Weiter nach Osten (eBook)
90 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78034-3 (ISBN)
Eine transsibirische Fahrt ins Ungewisse und die Geschichte einer außergewöhnlichen Anziehung - zupackend und zart erzählt Maylis de Kerangal von zwei Menschen, die nicht wissen, wohin; von der Weite der russischen Landschaft und einem Fluchtplan, der so undurchführbar wie verführerisch scheint.
Aljoscha ist Zwangsrekrut. Zusammen mit zahlreichen anderen russischen jungen Männern befindet er sich in der transsibirischen Eisenbahn. Was ihn von den anderen unterscheidet: Seit er den Zug bestiegen hat, ist er entschlossen zu desertieren. Jede Haltestelle birgt die Versuchung der Flucht, doch wird er es allein nicht schaffen. Während er mitternachts auf den schmalen Gängen eine Zigarette raucht, trifft er auf Hélène, eine Französin, die älter ist als er. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache, und doch scheint es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden zu geben. Als Hélène ihn mit in ihren Wagen der ersten Klasse nimmt, wird sie unausgesprochen zu seiner Komplizin. Doch wie soll sie, die selber auf der Flucht ist, dem Jungen helfen?
Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman <em>Die Brücke von Coca</em> wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, <em>Die Lebenden reparieren</em> gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.
Die da kommen aus Moskau
Die da kommen aus Moskau und wissen nicht, wohin sie fahren. Es sind viele, über hundert, junge Kerle, blass, geradezu bleich, abgezehrt und kahlgeschoren, die Arme sehnig, der Blick starr, der Oberkörper in ein khakifarbenes Unterhemd gezwängt, Tarnhosen und Slips mit Eingriff, das fromme Kettchen baumelt auf der Brust, Wände aus Kerlen in den Gängen, sitzende, stehende, auf den Pritschen liegende Kerle, die ihren Arm, ihre Füße, ihre resignierte Langeweile ins Leere hängen lassen, über vierzig Stunden sind sie schon hier, dicht an dicht, eingekeilt in der Latenzzeit des Zugs, Rekruten.
Bei der Einfahrt in den Bahnhof stehen sie auf, drücken sich an die Fenster, pressen das Gesicht an die Scheibe oder drängeln sich an den Türen, schubsen, beugen sich hinaus, versuchen etwas zu sehen, Glieder verknäuelt und Hälse gereckt, als bekämen sie nicht genug Luft, Kraken, doch es ist seltsam, sie steigen zwar aus, um auf dem Bahnsteig zu rauchen oder sich die Beine zu vertreten, aber sie entfernen sich nie sehr weit, sammeln sich vor den Trittbrettern, Herdentrieb, und zucken mit den Schultern, wenn man sie fragt, wohin sie fahren: Man hat ihnen Krasnojarsk und Barnaul gesagt, man hat ihnen Tschita gesagt, aber es ist immer dasselbe, man sagt ihnen nichts, General Smirnow mag auf Pressekonferenzen noch so sehr versichern, die Dinge veränderten sich, die Rekruten würden mit Rücksicht auf die Familien von nun an ihren Einsatzort erfahren; jenseits von Nowosibirsk, so scheint es, bleibt Sibirien, was es immer war: eine Grenzerfahrung. Eine Grauzone. Hier oder dort, das wäre also egal; hier oder dort, was ändert das schon? Nach der Übergabe des Gepäcks verfrachtet man alle in die Transsibirische und los.
Dann die unumkehrbaren Schienen, die das Land auffalten, Russland ausbreiten, ausbreiten, ausbreiten in ihrem Verlauf zwischen dem 50. und dem 60. nördlichen Breitengrad, und die Jungs, die in den Waggons kleben, die geschorenen Schädel bleich, die Schläfen schweißnass, unter ihnen Aljoscha, zwanzig Jahre alt, kräftig gebaut, doch der Körper von gegensätzlichen Impulsen gesteuert, der Rumpf vorgebeugt, während die Schultern, cholerisch, nach hinten gezogen sind, ein Teint wie Zement, die Augen schwarz, postiert ganz hinten im Zug, am Ende des letzten Wagens, in einem mit Ölfarbe angestrichenen Abteil, einer mit drei Öffnungen versehenen Zelle, die sich die Raucher angeeignet haben. Dort hat er einen Platz gefunden, eine noch freie Lücke zwischen zwei anderen Körpern. Seine Stirn ist an die Heckscheibe des Zugs gedrückt, die auf die Gleise hinausgeht, er lehnt sich dagegen, um mit sechzig Stundenkilometern die Erde vorbeiziehen zu sehen, in diesem Moment eine wollige graulila Steppe – sein Scheißland.
