Mandel (eBook)
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3639-5 (ISBN)
Der Überraschungserfolg aus Südkorea!
Der Junge Yunjae ist ein Außenseiter. Eine angeborene Erkrankung macht es ihm schwer, Gefühle wie Angst, Freude oder Wut zu empfinden. Als er von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt ist, wächst er über sich hinaus, schließt überraschend Freundschaft und weckt Kräfte in sich, die er nie für möglich gehalten hätte ...
Eine ergreifende Geschichte darüber, wie Liebe, Freundschaft und der Mut, sich anderen zu öffnen, ein Leben für immer verändern können.
Über 600.000 verkaufte Exemplare in Südkorea: Der Kultroman endlich auf Deutsch!
»Ein kühnes, originelles Stück Literatur, das die Tiefen des menschlichen Daseins mit unglaublich viel Humor auslotet.« Entertainment Weekly
»Intensiv und bewegend, ein phänomenales Buch.« Wall Street Journal
»Dieses Buch hat ein so sanftes Herz.« Salon
Ein großartiger Roman für alle Leser:innen von Sayaka Muratas »Die Ladenhüterin« und Mark Haddons »Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone«.
Won-pyung Sohn ist eine in Südkorea lebende Autorin, Filmregisseurin und Drehbuchautorin. Sie absolvierte ein Studium in Sozialwissenschaften und Philosophie an der Sogang-Universität sowie ein weiteres in Filmregie an der Korean Academy of Film Arts. »Mandel« ist ihr literarisches Debüt und wurde in Südkorea und international zu einem überragenden Erfolg und erscheint nun in 20 Sprachen.
Zweiter Teil
19.
Ich besuchte Mama jeden Tag im Krankenhaus. Sie lag still da und atmete nur. Von der Intensivstation war sie in ein Sechsbettzimmer verlegt worden. Jeden Tag kam ich vorbei, setzte mich neben sie und wärmte mich im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel.
Ein Arzt gab mir sehr direkt zu verstehen, dass es für ihr Aufwachen keine Hoffnung mehr gäbe. Dass sie nur noch körperlich existiere, sonst nichts. Die Krankenschwester wechselte teilnahmslos Mamas Bettpfanne. Von Zeit zu Zeit half ich ihr dabei, Mamas Körper zu wenden, damit keine wunden Stellen entstanden. Es war, als würde man ein unhandliches Gepäckstück umdrehen.
Der Arzt bat mich darum, ihn zu informieren, sobald ich wüsste, was ich tun wollte. Ich fragte ihn, was er damit meine. Er sagte, ich müsste entscheiden, ob ich Mama hier im Krankenhaus weiter behandeln lassen und die Krankenhausrechnungen bezahlen oder sie in ein günstigeres Pflegeheim am Stadtrand verlegen lassen wollte.
Da ich von Omas Lebensversicherung leben konnte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine finanziellen Probleme. Erst da wurde mir klar, dass Mama Vorkehrungen getroffen hatte, falls ich irgendwann allein zurückbliebe.
Ich suchte die zuständige Behörde auf, um Omas Tod registrieren zu lassen. Die Beamten dort schnalzten mit der Zunge und wandten ihren Blick ab. Einige Tage später besuchte mich eine Sozialarbeiterin der Behörde. Nachdem sie meine Wohnsituation begutachtet hatte, schlug sie mir vor, in eine Einrichtung für Jugendliche zu ziehen, das sei so etwas wie ein Heim oder eine Wohngemeinschaft. Ich bat sie um etwas Zeit. Was jedoch nicht bedeutete, dass ich in dieser Zeit wirklich darüber nachdachte. Ich brauchte einfach Zeit.
20.
In der Wohnung war es still. Alles, was ich hörte, war mein eigener Atem. Die Papierbögen mit den von Mama und Oma aufgeklebten Wörtern waren sinnlose Dekoration, jetzt, da mir niemand mehr ihre Bedeutung erklären konnte. Ich konnte mir mein Leben in einem Jugendheim leicht vorstellen. Wo ich lebte, war mir eigentlich gleichgültig. Aber was ich mir nicht vorstellen konnte, war, dass Mama dann alleine wäre.
Ich versuchte mir auszumalen, was sie dazu sagen würde. Aber sie konnte mir keine Antwort geben. In den Worten, die Mama mir hinterlassen hatte, suchte ich nach Hinweisen. Ich erinnerte mich daran, welches Wort sie am häufigsten gebraucht hatte. Es war »normal«, »normal zu leben«.
Geistesabwesend klickte ich mich durch die Apps auf meinem Handy. Eine App namens »Chatte mit deinem Handy« fiel mir ins Auge. Als ich darauf tippte, öffnete sich ein kleines Chat-Fenster, in dem ein Emoji zu sehen war.
Hallo.
Sofort, nachdem ich auf Senden getippt hatte, kam eine Antwort.
Hallo.
Ich tippte:
Wie geht’s dir?
Gut. Und dir?
Mir auch.
Gut.
Was bedeutet es, »normal« zu sein?
So, wie die anderen zu sein.
Kurze Pause. Diesmal schrieb ich etwas länger.
Was bedeutet es, wie andere zu sein? Wenn jeder Mensch anders ist, wer soll dann die Norm sein? Was würde Mama dazu sagen?
Das Essen ist fertig, komm aus deinem Zimmer.
Die Antwort überraschte mich, weil mir gar nicht bewusst war, auf Senden getippt zu haben. Ich versuchte, noch mehr zu fragen, aber es kamen nur sinnlose Sätze. Dieses Ding brachte mich nicht weiter. Ohne mich zu verabschieden, beendete ich die App.
