Was gut ist und was böse (eBook)
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3279-6 (ISBN)
Lese- und Medienproben
Kai Sina, geboren 1981 in Flensburg, ist Inhaber der Lichtenberg-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster und leitet die an den Lehrstuhl angeschlossene Thomas-Mann-Arbeitsstelle. Gemeinsam mit Hans Rudolf Vaget (Northampton, USA) gibt er die im amerikanischen Exil entstandene Essayistik Thomas Manns (1939-1945) heraus. Der Band wird im Rahmen der?Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe?der Werke Thomas Manns (GKFA) erscheinen.
Kai Sina, geboren 1981 in Flensburg, ist Inhaber der Lichtenberg-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster und leitet die an den Lehrstuhl angeschlossene Thomas-Mann-Arbeitsstelle. Gemeinsam mit Hans Rudolf Vaget (Northampton, USA) gibt er die im amerikanischen Exil entstandene Essayistik Thomas Manns (1939 – 1945) heraus. Der Band wird im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA) erscheinen.
Was unserem Europa zustoßen könnte
Julius Moses war ein in Berlin ansässiger sozialdemokratischer Politiker, Arzt und Publizist. Als Sympathisant des Zionismus organisierte er im Jahr 1907 eine Rundfrage, die er an nicht weniger als 3000 Personen des öffentlichen Lebens verschickte – an Juden und Nichtjuden, Männer und Frauen, an Minister, Parlamentarier, Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler, Philanthropen und Industrielle. Gegenstand seines Rundschreibens war die »Judenfrage«, also die seit Gründung des Kaiserreichs erregt geführte Debatte um die gesellschaftliche Stellung der Juden in Deutschland.27 Dem Begriff »Judenfrage« hafteten dabei noch keine per se negativen Konnotationen an, zumal und naturgemäß nicht jene, die sich heute mit der nationalsozialistischen »Endlösung der Judenfrage« verbinden. Vielmehr wurde der Begriff von unterschiedlichen jüdischen und nichtjüdischen Parteien für ihre jeweiligen Interessen und Ziele in Anspruch genommen. »Nicht erst der Zionismus hatte die ›Judenfrage‹ aufgeworfen«, liest man dazu in der historischen Forschung, »und nicht bloß Antisemiten stellten sie.«28 Eine Auswahl der von Moses eingeholten Antworten, darunter die von Thomas Mann, erschien 1907 unter dem Titel Die Lösung der Judenfrage in einem mehr als 300 Seiten starken Sammelband. Der heutigen Gattungstypologie folgend, würde man vielleicht von einem Debattenbuch sprechen.
Moses’ Rundfrage ging Thomas Mann persönlich an. Da gab es zum einen die kurz zuvor aufgestellte Behauptung des völkischen Literarhistorikers und Germanisten Adolf Bartels, die Brüder Heinrich und Thomas Mann seien als deutsche Schriftsteller getarnte Juden – so geschehen in dessen 1906 erschienenem Handbuch zur Geschichte der deutschen Literatur.29 Für Bartels drückt sich das von ihm konstatierte Jüdischsein der Brüder in der »Freude am Verfall« in ihren Romanen und Erzählungen aus, in der »Dekadenz«. Eine solche Prosa sei »doch wohl kaum ohne jüdische Blutzumischung« denkbar. Zugegeben« hätten »sie selber« allerdings »nur eine kreolische Blutmischung«, womit Bartels auf die brasilianische Herkunft der Mutter anspielt, Julia da Silva-Bruhns, verheiratete Mann.30
Nicht erst aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie so etwas jemals als seriöse Literaturgeschichte hat durchgehen können – oder, genauer, für wen Bartels’ Schriften als solche gelten konnten. Kurt Tucholsky jedenfalls ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von der grotesken »Judenriecherei« hielt. Für ihn war Bartels nichts anderes als ein »im Irrgarten der deutschen Literatur herumtaumelnder Pogromdepp«.31
Ein weiterer Grund, warum Thomas Mann Moses’ Rundfrage nicht gleichgültig sein konnte, betraf sein literarisches Werk. So hatte er sich mit seiner 1905 geschriebenen Novelle Wälsungenblut dem folgenreichen Verdacht ausgesetzt, eine antisemitische Erzählung geschrieben und dadurch die Familie seiner Frau Katia, die großbürgerlichen Pringsheims, in die er kurz zuvor eingeheiratet hatte, »fürchterlich compromittirt« zu haben.32 Worum geht es in dem Prosastück? Wälsungenblut erzählt die Geschichte des jüdischen Geschwisterpaars Sigmund und Sieglind Aarenhold, das sich gegen den nichtjüdischen Verlobten der Schwester verbündet, den Verwaltungsbeamten von Beckerath. Am Ende der Erzählung kommt es zum Inzest der Geschwister, der in den bösen Schlusssatz mündet: »Beganeft haben wir ihn, – den Goy.«33 Boshaft ist dieser Satz im doppelten Sinne: vordergründig gegenüber dem ebenso treuherzigen wie geistlosen Verlobten, an den er sich ausdrücklich richtet; hintergründig aber auch gegen das Zwillingspaar, dessen Verhalten durch den Autor, der allein an dieser Stelle aufs Jiddische zurückgreift,34 als Ausdruck jüdischer Arroganz und Hinterlist gedeutet wird – beides klassische Topoi aus dem Katalog des Antisemitismus.
