den Spaniern Castillo de San Marcos genannt, nach dem Evangelisten Markus, dem Schutzpatron aller möglichen Dinge, darunter auch der Gefangenen. Später, unter der Herrschaft der Vereinigten Staaten, wurde es zum Fort Marion, nach Francis Marion, dem Helden des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mit Spitznamen the Swamp Fox, von dem man weiß, dass er seine Sklavinnen vergewaltigt und zum Vergnügen Indianer gejagt hat.
Der Gefängnisdirektor Richard Henry Pratt befahl, dass man ihnen die Haare schnitt und sie in Militäruniformen steckte. Außerdem ließ er den indianischen Kriegsgefangenen im Fort Marion Kontobücher aushändigen, in denen sie zeichnen sollten. Einer der Southern Cheyenne namens Howling Wolf war darin besonders geschickt, weil er früher mit seinen Malereien auf Bisonhäuten Geschichten erzählt hatte. In den Heften zeichnete er Dinge von lang her und weit oben. Aus der Vogelperspektive. Das hatte er so auf den Bisonhäuten noch nicht gemacht. Erst nach der langen Zugfahrt von Oklahoma nach Florida mit Eisenketten um die Handgelenke und Fußknöchel begann Howling Wolf zu zeichnen, wie die Vögel die Welt sehen. Die Vögel haben von allen Wirbeltieren den schärfsten Blick, sie sind heilig, denn sie gleiten durch den Himmel, und mit nur einer ihrer Federn und ein wenig Rauch schaffen es Gebete zu Gott.
Die Indianer durften ihre Zeichnungen an die Weißen verkaufen, die sich die Kriegsgefangenen anschauen kamen, Kiowa, Comanche, Southern Cheyenne, Arapaho und Caddo, sie wollten sie beim Tanz in voller Indianermontur sehen, einen letzten Blick auf die verschwindenden Völker werfen, eine Zeichnung mitnehmen, eine polierte Strandbohne oder einen Satz Pfeil und Bogen, sogenannte Kuriositäten, wie Souvenirs von einem Vergnügungspark oder einer der damals so beliebten Völkerschauen, bei denen auch oft Indianer gezeigt wurden. Diese von Indianern angefertigten Zeichnungen indianischen Lebens auf Papier, das ursprünglich für die Buchführung vorgesehen war, war die erste Kommerzialisierung indianischer Kunst überhaupt. Pratt nutzte seine Erfahrungen mit der Gefängnisfestung zur Planung der Carlisle Indian Industrial School, die nur ein Jahr nach Entlassung der letzten Gefangenen eröffnet wurde.
Von 1879 an wurden indianische Eltern ermutigt und bedrängt und unter Androhung von Haftstrafen genötigt, ihre Kinder zur Schule zu schicken. In einem Fall wurde ein Elternpaar der Hopi aus Arizona neun Monate lang auf Alcatraz festgehalten, weil es sich einer solchen Anordnung widersetzt hatte. Man nahm den Gefangenen die Kleider, gab ihnen Militäruniformen und sagte ihnen, sie müssten bleiben, bis sie sich nachweislich von ihrem Irrweg abgewandt hätten. Man hielt sie in Holzverschlägen fest, die kleiner waren als die späteren Einzelhaftzellen des berüchtigt drakonischen Gefängnisses. Tagsüber mussten sie große Baumstämme zersägen wie in einem Cartoontraum vom Schlafen. Als man sie entließ und zurück nach Arizona schickte, weigerten sie sich weiterhin, ihre Kinder zur Schule zu schicken, und wurden wieder und wieder eingesperrt.
Manche indianische Eltern verstanden, dass man ihre Kinder als Geiseln nahm, um die problematischeren Stämme fügsam zu machen. Andere Kinder wurden ihren Familien gewaltsam entrissen und auf das Eisenpferd gesetzt, wie es einige der Indianer damals nannten, in einem der lauten Züge reisten sie durch unbekanntes Land zu einer Schule, wo sie Krankheiten und Hunger ausgesetzt waren und man ihnen beibrachte, dass alles am Indianersein falsch war. Bald mussten Indianerkinder per Gesetz solche Schulen besuchen, während man indianische Medizin, indianische Zeremonien, Riten und Rituale verbot.
In Carlisle erklärte man ihnen, dass sie nun Carlisle-Indianer werden würden. Ein neuer Stamm, zusammengesetzt aus vielen Stämmen, doch keinem von diesen zugehörig, sondern der Schule, die der Regierung der Vereinigten Staaten angehörte und von ihr finanziert wurde.
Bei ihrer Ankunft schnitt man ihnen das lange Haar ab, nahm ihnen die Kleider und teilte ihnen mit den Militäruniformen auch neue Namen zu — es ging also sofort in den Krieg. Jeden Tag exerzierten sie, marschierten auf wie zum Kampf gegen sich selbst, erst von außen nach innen, dann, einer Krankheit gleich, auch von innen nach außen. Redeten die Indianerkinder Englisch statt ihrer Muttersprachen, wurden sie anfangs belohnt, doch es blieb nicht lange bei solchen Würdigungen der Abkehr von Indianerdingen. Prügel und Arrest und zahllose andere Arten der Misshandlung wurden alltäglich. Es galt den ganzen Indianer zu töten, um ihn zu retten. Später hieß es, der Tod eines indianischen Kindes war in den Internaten genauso wahrscheinlich wie der Tod eines Soldaten in einem der Weltkriege.
Und all die Indianerkinder, die jemals Indianerkinder waren, blieben stets Indianerkinder und brachten nicht Nissen zur Welt, sondern Indianerkinder, deren Indianerkinder ebenfalls Indianerkinder zur Welt brachten, deren Indianerkinder American Indians wurden, deren American-Indian-Kinder Native Americans wurden, deren Native-American-Kinder sich Natives nannten oder Indigene oder NDNs oder die Namen ihrer souveränen Nationen oder ihrer Stämme trugen und die allzu oft zu hören bekamen, sie seien gar keine echten Indianer, nämlich von allzu vielen Amerikanern, die in der Schule gelernt hatten, die einzig wahren...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2024 |
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Übersetzer | Hannes Meyer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Wandering Stars |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller • Bürgerkrieg • Cheyenne • Colson Whitehead • Genozid • Indianer • indigen • James Baldwin • Kolonialismus • Minderheit • Native Americans • Nordamerika • Opioidkrise • Präsidentschaftswahl 2024 • Rassismus • Reservat • Sand-Creek-Massaker • Sklaverei • Sucht • Toni Morrison • transgenerational • Trauma • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-446-28199-1 / 3446281991 |
ISBN-13 | 978-3-446-28199-8 / 9783446281998 |
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