Bis zum Beginn der Schule nach den Ferien blieb noch etwas Zeit. Bis dahin würde ich mich an das Leben allein gewöhnen müssen.
Zwei Wochen später eröffnete ich das Antiquariat wieder. Staub wirbelte auf, als ich zwischen den Bücherregalen hindurchging. Ab und an hatte ich Kundschaft. Manchmal bestellten Kunden auch etwas online. Ich konnte zu einem günstigen Preis eine Kinderbuchsammlung einkaufen, die Mama vor dem Unfall aufgestöbert hatte. Ich positionierte die Sammlung im Laden so, dass sie jedem Kunden ins Auge fiel.
Es fiel mir wirklich leicht, jeden Tag nur wenig zu sprechen. Ich musste nicht nachdenken oder mein Gehirn überanstrengen, um die richtigen Worte für eine Situation zu finden. Alles, was ich sagen musste, war »Ja«, »Nein« oder »Einen Augenblick bitte«. Die übrigen Aufgaben beschränkten sich auf das Einlesen von Kreditkarten, das Ausgeben von Wechselgeld oder das mechanische »Guten Tag« oder »Auf Wiedersehen«.
Eines Tages betrat eine Frau, die einen Kinderbuchclub in der Nachbarschaft leitete, den Laden. Sie hatte manchmal mit Oma geplaudert.
»Oh, du hilfst also in den Ferien aus. Wo ist denn deine Großmutter?«
»Sie ist tot.«
Die Frau starrte mich mit offenem Mund an und runzelte dann die Stirn. »Ich weiß, dass Teenager in deinem Alter oft Witze machen, aber das geht zu weit. Deine Großmutter wäre so verletzt, wenn sie das hören könnte.«
»Sie ist wirklich tot.«
»Ach ja? Dann sag mir, wann und wie sie gestorben ist«, forderte sie mit erhobener Stimme, die Arme verschränkt.
»Sie wurde erstochen. An Heiligabend.«
»O mein Gott …«
Sie schlug beide Hände vor den Mund.
»Das Massaker aus den Nachrichten. Wie schrecklich …«
Sie bekreuzigte sich und wollte eilig den Laden verlassen. Als wollte sie vermeiden, sich mit etwas zu infizieren.
»Entschuldigung«, warf ich ein. »Sie haben noch nicht bezahlt.«
Sie errötete.
Nachdem die Frau aus dem Laden war, dachte ich darüber nach, was Mama mich in dieser Situation gerne hätte sagen lassen. Die Reaktion der Frau war eindeutig: Ich hatte etwas Falsches gesagt. Aber ich wusste nicht, worin mein Fehler bestand, und wie ich ihn hätte wiedergutmachen können. Vielleicht hätte ich sagen sollen, Oma sei auf Reisen. Obwohl … nein. Die Frau mischte sich gern in die Angelegenheiten anderer ein, sie hätte bestimmt nachgehakt und mich weiter ausgefragt. Oder vielleicht hätte ich ihr Geld nicht annehmen sollen. Aber das hätte keinen Sinn ergeben. Der Spruch »Schweigen ist Gold« kam mir in den Sinn. Daran wollte ich mich halten. Auf die meisten Fragen einfach nicht antworten. Aber was fällt unter die Kategorie »die meisten«? Ich war verwirrt.
Ein Buch kam mir plötzlich in den Sinn. Ein Buch, das Oma, die außer Schildern auf Häusern kaum etwas las, zufällig in die Hände gefallen war und das sie sehr mochte. Kurzgeschichten von Hyun Jingeon. Es gelang mir, die Geschichtensammlung in der Ausgabe von 1986 für 2500 Won zu ergattern. Omas Lieblingsgeschichte trug den Titel »Internatsleiterin B und die Liebesbriefe«.
In dieser Geschichte liest die Internatsleiterin B nachts heimlich die Liebesbriefe ihrer Schüler, indem sie sich jeweils abwechselnd den Part der Jungen und den der Mädchen laut vorliest, als wäre es ein Einpersonenstück. Drei ihrer Schülerinnen beobachten sie dabei, ihre Reaktionen sind unterschiedlich. Eine von ihnen lacht abfällig über ihren Monolog, die zweite zittert wegen ihrer verrückten Aufführung vor Angst, die dritte weint aus Mitleid mit der einsamen Internatsleiterin.
Damals sagte ich Mama, diese Geschichte widerspreche ihrer Leitlinie, nach der es für jede Situation nur eine richtige Reaktion gäbe. Trotzdem gefiel mir das Ende der Geschichte ganz gut. Es schien zu bedeuten, dass es mehr als nur eine Antwort auf alles geben kann. Vielleicht brauchte ich ja gar nicht mit festgelegten Regeln oder Dialogen auf bestimmte Situationen zu reagieren. Da alle Menschen schließlich unterschiedlich sind, könnten meine »seltsamen Reaktionen« für einige durchaus ganz normal wirken.
Mama war...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Übersetzer | Sebastian Bring |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 아몬드 (ALMOND) |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ablehnung • Alexithymie • Angst • Aufwachsen • Außenseiter • Behinderung • Bestseller in Korea • Beziehung • BTS • Coming of Age • Die Ladenhüterin • Einsamkeit • Emotionen • Freundschaft • Furcht • Gefühlsblindheit • Gesellschaft • Gewalt • Inklusion • Korea • K-Pop • Kultroman • Lächeln • Liebe • Mandel • Mandelkern • Mark Haddon • Südkorea • Tod • Trauer • Verlust • Wut • Zugehörigkeit |
ISBN-10 | 3-8412-3639-1 / 3841236391 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3639-5 / 9783841236395 |
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