Die äußere Nähe zur Wirklichkeit – die einer jüdisch-assimilierten Familie entstammenden Zwillinge, ihr mehr als wohlbetuchtes und hochkultiviertes Umfeld, der Wagnerianismus – war für Thomas Manns Umfeld und noch darüber hinaus ohne Weiteres zu entschlüsseln. Um einen Skandal in der Familie und möglicherweise im Münchner Justemilieu abzuwenden, sah er sich dazu genötigt, die Veröffentlichung der Erzählung, die mit der Redaktion der Neuen Rundschau bereits abgesprochen war, kurzfristig abzusagen – so zumindest die gängige Deutung des Sachverhalts.35 Und tatsächlich wäre der Preis, den er für die Publikation hätte zahlen müssen, immens gewesen, galt seine junge Frau Katia doch vor ihrer Heirat als »die beste Partie von ganz München«, mit der nicht nur »das große Geld« in sein Leben kam.36 Mit der Verehelichung waren für Thomas Mann, der in der Schwabinger Bohème über ein ganzes Jahrzehnt hinweg ein unstetes und ungefestigtes Junggesellenleben geführt hatte (nicht zuletzt in Fragen der Erotik und Sexualität),37 die äußeren Rahmenbedingungen für eine bürgerliche Existenz gegeben. Mit der Veröffentlichung von Wälsungenblut hätte er all das aufs Spiel gesetzt.38
Man sollte diese biografischen Hintergründe berücksichtigen, um Manns Antwort auf Julius Moses angemessen einzuordnen. Sie erübrigt sich darin aber nicht. Zugleich ist sie ein politischer Essay, der zwar von persönlichen und literarischen Anliegen ausgeht, von dort aus den Horizont aber ins Gesamtgesellschaftliche weitet. Um zu sehen, wie sich Thomas Mann in der aktuellen Debatte positioniert, muss man seine Argumentation Schritt für Schritt nachvollziehen, ohne gleichzeitig die medialen Publikationskontexte außer Acht zu lassen.
Unentbehrlicher Kulturstimulus
Wie drängend sich die »Judenfrage« für Thomas Mann stellte, zeigt gleich der erste Satz seiner Antwort, in dem er sich mit scharfem Sarkasmus gegen Adolf Bartels und dessen völkische Pseudogermanistik wendet: Entgegen der »bestechenden Hypothese des Herrn Adolf Bartels« sei er »kein Jude«, stellt er da fest, um gleich im Nachsatz hinzuzufügen, dass er »weder Recht noch Lust [habe] zu irgendwelchem Rassen-Chauvinismus«. Für seinen Teil könne er nur bekennen, »ein überzeugter und zweifelloser ›Philosemit‹« zu sein.39
Die Selbstbezeichnung ist nicht ohne Tücken. Denn so eindeutig Mann sich vom »Rassen-Chauvinismus« abgrenzt, so unweigerlich und zeittypisch geht er als »Philosemit« von einem bestimmten Wesen, einer festen Essenz und damit von einer Alterität der Juden im Verhältnis zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft aus. Genau darin besteht die Grundambivalenz des »Philosemitismus« im Kaiserreich (und wahrscheinlich darüber hinaus), der weniger auf »eine gleichberechtigte Anerkennung von Juden als Juden« hinauswollte, »als sich eine idealisierte jüdische Bezugsgruppe als fiktiven Gesprächspartner« herbeikonstruierte, wie der Historiker Michael Brenner darlegt.40
Im Anschluss an die Ausführungen des selbsterklärten »Philosemiten« meldet sich der »Novellist« Thomas Mann zu Wort, der in der »Judenfrage« weniger eine sozialpolitische Herausforderung als »einen persönlich-menschlichen Konflikt, ein rein psychologisches Problem« erkennen will, »und zwar eines von höchstem Reiz«.41 Was hierauf folgt, ist die Darstellung eines vorgeblichen jüdischen Charakters, die sich nahezu bruchlos auf die Künstler- und Außenseiterfiguren in Manns erzählerischem Frühwerk, in Tonio Kröger oder im Kleinen Herrn Friedemann, übertragen lässt: Von den »Kompliziertheiten« des jüdischen »Wesens« ist da die Rede, von einem »perversen Snobismus« bei gleichzeitiger »Sehnsucht, sich den Regelrechten zu ›assimilieren‹«, vom »Stolz des Vereinzelten« zwischen »Frechheit und Unsicherheit, Zynismus und Sentimentalität, Schärfe und Schwermut«.42 Die Einsicht, die Thomas Mann zwanzig Jahre später – unter fundamental anderen historischen Bedingungen – gegenüber der Jüdischen Revue zu Protokoll geben wird, bleibt zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich unbedacht: die Einsicht, dass es schlicht und ergreifend »zu verschiedene Juden« gebe, um eine von allen geteilte, fest umrissene Identität ausmachen zu können, und sei es unter dem (scheinbar) wohlmeinenden Vorzeichen des Philosemitismus.43
Erst nach alldem – nach der an Bartels gerichteten Zurückweisung und den Ausführungen des Novellisten – formuliert Mann seine Antwort auf die von Moses vorgegebene »Judenfrage«. Dabei schlägt er zunächst optimistische Töne an, in denen unverkennbar die liberalen Fortschrittsgedanken des bürgerlichen 19. Jahrhunderts mitklingen, vollkommen in Übereinstimmung mit dem, was eine Generation später die historische Forschung und...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Schlagworte | AfD • Betrachtungen eines Unpolitischen • Bundesrepublik • Demokratie • Doktor Faustus • Engagement • Exil • Holocaust • Innere Emigration • Israel • Nationalsozialismus • Pacific Palisades • Poltik • SA • USA • Westbindung • Zionismus |
ISBN-10 | 3-8437-3279-5 / 3843732795 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3279-6 / 9783843732796 |
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