Bis zuletzt hat Aljoscha geglaubt, er werde nicht fahren. Bis zum 1. April, dem Tag der traditionellen Frühjahrseinberufung, hat er gedacht, er könne dem Militärdienst entgehen, das System austricksen und sich freistellen lassen, und übrigens gibt es in Moskau keinen Einzigen zwischen achtzehn und siebenundzwanzig, der nicht dasselbe versucht. Bei diesem Spiel sind die Söhne aus guter Familie im Vorteil, die anderen lavieren sich durch, während ihre Mütter sich auf dem Puschkin-Platz die Kehle aus dem Leib schreien, in noch größerer Zahl seit dem Martyrium des Soldaten Sytschow und versammelt um Valentina Melnikowa, die Vorsitzende des Komitees der Soldatenmütter – beeindruckend, wütend, resolut, und wenn die Kameras auftauchen, strecken sie ihnen die entschlossenen Gesichter entgegen: Ich will nicht, dass meiner da hingeht, außerdem trinkt er nicht! Ist keine Zurückstellung mehr möglich, gibt es zunächst die Lösung des falschen Attests, zum Wucherpreis bei Ärzten gekauft, die sich die Scheine direkt in die Brusttasche stecken, und die Familien, die es sich vom Mund abgespart haben, betrinken sich erleichtert. Die frontalen Bestechungsversuche, die kommen danach, wenn die Angst allmählich die Nächte auffrisst, sie sind wirkungsvoll, aber langsam zu bewerkstelligen, und gleichzeitig rast die Zeit – Erkundigungen einholen über die Einflusskanäle in den Behörden, die richtige Person ausmachen, die intervenieren kann, all das dauert ewig. Und schließlich, wenn man nichts mehr tun kann, wenn alles zu spät ist, gibt es noch die Mädchen. Eine finden noch vor dem Winter und ihr ein Kind machen, das ist, was einem bleibt, denn ab dem 6. Monat gilt eine Schwangerschaft als Befreiungsgrund. Man darf also nicht trödeln, die Jungs werden nervös, die Mädchen auch, denn sie wollen ihren Liebsten nicht zum Wehrdienst aufbrechen sehen, das heißt in den Krieg, oder sie liebäugeln mit dem Eheglück, doch die meisten sind allein und schämen sich dafür. Es wird hitzig, bald schmeißt man die Gummis weg, schafft auf knarzenden Matratzen Tatsachen und zeigt der Armee den Stinkefinger.
Ein Mädchen als Rettung, an diesem Punkt war Aljoscha noch vor sechs Monaten – Aljoscha, der keine Mutter mehr hat und kein Geld. Abend für Abend hatte er sich rasiert, sich gewöhnliche Brillantine in die Haare geschmiert und seine besten Klamotten angezogen – langsame Verrichtungen, zögerliche Gesten, wenig Überzeugung –, dann war er hinausgegangen in die harte Nacht, hatte vor den Bars den Schritt verlangsamt und ins Innere gespäht, in ihre schwarzrote Tiefe, war in Fast Foods rumgehangen und schließlich in der Disko gelandet zusammen mit einem jüngeren Nachbarn, einem kleinen verkrüppelten Gauner, der überall freien Zutritt hatte und ihn mit schnarrender Stimme zum Handeln aufforderte, na los, man muss sich ein bisschen einsetzen, es wird dir nicht einfach in den Schoß fallen, prophezeite er erfahren, während er den in Technospasmen vereinten Körpern zuschaute, denen Aljoscha den Rücken zuwandte, da er in sich gekehrt am Tresen stand, die Schultern hochgezogen, der Rücken rund, die Nase in einem Glas Whisky, das er nicht bezahlen konnte. Bald war er nur noch in der gigantischen Siedlung herumgeirrt, in der er mit seiner Großmutter lebte, hatte sich in die Treppenhäuser gesetzt, in den Innenhöfen gewartet: er hatte aufgegeben, beendet, was nie begonnen hatte, diese Demütigung, diesen Schwindel. Kein Mädchen war je gekommen, um ihn zu retten, auch nicht die, die in seinen Träumen über den Schulhof ging, fatal und ruhigen Schritts, langer roter Wollmantel, schwarze Lederhandschuhe, graue Fellmütze, darunter blond: ein eigener Planet – sie schon gar nicht.
Sie haben Nowosibirsk verlassen und den riesigen Hauptbahnhof, die hohen Wände von milchigem Grün, die gekachelte Halle mit der Akustik eines Stadtbads – ein Eistempel. Aljoscha hat Angst. Sibirien, verflucht! Das denkt er, einen Stein im Magen und geradezu in Panik bei der Vorstellung, immer noch weiter vorzudringen in dieses Land, von dem er weiß, dass es eines der Verbannung ist, das riesige Verlies des Zarenreichs, bevor es zum Land des Gulags wird. Ein Sperrgebiet, eine stumme, gesichtslose Zone. Ein schwarzes Loch. Der monotone Rhythmus des Zugs dämpft nicht etwa seine Angst, sondern facht sie an und belebt sie, spult die Kolonnen von Deportierten ab, Spitzhacke in der Hand, im Schneesturm, die Reihen windiger Baracken im Nirgendwo, die Haare, die der Frost in der Nacht auf die Bretterböden geklebt hat, die steifgewordenen Leichen unter dem Permafrost, verwackelte Bilder eines Gebiets, aus dem man nicht zurückkommt. Draußen geht der Nachmittag zu Ende, in ein paar Stunden ist es Nacht, doch diese Nacht wird sich nicht mit menschlichen Träumen bevölkern, das weiß Aljoscha auch, nichts hier ist dem Menschen gemäß, nichts Vertrautes wird ihn hier empfangen, gerade das erschreckt ihn, diese Kontinentaltasche im Innern des Kontinents, diese Enklave, die die Unermesslichkeit als Grenze hat, dieser endliche Raum, der aber grenzenlos ist – und, das ist seltsam, dem Bild entspricht, das die Astrophysiker vom Universum selbst zeichnen –, all das macht Angst, das versteht man sofort, Aljoscha hat Schiss, sein Herz hämmert in der Brust, und so wie der Zug mit konstanter Geschwindigkeit vorwärtsrollt, nimmt das Entsetzen des Jungen zu: am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen und die dedowschtschina, das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein,...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
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Übersetzer | Andrea Spingler |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tangente vers l'est |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • Anziehung • Baikalsee • besondere Verbindung • Bücher Neuererscheinung • Deserteur • Die Brücke von Coca • Die Lebenden reparieren • Distanz • Eine Welt in den Händen • Entfremdung • Flucht • Frauen • Freundschaft • geheimnisvolle Verbindung • Grand Prix RTL-Lire 2014 • Grenze • Kanus • Krieg • Kriegsflüchtige • Landschaft • Liebe • Nähe • Neuererscheinung • Neuer Roman • neues Buch • Paul-Celan-Preis 2021 • Porträt eines jungen Kochs • Prix des Lecteurs l’Express-BFMTV 2014 • Prix Médicis • Prix Orange du Livre 2014 • Prix Paris Diderot – Esprits libres 2014 • Prix Relay des Voyageurs avec »Europe 1« 2014 • Reise • Reisebericht • Roman des étudiants France Culture – Télérama 2014 • Russland • Russland: Sibirien • Sehnsucht • Soldat • Sprachprobleme • Tangente vers l'est deutsch • Transsibirische Eisenbahn • Übersetzung • Ukraine • Ungewisse • Unübersetzbarkeit • Verständnisprobleme • Versuchung der Flucht • Wehrpflichtige • Weite • Zugfahrt • Zwangsrekrutierung |
ISBN-10 | 3-518-78034-4 / 3518780344 |
ISBN-13 | 978-3-518-78034-3 / 9783518780343 |
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